Abendruh / Jane Rizzoli Bd.10
Ein neuer Fall für Jane Rizzoli und Maura Isles. Thriller
"Abendruh" ist ein Internat der besonderen Art.
Idyllisch gelegen inmitten der Einsamkeit Maines sollen hier schwer traumatisierte Kinder ins Leben zurückfinden. Ihre Eltern und ihre Pflegeeltern wurden brutal ermordet. Deswegen ist die Schule...
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Produktinformationen zu „Abendruh / Jane Rizzoli Bd.10 “
"Abendruh" ist ein Internat der besonderen Art.
Idyllisch gelegen inmitten der Einsamkeit Maines sollen hier schwer traumatisierte Kinder ins Leben zurückfinden. Ihre Eltern und ihre Pflegeeltern wurden brutal ermordet. Deswegen ist die Schule wie ein Hochsicherheitsgefängnis gesichert. Und dennoch kommt es zu äußerst beunruhigenden Vorfällen - drei Jugendliche fürchten um ihr Leben. Maura Isles, die eine persönliche Verbindung zu "Abendruh" hat, ist gerade vor Ort, als die Bedrohung eskaliert.
"Tess Gerritsen gehört zur ersten Liga der Crime Ladys"
Süddeutsche Zeitung
Klappentext zu „Abendruh / Jane Rizzoli Bd.10 “
Vor diesem Killer ist man nirgends sicher ...Sie sind die einzigen Überlebenden schrecklicher Familientragödien. Erst wurden ihre Eltern und dann obendrein die Pflegefamilien brutal ermordet. In Abendruh, einem Internat in der Abgeschiedenheit Maines, sollen sie ihre Sicherheit wiedergewinnen und in ein normales Leben zurückfinden. Doch obwohl die Schule hermetisch gesichert ist, kommt es zu höchst beunruhigenden Vorfällen, und drei Jugendliche bangen um ihr Leben. Maura Isles, die eine persönliche Verbindung zu Abenruh hat, ist vor Ort, als die Bedrohung eskaliert ...
Der bedrohlichste Fall für Jane Rizzoli und Maura Isles!
Lese-Probe zu „Abendruh / Jane Rizzoli Bd.10 “
Abendruh von Tess GerritsenWir nannten ihn Ikarus.
Das war natürlich nicht sein richtiger Name. Meine Kindheit auf dem Bauernhof hat mich gelehrt, dass man einem Tier, das für die Schlachtbank bestimmt ist, nie einen Namen geben darf. Stattdessen sprach man von Schwein Nummer eins oder Schwein Nummer zwei, und man sah ihm niemals in die Augen, um nur ja nicht so etwas wie ein Bewusstsein, eine Persönlichkeit oder gar Zuneigung darin erkennen zu müssen. Wenn ein Tier einem vertraut, braucht es wesentlich mehr Entschlossenheit, ihm die Kehle durchzuschneiden.
Mit Ikarus hatten wir solche Probleme nicht. Weder vertraute er uns, noch hatte er die geringste Ahnung, wer wir waren. Aber wir wussten eine Menge über ihn. Wir wussten, dass er hinter hohen Mauern in einer Villa auf einem Hügel am Stadtrand von Rom lebte. Dass er und seine Frau Lucia zwei Söhne im Alter von acht und zehn Jahren hatten. Dass er, seinem enormen Reichtum zum Trotz, beim Essen einen eher einfachen Geschmack hatte und dass er fast jeden Donnerstag in seinem Stammlokal La Nonna aß.
Und dass er ein Monster war. Das war es auch, was uns in diesem Sommer nach Italien führte.
Die Jagd auf Monster ist nichts für zimperliche Gemüter. Und sie ist auch nichts für Leute, die sich an solche Banalitäten wie Gesetze oder Landesgrenzen gebunden fühlen. Monster halten sich schließlich nicht an Regeln, also können wir uns auch nicht daran halten, wenn wir eine Chance haben wollen, sie zu besiegen.
Doch wer die Regeln und Normen des zivilisierten Umgangs über Bord wirft, läuft Gefahr, selbst zum Monster zu werden. Genau das ist in jenem Sommer in Rom passiert. Damals habe ich das nicht erkannt; niemand von uns hat es erkannt.
Bis es zu spät war.
... mehr
An dem Abend, als die dreizehnjährige Claire Ward hätte sterben sollen, stand sie in Ithaca auf dem Fensterbrett ihres Zimmers im zweiten Stock und überlegte hin und her, ob sie springen sollte oder nicht. Sechs Meter unter dem Fenster waren wild wuchernde Forsythiensträucher, die ihre Frühlingsblüte längst hinter sich hatten. Sie würden ihren Sturz abfedern, aber ohne Knochenbrüche würde es wahrscheinlich nicht abgehen. Sie sah zu dem Ahorn hinüber, beäugte den starken Ast, der sich so nahe zum Fenster hin reckte, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm fast berühren konnte. Bis zu diesem Abend hatte sie den Sprung noch nie gewagt, denn sie war nie dazu gezwungen gewesen. Bis zu diesem Abend war es ihr immer gelungen, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Aber diese Abende der mühelos gewonnenen Freiheit gehörten der Vergangenheit an, denn Bob die Spaßbremse war ihr auf die Schliche gekommen. In Zukunft bleibst du schön zu Hause, wenn es draußen dunkel wird, junge Dame! Jetzt ist Schluss mit dem Herumstreunen!
Wenn ich mir bei diesem Sprung den Hals breche, dachte sie, dann ist es allein Bobs Schuld.
Ja, doch, diesen Ast konnte sie mit Sicherheit erreichen. Sie hatte an diesem Abend noch etwas vor, sie wollte Leute treffen, und sie konnte nicht ewig hier herumsitzen und ihre Chancen abwägen.
Sie ging in die Hocke, spannte die Muskeln zum Sprung an - und erstarrte plötzlich, als die Scheinwerfer eines Autos um die Ecke kamen. Der Geländewagen glitt wie ein schwarzer Hai unter ihrem Fenster vorüber und fuhr weiter die ruhige Straße entlang, als ob der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchte. Sicher nicht nach unserem, dachte sie; nie tauchte irgendjemand Interessantes bei ihren Pflegeeltern auf, bei Bob »Spaßbremse« Buckley und seiner noch langweiligeren Gattin Barbara. Sogar ihre Namen waren langweilig, ganz zu schweigen von ihren Tischgesprächen. Wie war dein Tag, Schatz? Und deiner? Das Wetter hat sich gebessert, nicht wahr? Reichst du mir bitte die Kartoffeln?
In ihrer verstaubten Akademikerwelt war Claire die Fremde, das wilde Mädchen, das sie niemals verstehen würden, sosehr sie sich auch mühten. Und sie gaben sich wirklich Mühe. Wäre sie doch nur bei einer Familie von Künstlern oder Schauspielern oder Musikern untergekommen, bei Leuten, die die ganze Nacht aufblieben und wussten, wie man sich amüsiert. Bei ihrer Art von Leuten.
Der schwarze Wagen war verschwunden. Jetzt oder nie, dachte sie.
Sie holte tief Luft und sprang. Spürte das Rauschen der Nachtluft in ihren langen Haaren, als sie durch die Dunkelheit flog. Dann landete sie, geschmeidig wie eine Katze, und der Ast erzitterte unter ihrem Gewicht. Ein Kinderspiel. Sie kletterte auf einen tieferen Ast und wollte gerade springen, als der schwarze Geländewagen zurückkam. Wieder glitt er mit leise schnurrendem Motor vorbei. Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwand, dann ließ sie sich auf das nasse Gras fallen.
Ihr Blick ging zurück zum Haus, und sie rechnete schon damit, dass Bob zur Haustür hinausstürmen und sie anschreien würde: Rein mit dir, junge Dame, aber auf der Stelle! Doch die Außenbeleuchtung ging nicht an.
Jetzt konnte der Abend beginnen.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch und machte sich auf den Weg zum Stadtpark, wo die ganze Action war - wenn man es so nennen konnte. Zu dieser späten Stunde war die Straße ruhig, die meisten Fenster dunkel. Es war ein Viertel mit Lebkuchenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, bevölkert von Professoren und Dozenten und glutenfreien, veganen Ehefrauen und Müttern, die alle in Lesegruppen waren. Zehn Quadratmeilen, umgeben von der wirklichen Welt, so lautete Bobs augenzwinkernde Definition der Stadt, doch er und Barbara gehörten tatsächlich hierher.
Claire wusste nicht, wo sie hingehörte.
Sie überquerte die Straße mit großen Schritten und kickte mit ihren ausgetretenen Stiefeln das tote Laub vor sich her. Einen Block weiter stand ein Trio von Teenagern, zwei Jungen und ein Mädchen, im Lichtkegel einer Straßenlaterne und rauchte Zigaretten.
»Hey«, rief sie ihnen zu.
Der größere Junge winkte. »Hey, Claire-Bear. Ich hab gehört, du hättest wieder Einzelhaft.«
»Für dreißig Sekunden vielleicht.«
Sie nahm die brennende Zigarette, die er ihr anbot, machte einen Lungenzug und atmete mit einem zufriedenen Seufzer aus. »Also, was geht ab heute Abend? Was wollen wir machen?«
»Hab gehört, drüben bei den Wasserfällen steigt 'ne Party. Aber wir brauchen ein Auto.«
»Was ist mit deiner Schwester? Sie könnte uns doch hinfahren. «
»Nee, Dad hat ihr die Autoschlüssel weggenommen. Lass uns noch 'ne Weile hier rumhängen und schauen, wer sonst noch aufkreuzt.« Der Junge hielt inne, runzelte die Stirn und spähte über Claires Schulter. »O Scheiße, sieh mal, wer da kommt.«
Sie drehte sich um und stöhnte, als ein dunkelblauer Saab neben ihr am Bordstein hielt. Das Beifahrerfenster wurde heruntergedreht, und Barbara Buckley sagte: »Steig ein, Claire!«
»Ich treffe mich bloß mit meinen Freunden.«
»Es ist fast Mitternacht, und morgen ist Schule.«
»Ist ja nicht so, als ob ich was Verbotenes mache.«
Vom Fahrersitz kommandierte Bob Buckley: »Steig sofort ein, junge Dame!«
»Ihr seid nicht meine Eltern!«
»Aber wir sind verantwortlich für dich. Es ist unser Job, dich zu einem anständigen Menschen zu erziehen, und genau das versuchen wir zu tun. Wenn du nicht sofort mit uns nach Hause kommst, dann ... also, dann wirst du die Konsequenzen zu spüren bekommen.«
Ja, ja, ich mach mir vor Angst gleich in die Hose. Sie wollte schon loslachen, doch da fiel ihr plötzlich auf, dass Barbara einen Morgenmantel trug und dass Bobs Haare seitlich vom Kopf abstanden. Sie hatten sich so überhastet auf die Suche nach ihr gemacht, dass sie sich nicht einmal angezogen hatten. Sie sahen beide älter und müder aus, ein zerknittertes Ehepaar mittleren Alters, das aus dem Schlaf gerissen worden war und ihretwegen am nächsten Morgen völlig erschöpft aufwachen würde.
Barbara seufzte resigniert. »Ich weiß, dass wir nicht deine Eltern sind, Claire. Ich weiß, dass es dir nicht passt, bei uns zu wohnen, aber wir tun doch nur unser Bestes. Also steig jetzt bitte ein. Hier draußen bist du nicht sicher.«
Claire warf ihren Freunden einen genervten Blick zu, kletterte auf den Rücksitz des Saab und knallte die Tür zu. »Okay?«, sagte sie. »Jetzt zufrieden?«
Bob drehte sich zu ihr um. »Es geht hier nicht um uns. Es geht um dich. Wir haben deinen Eltern geschworen, dass wir uns immer um dich kümmern würden. Wenn Isabel noch am Leben wäre und dich jetzt sehen könnte, würde es ihr das Herz brechen. Außer Rand und Band, immer voller Zorn. Claire, du hast eine zweite Chance bekommen, und das ist ein Geschenk. Ich bitte dich, wirf es nicht weg.« Er seufzte. »Und jetzt schnall dich an, ja?«
Wäre er wütend gewesen, hätte er sie angebrüllt, dann hätte sie damit umgehen können. Aber der Blick, mit dem er sie ansah, war so kummervoll, dass sie ein ganz schlechtes Gewissen bekam. Weil sie sich so unmöglich benahm, weil sie ihre Güte mit Rebellion erwiderte. Es war nicht die Schuld der Buckleys, dass ihre Eltern tot waren. Dass ihr Leben so verkorkst war.
Während sie davonfuhren, saß sie zusammengekauert auf dem Rücksitz, reumütig, aber zu stolz, um sich zu entschuldigen. Morgen werde ich netter zu ihnen sein, dachte sie. Ich werde Barbara helfen, den Tisch zu decken, und vielleicht sogar Bobs Wagen waschen. Denn diese Kiste hat es wirklich verdammt nötig.
»Bob«, sagte Barbara, »was macht denn das Auto da vorn?«
Ein Motor heulte auf. Scheinwerfer kamen auf sie zu.
Barbara schrie: »Bob!«
Durch den Aufprall wurde Claire in ihren Gurt geschleudert, und ein entsetzliches Getöse zerriss die Nacht. Splitterndes Glas. Knirschendes Metall.
Und irgendjemand weinte, wimmerte leise. Sie schlug die Augen auf, sah, dass die Welt auf dem Kopf stand, und merkte, dass das Wimmern von ihr selbst kam. »Barbara?«, fl üsterte sie.
Sie hörte einen gedämpften Knall, dann noch einen. Benzingeruch stieg ihr in die Nase. Sie hing in ihrem Gurt, und er schnitt ihr so tief in die Rippen, dass sie kaum atmen konnte. Blind tastete sie nach der Schnalle. Sie löste sich mit einem Klick, Claires Kopf schlug unten auf, und ein jäher Schmerz schoss ihr in den Nacken. Irgendwie gelang es ihr, sich umzudrehen, sodass sie flach dalag, vor sich das zerschmetterte Fenster. Der Benzingeruch war jetzt stärker. Sie wälzte sich zum Fenster hin, dachte an Flammen, an sengende Hitze, die das Fleisch auf ihren Knochen zum Kochen brachte. Raus hier, raus. Solange noch Zeit bleibt, Bob und Barbara zu retten! Sie schlug die letzten Glassplitter aus dem Rahmen, und sie fielen klirrend auf den Asphalt.
Zwei Füße tauchten in ihrem Blickfeld auf und blieben vor ihr stehen. Sie starrte zu dem Mann auf, der ihr den Fluchtweg versperrte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur seine Silhouette. Und die Waffe, die er in der Hand hielt.
Reifen kreischten, als ein weiterer Wagen mit röhrendem Motor auf sie zuschoss.
Claire wich erschrocken in den Saab zurück, wie eine Schildkröte, die sich in den Schutz ihres Panzers verkriecht. Sie zog sich vom Fenster zurück, hielt sich die Arme über den Kopf und fragte sich nur, ob die Kugel diesmal wehtun würde. Ob sie spüren würde, wie sie in ihren Schädel eindrang. Sie rollte sich so fest zusammen, dass sie nur noch das Geräusch ihres eigenen Atems hörte, das Rauschen des Bluts in ihren Adern.
Fast hätte sie die Stimme überhört, die ihren Namen rief.
»Claire Ward?« Es war eine Frau.
Ich muss wohl tot sein. Und das da ist ein Engel, der mit mir redet.
»Er ist weg. Du kannst jetzt rauskommen, die Gefahr ist vorbei«, sagte der Engel. »Aber du musst dich beeilen.«
Claire schlug die Augen auf und spähte durch ihre Finger auf das Gesicht, das sie seitwärts durch das kaputte Fenster anstarrte. Ein schlanker Arm streckte sich nach ihr aus, und Claire duckte sich ängstlich weg.
»Er wird wiederkommen«, sagte die Frau. »Also beeil dich.«
Claire ergriff die dargebotene Hand, und die Frau zog sie heraus. Glassplitter regneten klirrend herab, als Claire auf den Asphalt rollte. Allzu schnell setzte sie sich auf, und die nächtliche Szenerie drehte sich um sie. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf das Wrack des Saab, der sich überschlagen hatte, dann musste sie den Kopf schon wieder senken.
»Kannst du aufstehen?«
Langsam hob Claire den Kopf.
Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und die blonden Strähnen schimmerten hell im Schein der Straßenlaterne. »Wer sind Sie?«, fl üsterte Claire.
»Mein Name ist nicht wichtig.«
»Bob ... Barbara ...« Claire sah zu dem auf dem Dach liegenden Wagen. »Wir müssen sie da rausholen! Helfen Sie mir.« Claire kroch zur Fahrerseite und riss die Tür auf.
Bob Buckley fiel heraus auf die Straße, die blicklosen Augen weit aufgerissen. Claire starrte auf das Einschussloch in seiner Schläfe. »Bob«, stöhnte sie. »Bob!«
»Du kannst ihm nicht mehr helfen.«
»Barbara ... Was ist mit Barbara?«
»Es ist zu spät.« Die Frau packte sie an den Schultern und schüttelte sie kräftig. »Sie sind tot, verstehst du? Sie sind beide tot.«
Claire schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf Bob geheftet. Auf die Blutlache, die sich jetzt um seinen Kopf herum ausbreitete wie ein dunkler Heiligenschein. »Das kann doch nicht wirklich passieren«, wisperte sie. »Nicht schon wieder.«
»Komm, Claire.« Die Frau ergriff ihre Hand und zog sie hoch. »Komm mit mir. Wenn dir dein Leben lieb ist.«
An dem Abend, als der vierzehnjährige Will Yablonski hätte sterben sollen, stand er im Dunkeln auf einer Wiese in New Hampshire und hielt Ausschau nach Aliens.
Er hatte die komplette Ausrüstung beisammen, die er für seine Suche brauchte. Da war sein 10-Zoll-Dobson-Spiegel , den er drei Jahre zuvor von Hand geschliffen hatte, als er erst elf Jahre alt gewesen war. Er hatte zwei Monate daran gearbeitet, zuerst mit grobem 80-körnigen Sandpapier, dann nach und nach mit immer feinerer Körnung, um das Glas zu formen, zu glätten und zu polieren. Mithilfe seines Vaters hatte er seine eigene Altazimut-Montierung gebaut. Das 25-mm-Plöss-Okular war ein Geschenk seines Onkels Brian, der Will half, die ganzen Geräte nach dem Abendessen hinaus aufs Feld zu schleppen, wann immer der Himmel klar war. Aber Onkel Brian war eine Lerche, keine Eule, und um zehn Uhr abends war er immer schon reif fürs Bett.
Und so stand Will allein auf dem Feld hinter dem Bauernhaus seiner Tante und seines Onkels, wie an den meisten Abenden, wenn es keine Wolken gab und der Mond nicht schien, und suchte den Himmel nach kosmischen Staubhaufen ab, besser bekannt als Kometen. Sollte er je einen neuen Kometen entdecken, dann wusste er schon genau, wie er ihn nennen würde: Komet Neil Yablonksi, zu Ehren seines verstorbenen Vaters. Ständig wurden neue Kometen von Amateur-Astronomen entdeckt - warum sollte es das nächste Mal nicht ein vierzehnjähriger Junge sein? Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, es brauche dafür nur Hingabe, ein geübtes Auge und eine Menge Glück. Es ist eine Schatzsuche, Will. Das Universum ist wie ein Strand, und die Sterne sind Sandkörner, die das, was du suchst, verdecken.
Für Will war die Schatzsuche immer noch so spannend wie am ersten Tag. Immer noch verspürte er dieses Kribbeln, jedes Mal, wenn er und Onkel Brian die Ausrüstung aus dem Haus trugen und sie in der Abenddämmerung aufbauten, die gleiche gespannte Erwartung, weil dies die Nacht sein könnte, in der er den Kometen Neil Yablonski entdeckte. Und dann hätte sich die ganze Mühe endlich gelohnt, die zahllosen Nachtwachen, bei denen er sich mit heißer Schokolade und Schokoriegeln auf den Beinen gehalten hatte. Und es würde sogar die Beleidigungen aufwiegen, die seine ehemaligen Klassenkameraden in Maryland ihm ins Gesicht geschleudert hatten. Fettsack. Michelin-Männchen.
Die Kometenjagd war kein Hobby, bei dem man einen braun gebrannten Athletenkörper bekam.
Heute hatte er seine Suche wie üblich bald nach der Abenddämmerung begonnen, denn Kometen waren am besten kurz nach Sonnenuntergang oder kurz vor Sonnenaufgang zu sehen. Aber die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, und immer noch hatte er keine Schweifsterne erspäht. Er hatte ein paar vorbeiziehende Satelliten beobachtet und einmal das kurze Aufflackern eines Meteors, aber nichts, was er in diesem Himmelssektor nicht schon einmal gesehen hätte. Er richtete das Teleskop auf einen anderen Sektor, und der unterste Stern der Canes Venatici kam in sein Blickfeld. Die Jagdhunde. Er erinnerte sich an die Nacht, in der sein Vater ihm den Namen dieses Sternbilds beigebracht hatte. Eine kalte Nacht, in der sie beide bis zur Morgendämmerung aufgeblieben waren. Sie hatten sich mit Schlucken aus der Thermoskanne gewärmt und sich ab und zu einen Snack ...
Plötzlich schnellte er hoch und drehte sich um. Was war das für ein Geräusch? Ein Tier? Oder bloß der Wind in den Bäumen? Er stand mucksmäuschenstill da und lauschte angestrengt, doch die Nacht war mit einem Mal unnatürlich still, so still, dass er seinen eigenen Atem extrem laut hörte. Onkel Brian hatte ihm versichert, dass in diesen Wäldern keine gefährlichen Tiere hausten, aber wie er so allein in der Dunkelheit stand, konnte Will sich alle möglichen Kreaturen mit scharfen Zähnen vorstellen. Schwarzbären. Wölfe. Pumas.
Mit flatternden Nerven wandte er sich wieder seinem Teleskop zu und verschob den Ausschnitt. Und da war plötzlich dieser Staubhaufen, genau in der Mitte des Okulars. Ich hab ihn gefunden! Komet Neil Yablonski!
Nein. Nein, du Idiot, das war kein Komet. Er seufzte enttäuscht auf, als ihm klar wurde, dass das Ding in seinem Okular der M3 war, ein Kugelsternhaufen. Etwas, das jeder halbwegs brauchbare Astronom erkennen würde. Ein Glück, dass er nicht Onkel Brian geweckt hatte, um es ihm zu zeigen - das wäre todpeinlich gewesen.
Ein knackender Zweig ließ ihn erneut herumfahren. Da bewegte sich etwas im Wald. Ganz eindeutig - da war irgendetwas.
Die Explosion schleuderte ihn nach vorn. Er fiel hart mit dem Gesicht voran ins Gras und blieb benommen liegen. Irgendwo flackerte ein Licht, wurde immer heller, und als er den Kopf hob, sah er, dass die Bäume orangefarben schimmerten. Im Nacken spürte er einen heißen Luftzug, wie den Atem eines Ungeheuers. Er drehte sich um.
Das Haus brannte lichterloh. Die Flammen loderten auf wie Finger, die nach dem Himmel krallten.
»Onkel Brian!«, schrie Will. »Tante Lynn!«
Er rannte auf das Haus zu, doch eine Feuerwand versperrte ihm den Weg und ließ ihn zurückprallen, so höllisch heiß, dass jeder Atemzug in seiner Kehle brannte. Würgend und hustend taumelte er rückwärts und roch den Gestank seiner eigenen angesengten Haare.
Hol Hilfe! Die Nachbarn! Er drehte sich zur Straße um, lief ein paar Schritte und hielt gleich wieder inne.
Eine Frau kam auf ihn zu. Ganz in Schwarz gekleidet, schlank und geschmeidig wie ein Panther. Ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, und im flackernden Schein des Feuers traten ihre Gesichtszüge scharf hervor.
»Helfen Sie mir!«, schrie er. »Meine Tante und mein Onkel ... Sie sind im Haus!«
Sie sah zum Bauernhaus hinüber, das jetzt vollends von Flammen eingehüllt war. »Es tut mir leid. Aber für die beiden ist es zu spät.«
»Es ist nicht zu spät! Wir müssen sie retten!«
Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Ich kann ihnen nicht helfen, Will. Aber dich - dich kann ich retten.« Sie streckte die Hand aus. »Komm mit mir. Wenn dir dein Leben lieb ist.«
Es gab Frauen, denen stand Rosa gut. Es gab Frauen, die konnten Schleifchen und Spitzen tragen, konnten in seidenglänzendem Taft herumstöckeln und dabei bezaubernd feminin aussehen.
Jane Rizzoli gehörte nicht zu diesen Frauen.
Sie stand im Schlafzimmer ihrer Mutter, starrte die Gestalt in dem hohen Spiegel an und dachte nur: Erschießt mich. Erschießt mich auf der Stelle.
Das glockenförmige Kleid war bonbonrosa, mit einem Rüschendekolleté von den Dimensionen eines Clownskragens. Der Rock war bauschig mit Reihen über Reihen von noch mehr abartigen Rüschen. Um die Taille war eine Schärpe mit einer riesigen rosa Schleife geschlungen. Selbst Scarlett O'Hara wäre entsetzt gewesen.
»Oh, Janie, schau dich nur an«, rief Angela Rizzoli und klatschte entzückt in die Hände. »Du bist so wunderschön, du wirst mir noch die Schau stehlen. Bist du nicht auch begeistert? «
Jane blinzelte nur, zu perplex, um auch nur ein Wort herauszubringen.
»Natürlich musst du dazu High Heels tragen, um das Ganze abzurunden. Stilettos aus Satin, würde ich sagen. Und ein Strauß mit rosa Rosen und Schleierkraut. Oder ist das altmodisch? Findest du, dass ich lieber auf modern machen sollte, mit Callas oder so was in der Art?«
»Mom ...«
»Das Kleid muss ich dir in der Taille noch enger nähen.
Wie kommt es eigentlich, dass du so abgenommen hast?
Isst du nicht genug?«
»Ist das dein Ernst? Das soll ich tragen?«
»Was stört dich denn daran?«
»Es ist ... rosa.«
»Und du siehst wunderbar darin aus.«
»Hast du mich jemals in Rosa gesehen?«
»Ich nähe ein Kleidchen genau wie das da für Regina. Ihr werdet so süß nebeneinander aussehen! Mutter und Tochter im Partnerlook!«
»Regina ist süß. Ich bin es definitiv nicht.«
Angelas Unterlippe begann zu zittern. Ein Warnsignal, so subtil wie das erste Zittern der Kontrollanzeige eines Kernkraftwerks. »Ich habe das ganze Wochenende an diesem Kleid gearbeitet. Jeden Stich, jede Rüsche habe ich eigenhändig genäht. Und jetzt willst du es gar nicht anziehen, nicht mal zu meiner Hochzeit?«
Jane schluckte. »Das habe ich nicht gesagt. Nicht direkt jedenfalls.«
»Ich sehe es dir am Gesicht an. Du hasst es.«
»Nein, Mom, es ist ein tolles Kleid.« Für ein Barbiepüppchen vielleicht.
Angela sank aufs Bett nieder, und ihr Seufzer hätte einer sterbenden Opernheldin gut angestanden. »Weißt du, vielleicht sollten Vince und ich einfach heimlich heiraten. Dann wären alle glücklich, oder? Dann müsste ich nicht mit Frankie herumstreiten. Und ich müsste mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, wer auf die Gästeliste kommt und wer nicht. Und du müsstest nicht ein Kleid tragen, das du hasst.«
Jane setzte sich zu ihr aufs Bett, wobei der Taftstoff sich über ihrem Schoß aufblähte wie eine Riesenportion Zuckerwatte. Sie drückte ihn glatt. »Mom, deine Scheidung ist ja noch nicht mal durch. Du kannst dir für die Planung alle Zeit der Welt nehmen. Das ist doch das Schöne an einer Hochzeit, meinst du nicht? Du musst nichts überstürzen.« Sie blickte auf, als die Türklingel ertönte.
»Vince wird allmählich ungeduldig. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Er sagt, er will endlich seine Braut zum Altar führen. Ist das nicht süß? Ich komme mir vor wie in dem Madonna-Song Like a virgin ...«
Jane sprang auf. »Ich geh schon hin.«
»Wir sollten einfach in Miami heiraten«, rief Angela, als Jane hinausging. »Das würde alles wesentlich vereinfachen. Und billiger wäre es auch, weil ich nicht die ganze Verwandtschaft zum Essen einladen müsste!«
Jane öffnete die Haustür. Auf der Schwelle standen die zwei Männer, die sie an diesem Sonntagmorgen am allerwenigsten sehen wollte.
Ihr Bruder Frankie lachte, als er das Haus betrat. »Was willst du denn mit dem hässlichen Kleid?«
Ihr Vater, Frank senior, stapfte hinterdrein und verkündete: »Ich bin gekommen, um mit deiner Mutter zu sprechen. «
»Dad, das ist jetzt kein guter Zeitpunkt«, sagte Jane.
»Ich bin hier. Also ist es ein guter Zeitpunkt. Wo ist sie?«, fragte er und sah sich im Wohnzimmer um.
»Ich glaube nicht, dass sie mit dir reden will.«
»Sie muss mit mir reden. Wir müssen diesem Irrsinn ein Ende machen.«
»Irrsinn?«, echote Angela und trat aus dem Schlafzimmer. »Du bist der Richtige, von Irrsinn zu reden.«
»Frankie sagt, du willst das wirklich durchziehen«, sagte Janes Vater. »Du willst diesen Mann tatsächlich heiraten?«
»Vince hat mir einen Antrag gemacht. Ich habe Ja gesagt. «
»Was ist mit der Tatsache, dass wir immer noch verheiratet sind?«
»Das steht bloß noch in den Papieren.«
»Ich werde sie nicht unterschreiben.«
»Was?«
»Ich sagte, ich werde die Papiere nicht unterschreiben. Und du wirst diesen Typen nicht heiraten.«
Angela lachte ungläubig. »Du hast doch mich sitzen lassen! «
»Ich wusste ja nicht, dass du dir gleich den Nächsten angeln würdest.«
»Was hätte ich denn machen sollen - daheim rumsitzen und mich vor Sehnsucht verzehren, nachdem du mich wegen ihr verlassen hattest? Ich bin immer noch eine junge Frau, Frank! Die Männer begehren mich. Sie wollen mit mir schlafen!«
Frankie stöhnte: »Mein Gott, Ma!«
»Und weißt du was?«, setzte Angela noch einen drauf. »Ich hatte noch nie so guten Sex!«
Jane hörte ihr Handy im Schlafzimmer klingeln. Sie ignorierte es und packte ihren Vater am Arm. »Ich glaube, du gehst jetzt besser, Dad. Komm, ich begleite dich zur Tür.«
»Ich bin froh, dass du mich verlassen hast, Frank«, sagte Angela. »Jetzt habe ich mein Leben wieder, und ich weiß, wie es ist, wenn man geschätzt wird.«
»Du bist meine Frau. Du gehörst immer noch zu mir.«
Janes Handy, das vorübergehend verstummt war, läutete erneut, so beharrlich, dass sie es nicht ignorieren konnte. »Frankie«, flehte sie, »nun hilf mir doch, Herrgott noch mal! Wir müssen ihn aus dem Haus schaffen.«
»Komm schon, Dad«, sagte Frankie und klopfte seinem Vater auf den Rücken. »Lass uns ein Bier trinken gehen.«
»Ich bin hier noch nicht fertig.«
»Doch, das bist du«, sagte Angela.
Jane rannte zurück ins Schlafzimmer und kramte das klingelnde Handy aus ihrer Tasche. Sie versuchte, die streitenden Stimmen in der Diele zu ignorieren, als sie sich meldete: »Rizzoli.«
»Wir brauchen dich hier«, sagte Detective Darren Crowe. »Wie schnell kannst du kommen?« Kein höfl iches Vorgeplänkel, kein bitte oder würde es dir etwas ausmachen - einfach nur Crowe mit seiner üblichen charmanten Art.
Sie entgegnete ebenso brüsk: »Ich habe keine Bereitschaft. «
»Marquette setzt drei Teams ein. Ich habe die Leitung bei diesem Fall. Frost ist gerade gekommen, aber wir könnten eine Frau gebrauchen.«
»Habe ich da gerade richtig gehört? Hast du tatsächlich gesagt, dass du die Hilfe einer Frau brauchst?«
»Hör zu, unser Zeuge steht zu sehr unter Schock, um uns irgendetwas Brauchbares erzählen zu können. Moore hat schon versucht, mit dem Jungen zu reden, aber er meint, du hättest vielleicht mehr Glück bei ihm.«
Mit dem Jungen. Bei dem Wort hielt Jane erschrocken inne. »Euer Zeuge ist ein Kind?«
»Dreizehn oder vierzehn, schätze ich. Er ist der einzige Überlebende.«
»Was ist passiert?«
Am anderen Ende der Leitung waren Stimmen zu hören, die knappen Wortwechsel der Spurensicherer, und das Echo vieler Schritte, die in einem Zimmer mit Parkettboden umhergingen. Sie konnte Crowe vor sich sehen, wie er mit seiner Hollywoodfrisur inmitten des Trubels stand, breitschultrig und mit geschwellter Brust. »Es ist ein verdammtes Blutbad hier«, sagte er. »Fünf Opfer, davon drei Kinder. Die Jüngste dürfte kaum älter als acht Jahre sein.«
Ich will das nicht sehen, dachte sie. Nicht heute. Und auch an keinem anderen Tag. Dennoch rang sie sich dazu durch zu fragen: »Wo bist du?«
»Das Haus ist am Louisburg Square. Die gottverdammten Übertragungswagen blockieren hier alles, also musst du wahrscheinlich ein, zwei Straßen weiter parken.«
Sie blinzelte überrascht. »Es ist in Beacon Hill passiert?« »Genau. Auch die Reichen erwischt's hin und wieder.« »Wer sind die Opfer?« »Bernard und Cecilia Ackerman, fünfzig beziehungsweise
achtundvierzig Jahre alt. Und ihre drei Adoptivtöchter.« »Und der Überlebende? Ist er ihr Sohn?« »Nein. Sein Name ist Teddy Clock. Er lebt seit ein paar
Jahren bei den Ackermans.« »Er lebt bei ihnen? Ist er ein Verwandter?« »Nein«, antwortete Crowe. »Er ist ihr Pflegekind.«
Als Jane auf den Louisburg Square trat, entdeckte sie den vertrauten schwarzen Lexus, der zwischen den kreuz und quer parkenden Einsatzfahrzeugen des Boston PD stand, und sie wusste, dass Maura Isles, die Rechtsmedizinerin, bereits am Tatort war. Nach der Anzahl der Übertragungswagen zu schließen, waren auch sämtliche Fernsehsender der Stadt vertreten, und das war nicht weiter verwunderlich: Wenige Wohnlagen in Boston waren so begehrt wie dieser Platz mit seinem schmucken kleinen Park und den vielen Schatten spendenden Bäumen. Die Häuser rings um den Square waren im Stil des Greek Revival erbaut. Hier wohnte sowohl altes als auch neues Geld, von Industriemagnaten über die vornehmen Familien der Bostoner »Brahmanen « bis hin zu einem ehemaligen Senator. Aber nicht einmal ein Viertel wie dieses war immun gegen Gewalt. Auch die Reichen erwischt's hin und wieder, hatte Detective Crowe gesagt, aber wenn es sie erwischte, schaute die ganze Welt hin. Hinter der Polizeiabsperrung rangelten sich Scharen von Schaulustigen um die besten Plätze. Beacon Hill war ein beliebtes Ziel für Reisegruppen, und heute kamen diese Touristen voll auf ihre Kosten.
»He, sieh mal! Da ist Detective Rizzoli.«
Jane entdeckte die Fernsehreporterin, die mit ihrem Kameramann auf sie zusteuerte, und hob die Hand, um ihre Fragen abzuwehren. Selbstverständlich ignorierten sie sie und verfolgten sie quer über den Platz.
»Detective, wir haben gehört, es gäbe einen Zeugen!«
Jane bahnte sich ihren Weg durch die Menge und zischte: »Polizei. Lassen Sie mich durch.«
»Stimmt es, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war? Und dass nichts gestohlen wurde?«
Diese verdammte Reporterin wusste mehr als sie. Jane schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und nannte dem Posten ihren Namen und ihre Dienstnummer. Es war reine Formsache; der Streifenbeamte wusste genau, wer sie war, und hatte ihren Namen bereits auf seinem Klemmbrett abgehakt.
»Sie hätten mal sehen sollen, wie die Tussi Detective Frost gejagt hat«, sagte er und lachte. »Wie ein verschrecktes Kaninchen hat er ausgesehen.«
»Ist Frost im Haus?«
»Ja, und Lieutenant Marquette auch. Der Polizeipräsident ist auf dem Weg hierher, und es würde mich nicht wundern, wenn der Bürgermeister auch noch aufkreuzen würde.«
Sie blickte zu dem beeindruckenden viergeschossigen roten Backsteinbau auf und murmelte: »Wow.«
»Dürfte seine fünfzehn, zwanzig Millionen wert sein.«
Aber das war, bevor es zum Geisterhaus geworden ist, dachte sie, während sie die eleganten Erkerfenster und das kunstvoll verzierte Giebeldreieck über der massiven Haustür bewunderte. Hinter dieser Tür warteten Bilder des Grauens, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. Drei tote Kinder. Das war der Fluch der Elternschaft: Jedes tote Kind trug die Züge des eigenen. Als sie Handschuhe und Überschuhe anzog, legte sie damit zugleich eine Art emotionale Schutzkleidung an. Wie ein Bauarbeiter, der seinen Helm aufsetzt, schlüpfte sie in ihre eigene Rüstung und trat ein.
Sie fand sich in einem offenen Treppenhaus, wo der Blick über vier Etagen bis hinauf zu einem Glaskuppeldach reichte, durch das Sonnenlicht golden hereinströmte. Viele Stimmen, die meisten davon männlich, hallten von den oberen Stockwerken durch das Treppenhaus. Auch wenn sie den Hals reckte, konnte sie von der Eingangshalle aus niemanden sehen, konnte nur diese Stimmen hören, wie das Gemurmel von Geistern in einem Haus, das im Lauf eines ganzen Jahrhunderts sicherlich viele Seelen beherbergt hatte.
»Da kriegt man mal mit, wie die oberen Zehntausend so leben ...«, ertönte eine männliche Stimme.
Sie drehte sich um und sah Detective Crowe in einer Tür stehen. »... und sterben«, ergänzte sie.
»Wir haben den Jungen nebenan geparkt. Die Nachbarin war so nett, ihn in ihrem Haus warten zu lassen. Der Kleine kennt sie, und wir dachten, es wäre ihm sicher angenehmer, wenn wir ihn dort vernehmen.«
»Zuerst muss ich mal wissen, was in diesem Haus passiert ist.«
»Wir sind noch dabei, das herauszufinden.«
»Ich hab gehört, dass die ganzen hohen Tiere hier aufkreuzen wollen; sogar der Polizeipräsident soll schon unterwegs sein. Was hat es denn damit auf sich?«
»Sieh dich doch nur mal um in der Bude. Geld regiert die Welt, auch wenn man tot ist.«
»Wie ist die Familie denn zu ihrem Geld gekommen?«
»Bernard Ackerman war Investmentbanker im Ruhestand. Das Haus ist seit zwei Generationen im Besitz der Familie. Große Philanthropen. Gibt wohl keine Wohltätigkeitsorganisation, die sie nicht unterstützt haben.«
»Wie ist das Ganze abgelaufen?«
»Wie wär's, wenn ich dich einfach mal herumführe?« Er winkte sie in das Zimmer, aus dem er gerade gekommen war. »Dann kannst du mir sagen, was du davon hältst.«
Nicht, dass Darren Crowe viel Wert auf ihre Meinung gelegt hätte. In ihrer ersten Zeit beim Morddezernat waren sie oft heftig aneinandergeraten, und er hatte aus seiner Verachtung keinen Hehl gemacht. Immer noch nahm sie Spuren davon in seinem Lachen, im Ton seiner Stimme wahr. Was immer sie sich in seinen Augen an Respekt erarbeitet hatte, konnte jederzeit wieder infrage gestellt werden, und hier wartete schon die nächste Bewährungsprobe auf sie.
Sie folgte ihm durch einen Salon, dessen sechs Meter hohe Decke kunstvoll mit Putten und Weinranken bemalt und mit Blattgold-Rosetten verziert war. Doch sie hatte kaum Gelegenheit, die Decke oder die Ölgemälde an der Wand zu bewundern, denn Crowe ging gleich weiter in die Bibliothek, wo Jane Lieutenant Marquette und Dr. Maura Isles entdeckte. An diesem warmen Junitag trug Maura eine pfirsichfarbene Bluse, eine ungewöhnlich fröhliche Farbe für eine Frau, die sonst winterliches Schwarz und Grau bevorzugte. Mit ihrem eleganten geometrischen Haarschnitt und ihren feinen Zügen sah Maura aus wie eine Frau, die tatsächlich in einer Stadtvilla wie dieser wohnen könnte, umgeben von Ölgemälden und Perserteppichen.
Rings um sie herum standen Bücher in Mahagoniregalen, die bis zur Decke reichten. Ein paar der Bände waren auf den Boden gefallen, wo ein silberhaariger Mann mit dem Gesicht nach unten lag. Ein Arm lehnte ausgestreckt am Regal, so, als habe das Opfer noch im Sterben nach einem Buch gegriffen. Der Mann war mit einem Pyjama und Hausschuhen bekleidet. Die Kugel hatte seine Hand und seine Stirn durchschlagen, und im Regal über der Leiche waren die Ledereinbände mit einem strahlenförmigen Muster von Blutströpfchen überzogen. Er hat die Hand gehoben, um die Kugel abzuwehren, dachte Jane. Er hat es kommen sehen. Er hat gewusst, dass er sterben würde.
»Meine Schätzung des Todeszeitpunkts stimmt mit dem überein, was der Zeuge Ihnen gesagt hat«, sagte Maura zu Marquette.
»Also in den frühen Morgenstunden. Irgendwann nach Mitternacht.«
»Ja.«
Jane beugte sich über die Leiche und musterte die Eintrittswunde. »Kaliber 0.38?«
»Oder eventuell .357«, sagte Maura.
»Das wisst ihr nicht? Es gibt keine Patronenhülsen?«
»Nicht eine einzige im ganzen Haus.«
Jane sah überrascht auf. »Wow, was für ein ordentlicher Mörder. Nimmt seinen Müll gleich mit.«
»Ordentlich in mehrerlei Hinsicht«, entgegnete Maura, während ihr Blick nachdenklich auf dem toten Bernard Ackerman ruhte. »Der Täter ist schnell und effizient vorgegangen. Mit einem Minimum an Unordnung. Genau wie oben.«
Oben, dachte Jane. Die Kinder. »Die anderen Familienmitglieder «, sagte sie und klang dabei gefasster, als sie sich fühlte, »sind die zur gleichen Zeit gestorben wie Mr. Acker- man? Oder gab es da eine Verzögerung?«
»Meine Schätzung ist nur ein Näherungswert. Um Genaueres sagen zu können, brauchen wir eine bessere Zeugenaussage. «
»Die Detective Rizzoli uns besorgen wird«, sagte Crowe.
»Woher wollt ihr wissen, dass ich mehr aus dem Jungen herausbekomme?«, entgegnete Jane. »Ich kann auch keine Wunder wirken.«
»Wir zählen auf dich, weil wir bis jetzt kaum etwas in der Hand haben. Nur ein paar Fingerabdrücke von der Klinke der Küchentür. Keine Hinweise auf einen Einbruch. Und die Alarmanlage war ausgeschaltet.«
»Ausgeschaltet?« Jane sah auf die Leiche hinunter. »Klingt so, als hätte Mr. Ackerman seinen Mörder selbst ins Haus gelassen.«
»Oder vielleicht hatte er einfach nur vergessen, sie einzuschalten. Dann hat er ein Geräusch gehört und ist nach unten geeilt, um nachzusehen.«
»Vielleicht ein Raubüberfall? Fehlt irgendetwas?«
»Mrs. Ackermans Schmuckschatulle oben im Schlafzimmer hat er offenbar nicht angerührt«, antwortete Crowe. »Seine Geldbörse und ihre Handtasche liegen noch auf der Kommode.«
»Der Mörder war auch in ihrem Schlafzimmer?«
»O ja. Er war in ihrem Schlafzimmer. Er war in allen Schlafzimmern.« Sie hörte den unheilvollen Unterton in Crowes Stimme und wusste, dass das, was sie oben erwartete, weit schlimmer war als diese blutbespritzte Bibliothek.
Maura sagte leise: »Ich kann mit dir nach oben gehen, Jane.«
Jane folgte ihr zurück in die Eingangshalle. Beide sprachen kein Wort, als ob sie diese bedrückende Pflicht am besten schweigend hinter sich bringen könnten. Während sie die Prunktreppe hinaufstiegen, entdeckte Jane Kunstschätze, wohin sie auch schaute. Eine antike Uhr. Ein Gemälde, das eine Frau in Rot zeigte. Details, die sie automatisch registrierte, während sie sich innerlich schon auf das gefasst machte, was sie in den oberen Stockwerken erwartete. In den Schlafzimmern.
Oben angekommen, wandte Maura sich nach rechts und ging zu dem Zimmer am Ende des Flurs. Durch die offene Tür konnte Jane ihren Partner Detective Barry Frost erkennen, dessen Hände in lila Latexhandschuhen steckten. Er hatte die Ellbogen fest angelegt, eine Haltung, die jeder Polizist an einem Tatort instinktiv einnimmt, um Kreuzkontamination zu vermeiden. Er entdeckte Jane und schüttelte betrübt den Kopf, mit einem Blick, der sagte: Ich wäre an diesem wunderschönen Tag auch viel lieber woanders.
Jane trat ins Zimmer und war im ersten Moment vom Sonnenlicht geblendet, das durch die deckenhohen Fenster einfiel. In diesem Schlafzimmer waren Vorhänge überflüssig, denn die Fenster gingen auf einen ummauerten Garten, wo die Blätter eines Fächerahorns in sattem Burgunderrot leuchteten und die Rosen voll erblüht waren. Aber es war die Leiche der Frau, die Janes Blick auf sich zog. Cecilia Ackerman lag mit einem beigefarbenen Nachthemd bekleidet auf dem Rücken im Bett, die Bettdecke bis zu den Schultern hochgezogen. Mit ihrer modischen blonden Strähnchenfrisur wirkte sie jünger als ihre achtundvierzig Jahre. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Züge auf verstörende Weise entspannt. Die Kugel war unmittelbar oberhalb ihrer linken Augenbraue eingetreten, und der Schmauchring auf ihrer Haut verriet, dass es ein aufgesetzter Schuss gewesen war. Der Mörder hatte ihr die Mündung auf die Stirn gesetzt und abgedrückt. Du hast geschlafen, als der Schuss fiel, dachte Jane. Du hast nicht geschrien, hast dich nicht gewehrt, du hast keine Bedrohung dargestellt. Und doch hat der Eindringling dieses Zimmer betreten, ist zum Bett hinübergegangen und hat dir eine Kugel in den Kopf gejagt.
»Das ist noch nicht das Schlimmste«, sagte Frost.
Sie sah ihren Kollegen an, dessen Züge im harten Morgenlicht eingefallen wirkten. Es war mehr als Erschöpfung, was sie in seinen Augen las; was immer er gesehen hatte, es hatte ihn zutiefst erschüttert.
»Die Kinderzimmer sind im zweiten Stock«, sagte Maura in so sachlichem Ton, als wäre sie eine Maklerin, die den Grundriss der Villa erläuterte. Über ihnen hörte Jane knarrende Schritte - die anderen Mitglieder des Teams, die in den Zimmern über ihnen umhergingen -, und sie musste plötzlich daran denken, wie sie einmal auf der Highschool am Halloween-Gruselhaus der Schule mitgearbeitet hatte. Sie hatten literweise Kunstblut verschüttet und gruselige Horrorszenen arrangiert, weit gruseliger als das, was sie in diesem Schlafzimmer mit dem scheinbar friedlich schlummernden Opfer sah. Im wirklichen Leben brauchte das Grauen keine blutrünstige Inszenierung.
Maura verließ das Zimmer und gab damit zu verstehen, dass sie alles gesehen hatten, was es hier zu sehen gab. Jane folgte ihr zurück ins Treppenhaus. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Glaskuppel, und man hätte meinen können, sie stiegen eine Treppe zum Himmel empor, doch diese Stufen führten an einen ganz anderen Ort. An einen Ort, um den Jane am liebsten einen großen Bogen gemacht hätte. Mauras ungewohnt sommerliche Bluse wirkte so krass fehl am Platz wie ein pinkfarbenes Kostüm bei einer Beerdigung. Es war nur ein unbedeutendes Detail, und doch störte es Jane, ja es ärgerte sie regelrecht, dass Maura, wenn sie schon einmal solche fröhlichen Farben trug, sich ausgerechnet diesen Morgen dafür ausgesucht hatte, an dem drei Kinder gestorben waren.
Sie erreichten den zweiten Stock, wo Maura elegant zur Seite auswich und ihren Schuh mit dem Papierüberzieher über ein Hindernis hob, das am Treppenabsatz lag. Erst als Jane die oberste Stufe erreichte, sah sie die herzzerreißend kleine Gestalt, die mit einem Plastiklaken verhüllt war. Maura ging in die Hocke und schlug eine Ecke des Tuchs zurück.
Das Mädchen lag auf der Seite, in Embryonalstellung zusammengekauert, als ob sie sich in die dunkel erinnerte Geborgenheit des Mutterleibs zurückziehen wollte. Ihre Haut war kaffeebraun, ihre schwarzen Haare zu einer eng anliegenden Flechtfrisur gebändigt und mit bunten Perlen geschmückt. Anders als die Opfer, die Jane bisher gesehen hatte, war dieses Kind keine Weiße, sondern Afroamerikanerin.
»Opfer Nummer drei ist Kimmie Ackerman, acht Jahre alt«, erklärte Maura mit tonloser, sachlicher Stimme, einer Stimme, die Jane mehr und mehr gegen den Strich ging, je länger sie auf dieses Kind auf dem Treppenabsatz hinunterstarrte. Fast noch ein Baby. Ein Baby in einem rosafarbenen Schlafanzug mit kleinen tanzenden Ponys darauf. Auf dem Boden neben der Leiche war der Abdruck eines schlanken Fußes zu erkennen. Jemand war barfuß in das Blut dieses Kindes getreten, hatte diesen Abdruck bei der Flucht aus dem Haus hinterlassen. Er war zu klein, um von einem Mann zu stammen. Das muss Teddy gewesen sein.
»Die Kugel hat das Hinterhauptsbein des Mädchens durchschlagen, ist aber nicht wieder ausgetreten. Der Einschusswinkel lässt auf einen Schützen schließen, der größer war als sie und hinter dem Opfer stand.«
»Sie hat sich bewegt«, sagte Jane leise. »Sie wollte davonlaufen. «
»Nach der Lage des Leichnams zu schließen, ist sie wohl in Richtung eines der Schlafzimmer hier im zweiten Stock geflüchtet, als der Schuss sie traf.«
»In den Hinterkopf.«
»Ja.«
»Verdammt, wer tut denn so was? Auf ein kleines Kind schießen?«
Maura deckte die Leiche wieder zu und richtete sich auf. »Sie hat vielleicht unten etwas beobachtet. Vielleicht hat sie das Gesicht des Täters gesehen. Das wäre ein Motiv.«
»Komm mir jetzt nicht mit deiner Logik. Wer immer das getan hat, war von dem Moment an, als er das Haus betrat, dazu bereit, ein Kind zu töten. Eine ganze Familie auszulöschen.«
»Über das Motiv kann ich nichts sagen.«
»Nur über die Todesart.«
»Es dürfte sich um Mord handeln.«
»Dürfte?«
Maura sah sie fragend an. »Wieso bist du so wütend auf mich?«
»Warum habe ich den Eindruck, dass dich das hier kaltlässt? «
»Du glaubst, es lässt mich kalt? Du glaubst, ich kann dieses Kind anschauen und nicht empfinden, was du empfindest? «
Sie starrten einander eine Weile über die Leiche des Mädchens hinweg an. Wieder einmal wurden sie an die Kluft erinnert, die sich seit Mauras folgenreicher Aussage im Prozess gegen einen Bostoner Polizisten zwischen ihnen aufgetan hatte, eine Aussage, die diesen Polizisten ins Gefängnis gebracht hatte. Auch wenn solche Verstöße gegen den Korpsgeist der Truppe nicht so schnell vergessen wurden, war Jane fest entschlossen, den Bruch in ihrer Freundschaft zu kitten. Aber sich zu entschuldigen fiel ihr schwer, und es waren zu viele Wochen vergangen, in denen der Graben immer tiefer geworden war.
»Es ist nur ...« Jane seufzte. »Ich hasse es, wenn die Opfer Kinder sind. Da möchte ich am liebsten jemanden erwürgen. «
»Da sind wir schon zu zweit.« Obwohl Maura mit sanfter Stimme sprach, sah Jane die eiserne Entschlossenheit in ihren Augen aufblitzen. Ja, der Zorn war da, nur besser kaschiert und streng unter Kontrolle gehalten, so, wie Maura fast alles in ihrem Leben unter Kontrolle zu halten versuchte.
»Rizzoli«, rief Detective Thomas Moore ihr von einer Tür aus zu. Wie Frost wirkte er niedergeschlagen, als ob er durch die Strapazen dieses Tages um zehn Jahre gealtert wäre. »Hast du schon mit dem Jungen gesprochen?«
»Noch nicht. Ich wollte mir erst anschauen, womit wir es zu tun haben.«
»Ich habe eine Stunde mit ihm verbracht. Er hat kaum ein Wort mit mir gesprochen. Mrs. Lyman, die Nachbarin, hat gesagt, als er heute früh um acht an ihrer Haustür auftauchte, sei er wie erstarrt gewesen.«
»Hört sich an, als ob er eher einen Psychologen braucht.«
»Wir werden Dr. Zucker hinzuziehen müssen, und die Frau vom Jugendamt ist auch schon unterwegs. Aber ich dachte, mit dir würde Teddy vielleicht reden. Du bist schließlich eine Mutter.«
»Was hat der Junge gesehen? Wissen wir das?«
Moore schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, dass er nicht gesehen hat, was in diesem Zimmer ist.«
Bei dieser Warnung fühlten sich Janes Finger in den Latexhandschuhen plötzlich eiskalt an. Moore war ein großer Mann, und seine Schultern versperrten ihr die Sicht, als ob er sie vor dem Anblick schützen wollte, der sie in diesem Schlafzimmer erwartete. Schweigend trat er zur Seite, um sie durchzulassen.
Zwei Mitarbeiterinnen der Spurensicherung kauerten in einer Ecke; sie blickten auf, als Jane eintrat. Beide waren noch jung - Teil jener Welle von weiblichen Kriminaltechnikern, die inzwischen die Branche dominierten. Beide sahen aus, als wären sie noch nicht alt genug, um selbst Kinder zu haben - um zu wissen, wie es war, voller Sorge eine fieberglühende Wange zu küssen oder beim Anblick eines offenen Fensters oder eines leeren Bettchens in Panik zu geraten. Die Mutterschaft brachte alle Arten von Albträumen mit sich, und in diesem Zimmer war einer dieser Albträume Wirklichkeit geworden.
»Wir glauben, dass es sich bei diesen Opfern um die Töchter der Ackermans handelt, die zehnjährige Cassandra und die neunjährige Sarah. Beide adoptiert«, erklärte Maura. »Da sie nicht in ihren Betten liegen, muss irgendetwas sie geweckt haben.«
»Schüsse?«, fragte Jane leise.
»In der Nachbarschaft hat niemand einen Knall gehört«, entgegnete Moore. »Er muss einen Schalldämpfer benutzt haben.«
»Aber irgendetwas hat diese Mädchen aufgeschreckt«, sagte Maura. »Etwas, das sie veranlasst hat, aus ihren Betten aufzustehen.«
Jane stand noch immer in der Tür. Einen Moment lang sagte niemand etwas, und sie begriff, dass die anderen nur auf sie warteten. Sie sollte sich die Leichen ansehen, sollte ihren Job als Polizistin machen. Genau das, wogegen sie sich mit allen Fasern sträubte. Sie zwang sich, auf die zusammengesunkenen Gestalten zuzugehen, und ging in die Hocke. Sie sind Arm in Arm gestorben.
»Nach der Lage der Leichen zu urteilen«, fuhr Maura fort, »scheint Cassandra sich schützend vor ihre jüngere Schwester gestellt zu haben. Zwei der Kugeln haben zunächst Cassandras Körper durchschlagen und anschließend Sarah getroffen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat der Täter dann jedem Mädchen noch ein Mal in den Kopf geschossen. Ihre Kleidung scheint unversehrt, ich kann also keine offensichtlichen Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch feststellen. Das muss ich aber noch durch die Obduktion bestätigen. Sie ist für den späten Nachmittag angesetzt, falls du dabei sein möchtest, Jane.«
»Nein, ich möchte nicht dabei sein. Eigentlich sollte ich heute gar nicht hier sein.« Abrupt machte sie kehrt und marschierte mit knisternden Schuhüberziehern aus dem Zimmer, auf der Flucht vor dem Anblick der beiden im Tod umschlungenen Mädchen. Doch als sie zur Treppe ging, sah sie wieder die Leiche des jüngsten Kindes. Kimmie, acht Jahre alt. Ich kann schauen, wohin ich will, dachte sie, jedes Mal bricht es mir das Herz.
»Jane, ist alles in Ordnung?«, fragte Maura.
»Du meinst, abgesehen davon, dass ich diesen Mistkerl am liebsten in Stücke reißen würde?«
»Mir geht es ganz genauso.«
Dann kannst du es einfach besser verbergen. Jane starrte auf die verhüllte Leiche hinunter. »Ich schaue dieses Kind an«, sagte sie leise, »und ich sehe unwillkürlich mein eigenes. «
»Du bist eine Mutter, deshalb ist das nur natürlich. Hör zu, Crowe und Moore sind sowieso bei der Obduktion dabei. Es ist nicht nötig, dass du auch kommst.« Sie sah auf ihre Uhr. »Es wird noch ein langer Tag. Und ich habe noch nicht mal gepackt.«
»Du besuchst diese Woche Julian im Internat, nicht wahr?«
»Morgen reise ich ab nach Maine, und nichts wird mich davon abhalten. Zwei Wochen mit einem Teenager und seinem Hund. Ich habe keine Ahnung, was mich da erwartet.«
Maura hatte selbst keine Kinder, woher sollte sie es also wissen? Sie und der sechzehnjährige Julian Perkins hatten nichts gemeinsam bis auf die Torturen, die sie im vergangenen Winter zusammen durchgestanden hatten, als sie in der Wildnis von Wyoming ums Überleben gekämpft hatten. Sie verdankte dem Jungen ihr Leben, und nun war sie entschlossen, ihm die Mutter zu sein, die er verloren hatte.
»Mal sehen, was ich dir über halbwüchsige Jungs erzählen kann«, versuchte Jane sich nützlich zu machen. »Meine Brüder hatten stinkige Schuhe. Sie haben bis Mittag geschlafen. Und sie haben ungefähr zwölfmal am Tag gegessen. «
»So ist nun mal der männliche Stoffwechsel in der Pubertät. Dafür können sie nichts.«
»Wow. Du hast ja wirklich die Mutter in dir entdeckt.«
Maura lächelte. »Ist eigentlich ein ganz gutes Gefühl.«
Aber die Mutterfreuden gibt es nicht ohne die Albträume, erinnerte sich Jane, als sie sich von Kimmies Leiche abwandte. Mit jeder Stufe, die sie hinabstieg, wuchs ihre Erleichterung darüber, diesem Haus des Schreckens zu entrinnen. Als sie schließlich wieder ins Freie trat, atmete sie tief durch, als wollte sie den Geruch des Todes aus ihrer Lunge spülen. Die Medienmeute war noch weiter angeschwollen, und die Fernsehkameras säumten die Polizeiabsperrung wie eine Batterie von Rammböcken. Crowe stand ganz vorn im Mittelpunkt - der Hollywooddetective, der sich vor seinem Publikum produzierte. Niemand beachtete Jane, als sie vorbeihuschte und zum Nebenhaus ging.
Ein Streifenbeamter hielt vor der Haustür Wache und sah mit breitem Grinsen zu, wie Crowe seine Show für die Kameras abzog. »Na, was meinen Sie, wer ihn in der Verfilmung spielen wird?«, fragte er. »Ist Brad Pitt hübsch genug? «
»Niemand ist hübsch genug, um Crowe zu spielen«, erwiderte Jane mit einem Schnauben. »Ich muss mit dem Jungen reden. Ist er da drin?«
»Ja, mit Officer Vasquez.«
»Wir warten auch noch auf den Psychologen. Also, wenn Dr. Zucker aufkreuzt, lassen Sie ihn bitte rein.«
»In Ordnung, Ma'am.«
Jane merkte plötzlich, dass sie immer noch die Handschuhe und Überschuhe vom Tatort trug. Sie streifte sie ab, stopfte sie in die Tasche und läutete. Gleich darauf erschien eine attraktive weißhaarige Frau an der Tür.
»Mrs. Lyman?«, sagte Jane. »Ich bin Detective Rizzoli.«
Die Frau nickte und winkte sie herein. »Kommen Sie schnell. Ich will nicht, dass diese schrecklichen Fernsehkameras uns sehen. Es ist eine solche Verletzung der Privatsphäre. «
Jane trat ins Haus, und die Frau machte rasch die Tür hinter ihr zu.
»Man hat Sie mir schon angekündigt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Sie mit Teddy viel weiterkommen werden. Dieser nette Detective Moore war so geduldig mit ihm.«
»Wo ist Teddy?«
»Hinten im Wintergarten. Der arme Junge hat kaum ein Wort mit mir geredet. Heute Morgen stand er plötzlich bei mir vor der Tür - er hatte noch seinen Pyjama an. Ich habe ihn nur angesehen und sofort gewusst, dass irgendetwas Schreckliches passiert war.« Sie drehte sich um. »Hier entlang, bitte.«
Jane folgte Mrs. Lyman in die Eingangshalle und blickte zu einem Treppenhaus auf, das wie ein Spiegelbild der Ackerman-Villa wirkte. Und auch dieses Haus war mit ebenso erlesenen wie teuer aussehenden Kunstobjekten geschmückt.
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Jane.
© 2013 Limes Verlag, München
An dem Abend, als die dreizehnjährige Claire Ward hätte sterben sollen, stand sie in Ithaca auf dem Fensterbrett ihres Zimmers im zweiten Stock und überlegte hin und her, ob sie springen sollte oder nicht. Sechs Meter unter dem Fenster waren wild wuchernde Forsythiensträucher, die ihre Frühlingsblüte längst hinter sich hatten. Sie würden ihren Sturz abfedern, aber ohne Knochenbrüche würde es wahrscheinlich nicht abgehen. Sie sah zu dem Ahorn hinüber, beäugte den starken Ast, der sich so nahe zum Fenster hin reckte, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm fast berühren konnte. Bis zu diesem Abend hatte sie den Sprung noch nie gewagt, denn sie war nie dazu gezwungen gewesen. Bis zu diesem Abend war es ihr immer gelungen, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Aber diese Abende der mühelos gewonnenen Freiheit gehörten der Vergangenheit an, denn Bob die Spaßbremse war ihr auf die Schliche gekommen. In Zukunft bleibst du schön zu Hause, wenn es draußen dunkel wird, junge Dame! Jetzt ist Schluss mit dem Herumstreunen!
Wenn ich mir bei diesem Sprung den Hals breche, dachte sie, dann ist es allein Bobs Schuld.
Ja, doch, diesen Ast konnte sie mit Sicherheit erreichen. Sie hatte an diesem Abend noch etwas vor, sie wollte Leute treffen, und sie konnte nicht ewig hier herumsitzen und ihre Chancen abwägen.
Sie ging in die Hocke, spannte die Muskeln zum Sprung an - und erstarrte plötzlich, als die Scheinwerfer eines Autos um die Ecke kamen. Der Geländewagen glitt wie ein schwarzer Hai unter ihrem Fenster vorüber und fuhr weiter die ruhige Straße entlang, als ob der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchte. Sicher nicht nach unserem, dachte sie; nie tauchte irgendjemand Interessantes bei ihren Pflegeeltern auf, bei Bob »Spaßbremse« Buckley und seiner noch langweiligeren Gattin Barbara. Sogar ihre Namen waren langweilig, ganz zu schweigen von ihren Tischgesprächen. Wie war dein Tag, Schatz? Und deiner? Das Wetter hat sich gebessert, nicht wahr? Reichst du mir bitte die Kartoffeln?
In ihrer verstaubten Akademikerwelt war Claire die Fremde, das wilde Mädchen, das sie niemals verstehen würden, sosehr sie sich auch mühten. Und sie gaben sich wirklich Mühe. Wäre sie doch nur bei einer Familie von Künstlern oder Schauspielern oder Musikern untergekommen, bei Leuten, die die ganze Nacht aufblieben und wussten, wie man sich amüsiert. Bei ihrer Art von Leuten.
Der schwarze Wagen war verschwunden. Jetzt oder nie, dachte sie.
Sie holte tief Luft und sprang. Spürte das Rauschen der Nachtluft in ihren langen Haaren, als sie durch die Dunkelheit flog. Dann landete sie, geschmeidig wie eine Katze, und der Ast erzitterte unter ihrem Gewicht. Ein Kinderspiel. Sie kletterte auf einen tieferen Ast und wollte gerade springen, als der schwarze Geländewagen zurückkam. Wieder glitt er mit leise schnurrendem Motor vorbei. Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwand, dann ließ sie sich auf das nasse Gras fallen.
Ihr Blick ging zurück zum Haus, und sie rechnete schon damit, dass Bob zur Haustür hinausstürmen und sie anschreien würde: Rein mit dir, junge Dame, aber auf der Stelle! Doch die Außenbeleuchtung ging nicht an.
Jetzt konnte der Abend beginnen.
Sie zog den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch und machte sich auf den Weg zum Stadtpark, wo die ganze Action war - wenn man es so nennen konnte. Zu dieser späten Stunde war die Straße ruhig, die meisten Fenster dunkel. Es war ein Viertel mit Lebkuchenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, bevölkert von Professoren und Dozenten und glutenfreien, veganen Ehefrauen und Müttern, die alle in Lesegruppen waren. Zehn Quadratmeilen, umgeben von der wirklichen Welt, so lautete Bobs augenzwinkernde Definition der Stadt, doch er und Barbara gehörten tatsächlich hierher.
Claire wusste nicht, wo sie hingehörte.
Sie überquerte die Straße mit großen Schritten und kickte mit ihren ausgetretenen Stiefeln das tote Laub vor sich her. Einen Block weiter stand ein Trio von Teenagern, zwei Jungen und ein Mädchen, im Lichtkegel einer Straßenlaterne und rauchte Zigaretten.
»Hey«, rief sie ihnen zu.
Der größere Junge winkte. »Hey, Claire-Bear. Ich hab gehört, du hättest wieder Einzelhaft.«
»Für dreißig Sekunden vielleicht.«
Sie nahm die brennende Zigarette, die er ihr anbot, machte einen Lungenzug und atmete mit einem zufriedenen Seufzer aus. »Also, was geht ab heute Abend? Was wollen wir machen?«
»Hab gehört, drüben bei den Wasserfällen steigt 'ne Party. Aber wir brauchen ein Auto.«
»Was ist mit deiner Schwester? Sie könnte uns doch hinfahren. «
»Nee, Dad hat ihr die Autoschlüssel weggenommen. Lass uns noch 'ne Weile hier rumhängen und schauen, wer sonst noch aufkreuzt.« Der Junge hielt inne, runzelte die Stirn und spähte über Claires Schulter. »O Scheiße, sieh mal, wer da kommt.«
Sie drehte sich um und stöhnte, als ein dunkelblauer Saab neben ihr am Bordstein hielt. Das Beifahrerfenster wurde heruntergedreht, und Barbara Buckley sagte: »Steig ein, Claire!«
»Ich treffe mich bloß mit meinen Freunden.«
»Es ist fast Mitternacht, und morgen ist Schule.«
»Ist ja nicht so, als ob ich was Verbotenes mache.«
Vom Fahrersitz kommandierte Bob Buckley: »Steig sofort ein, junge Dame!«
»Ihr seid nicht meine Eltern!«
»Aber wir sind verantwortlich für dich. Es ist unser Job, dich zu einem anständigen Menschen zu erziehen, und genau das versuchen wir zu tun. Wenn du nicht sofort mit uns nach Hause kommst, dann ... also, dann wirst du die Konsequenzen zu spüren bekommen.«
Ja, ja, ich mach mir vor Angst gleich in die Hose. Sie wollte schon loslachen, doch da fiel ihr plötzlich auf, dass Barbara einen Morgenmantel trug und dass Bobs Haare seitlich vom Kopf abstanden. Sie hatten sich so überhastet auf die Suche nach ihr gemacht, dass sie sich nicht einmal angezogen hatten. Sie sahen beide älter und müder aus, ein zerknittertes Ehepaar mittleren Alters, das aus dem Schlaf gerissen worden war und ihretwegen am nächsten Morgen völlig erschöpft aufwachen würde.
Barbara seufzte resigniert. »Ich weiß, dass wir nicht deine Eltern sind, Claire. Ich weiß, dass es dir nicht passt, bei uns zu wohnen, aber wir tun doch nur unser Bestes. Also steig jetzt bitte ein. Hier draußen bist du nicht sicher.«
Claire warf ihren Freunden einen genervten Blick zu, kletterte auf den Rücksitz des Saab und knallte die Tür zu. »Okay?«, sagte sie. »Jetzt zufrieden?«
Bob drehte sich zu ihr um. »Es geht hier nicht um uns. Es geht um dich. Wir haben deinen Eltern geschworen, dass wir uns immer um dich kümmern würden. Wenn Isabel noch am Leben wäre und dich jetzt sehen könnte, würde es ihr das Herz brechen. Außer Rand und Band, immer voller Zorn. Claire, du hast eine zweite Chance bekommen, und das ist ein Geschenk. Ich bitte dich, wirf es nicht weg.« Er seufzte. »Und jetzt schnall dich an, ja?«
Wäre er wütend gewesen, hätte er sie angebrüllt, dann hätte sie damit umgehen können. Aber der Blick, mit dem er sie ansah, war so kummervoll, dass sie ein ganz schlechtes Gewissen bekam. Weil sie sich so unmöglich benahm, weil sie ihre Güte mit Rebellion erwiderte. Es war nicht die Schuld der Buckleys, dass ihre Eltern tot waren. Dass ihr Leben so verkorkst war.
Während sie davonfuhren, saß sie zusammengekauert auf dem Rücksitz, reumütig, aber zu stolz, um sich zu entschuldigen. Morgen werde ich netter zu ihnen sein, dachte sie. Ich werde Barbara helfen, den Tisch zu decken, und vielleicht sogar Bobs Wagen waschen. Denn diese Kiste hat es wirklich verdammt nötig.
»Bob«, sagte Barbara, »was macht denn das Auto da vorn?«
Ein Motor heulte auf. Scheinwerfer kamen auf sie zu.
Barbara schrie: »Bob!«
Durch den Aufprall wurde Claire in ihren Gurt geschleudert, und ein entsetzliches Getöse zerriss die Nacht. Splitterndes Glas. Knirschendes Metall.
Und irgendjemand weinte, wimmerte leise. Sie schlug die Augen auf, sah, dass die Welt auf dem Kopf stand, und merkte, dass das Wimmern von ihr selbst kam. »Barbara?«, fl üsterte sie.
Sie hörte einen gedämpften Knall, dann noch einen. Benzingeruch stieg ihr in die Nase. Sie hing in ihrem Gurt, und er schnitt ihr so tief in die Rippen, dass sie kaum atmen konnte. Blind tastete sie nach der Schnalle. Sie löste sich mit einem Klick, Claires Kopf schlug unten auf, und ein jäher Schmerz schoss ihr in den Nacken. Irgendwie gelang es ihr, sich umzudrehen, sodass sie flach dalag, vor sich das zerschmetterte Fenster. Der Benzingeruch war jetzt stärker. Sie wälzte sich zum Fenster hin, dachte an Flammen, an sengende Hitze, die das Fleisch auf ihren Knochen zum Kochen brachte. Raus hier, raus. Solange noch Zeit bleibt, Bob und Barbara zu retten! Sie schlug die letzten Glassplitter aus dem Rahmen, und sie fielen klirrend auf den Asphalt.
Zwei Füße tauchten in ihrem Blickfeld auf und blieben vor ihr stehen. Sie starrte zu dem Mann auf, der ihr den Fluchtweg versperrte. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, nur seine Silhouette. Und die Waffe, die er in der Hand hielt.
Reifen kreischten, als ein weiterer Wagen mit röhrendem Motor auf sie zuschoss.
Claire wich erschrocken in den Saab zurück, wie eine Schildkröte, die sich in den Schutz ihres Panzers verkriecht. Sie zog sich vom Fenster zurück, hielt sich die Arme über den Kopf und fragte sich nur, ob die Kugel diesmal wehtun würde. Ob sie spüren würde, wie sie in ihren Schädel eindrang. Sie rollte sich so fest zusammen, dass sie nur noch das Geräusch ihres eigenen Atems hörte, das Rauschen des Bluts in ihren Adern.
Fast hätte sie die Stimme überhört, die ihren Namen rief.
»Claire Ward?« Es war eine Frau.
Ich muss wohl tot sein. Und das da ist ein Engel, der mit mir redet.
»Er ist weg. Du kannst jetzt rauskommen, die Gefahr ist vorbei«, sagte der Engel. »Aber du musst dich beeilen.«
Claire schlug die Augen auf und spähte durch ihre Finger auf das Gesicht, das sie seitwärts durch das kaputte Fenster anstarrte. Ein schlanker Arm streckte sich nach ihr aus, und Claire duckte sich ängstlich weg.
»Er wird wiederkommen«, sagte die Frau. »Also beeil dich.«
Claire ergriff die dargebotene Hand, und die Frau zog sie heraus. Glassplitter regneten klirrend herab, als Claire auf den Asphalt rollte. Allzu schnell setzte sie sich auf, und die nächtliche Szenerie drehte sich um sie. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf das Wrack des Saab, der sich überschlagen hatte, dann musste sie den Kopf schon wieder senken.
»Kannst du aufstehen?«
Langsam hob Claire den Kopf.
Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und die blonden Strähnen schimmerten hell im Schein der Straßenlaterne. »Wer sind Sie?«, fl üsterte Claire.
»Mein Name ist nicht wichtig.«
»Bob ... Barbara ...« Claire sah zu dem auf dem Dach liegenden Wagen. »Wir müssen sie da rausholen! Helfen Sie mir.« Claire kroch zur Fahrerseite und riss die Tür auf.
Bob Buckley fiel heraus auf die Straße, die blicklosen Augen weit aufgerissen. Claire starrte auf das Einschussloch in seiner Schläfe. »Bob«, stöhnte sie. »Bob!«
»Du kannst ihm nicht mehr helfen.«
»Barbara ... Was ist mit Barbara?«
»Es ist zu spät.« Die Frau packte sie an den Schultern und schüttelte sie kräftig. »Sie sind tot, verstehst du? Sie sind beide tot.«
Claire schüttelte den Kopf, den Blick immer noch auf Bob geheftet. Auf die Blutlache, die sich jetzt um seinen Kopf herum ausbreitete wie ein dunkler Heiligenschein. »Das kann doch nicht wirklich passieren«, wisperte sie. »Nicht schon wieder.«
»Komm, Claire.« Die Frau ergriff ihre Hand und zog sie hoch. »Komm mit mir. Wenn dir dein Leben lieb ist.«
An dem Abend, als der vierzehnjährige Will Yablonski hätte sterben sollen, stand er im Dunkeln auf einer Wiese in New Hampshire und hielt Ausschau nach Aliens.
Er hatte die komplette Ausrüstung beisammen, die er für seine Suche brauchte. Da war sein 10-Zoll-Dobson-Spiegel , den er drei Jahre zuvor von Hand geschliffen hatte, als er erst elf Jahre alt gewesen war. Er hatte zwei Monate daran gearbeitet, zuerst mit grobem 80-körnigen Sandpapier, dann nach und nach mit immer feinerer Körnung, um das Glas zu formen, zu glätten und zu polieren. Mithilfe seines Vaters hatte er seine eigene Altazimut-Montierung gebaut. Das 25-mm-Plöss-Okular war ein Geschenk seines Onkels Brian, der Will half, die ganzen Geräte nach dem Abendessen hinaus aufs Feld zu schleppen, wann immer der Himmel klar war. Aber Onkel Brian war eine Lerche, keine Eule, und um zehn Uhr abends war er immer schon reif fürs Bett.
Und so stand Will allein auf dem Feld hinter dem Bauernhaus seiner Tante und seines Onkels, wie an den meisten Abenden, wenn es keine Wolken gab und der Mond nicht schien, und suchte den Himmel nach kosmischen Staubhaufen ab, besser bekannt als Kometen. Sollte er je einen neuen Kometen entdecken, dann wusste er schon genau, wie er ihn nennen würde: Komet Neil Yablonksi, zu Ehren seines verstorbenen Vaters. Ständig wurden neue Kometen von Amateur-Astronomen entdeckt - warum sollte es das nächste Mal nicht ein vierzehnjähriger Junge sein? Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, es brauche dafür nur Hingabe, ein geübtes Auge und eine Menge Glück. Es ist eine Schatzsuche, Will. Das Universum ist wie ein Strand, und die Sterne sind Sandkörner, die das, was du suchst, verdecken.
Für Will war die Schatzsuche immer noch so spannend wie am ersten Tag. Immer noch verspürte er dieses Kribbeln, jedes Mal, wenn er und Onkel Brian die Ausrüstung aus dem Haus trugen und sie in der Abenddämmerung aufbauten, die gleiche gespannte Erwartung, weil dies die Nacht sein könnte, in der er den Kometen Neil Yablonski entdeckte. Und dann hätte sich die ganze Mühe endlich gelohnt, die zahllosen Nachtwachen, bei denen er sich mit heißer Schokolade und Schokoriegeln auf den Beinen gehalten hatte. Und es würde sogar die Beleidigungen aufwiegen, die seine ehemaligen Klassenkameraden in Maryland ihm ins Gesicht geschleudert hatten. Fettsack. Michelin-Männchen.
Die Kometenjagd war kein Hobby, bei dem man einen braun gebrannten Athletenkörper bekam.
Heute hatte er seine Suche wie üblich bald nach der Abenddämmerung begonnen, denn Kometen waren am besten kurz nach Sonnenuntergang oder kurz vor Sonnenaufgang zu sehen. Aber die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, und immer noch hatte er keine Schweifsterne erspäht. Er hatte ein paar vorbeiziehende Satelliten beobachtet und einmal das kurze Aufflackern eines Meteors, aber nichts, was er in diesem Himmelssektor nicht schon einmal gesehen hätte. Er richtete das Teleskop auf einen anderen Sektor, und der unterste Stern der Canes Venatici kam in sein Blickfeld. Die Jagdhunde. Er erinnerte sich an die Nacht, in der sein Vater ihm den Namen dieses Sternbilds beigebracht hatte. Eine kalte Nacht, in der sie beide bis zur Morgendämmerung aufgeblieben waren. Sie hatten sich mit Schlucken aus der Thermoskanne gewärmt und sich ab und zu einen Snack ...
Plötzlich schnellte er hoch und drehte sich um. Was war das für ein Geräusch? Ein Tier? Oder bloß der Wind in den Bäumen? Er stand mucksmäuschenstill da und lauschte angestrengt, doch die Nacht war mit einem Mal unnatürlich still, so still, dass er seinen eigenen Atem extrem laut hörte. Onkel Brian hatte ihm versichert, dass in diesen Wäldern keine gefährlichen Tiere hausten, aber wie er so allein in der Dunkelheit stand, konnte Will sich alle möglichen Kreaturen mit scharfen Zähnen vorstellen. Schwarzbären. Wölfe. Pumas.
Mit flatternden Nerven wandte er sich wieder seinem Teleskop zu und verschob den Ausschnitt. Und da war plötzlich dieser Staubhaufen, genau in der Mitte des Okulars. Ich hab ihn gefunden! Komet Neil Yablonski!
Nein. Nein, du Idiot, das war kein Komet. Er seufzte enttäuscht auf, als ihm klar wurde, dass das Ding in seinem Okular der M3 war, ein Kugelsternhaufen. Etwas, das jeder halbwegs brauchbare Astronom erkennen würde. Ein Glück, dass er nicht Onkel Brian geweckt hatte, um es ihm zu zeigen - das wäre todpeinlich gewesen.
Ein knackender Zweig ließ ihn erneut herumfahren. Da bewegte sich etwas im Wald. Ganz eindeutig - da war irgendetwas.
Die Explosion schleuderte ihn nach vorn. Er fiel hart mit dem Gesicht voran ins Gras und blieb benommen liegen. Irgendwo flackerte ein Licht, wurde immer heller, und als er den Kopf hob, sah er, dass die Bäume orangefarben schimmerten. Im Nacken spürte er einen heißen Luftzug, wie den Atem eines Ungeheuers. Er drehte sich um.
Das Haus brannte lichterloh. Die Flammen loderten auf wie Finger, die nach dem Himmel krallten.
»Onkel Brian!«, schrie Will. »Tante Lynn!«
Er rannte auf das Haus zu, doch eine Feuerwand versperrte ihm den Weg und ließ ihn zurückprallen, so höllisch heiß, dass jeder Atemzug in seiner Kehle brannte. Würgend und hustend taumelte er rückwärts und roch den Gestank seiner eigenen angesengten Haare.
Hol Hilfe! Die Nachbarn! Er drehte sich zur Straße um, lief ein paar Schritte und hielt gleich wieder inne.
Eine Frau kam auf ihn zu. Ganz in Schwarz gekleidet, schlank und geschmeidig wie ein Panther. Ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, und im flackernden Schein des Feuers traten ihre Gesichtszüge scharf hervor.
»Helfen Sie mir!«, schrie er. »Meine Tante und mein Onkel ... Sie sind im Haus!«
Sie sah zum Bauernhaus hinüber, das jetzt vollends von Flammen eingehüllt war. »Es tut mir leid. Aber für die beiden ist es zu spät.«
»Es ist nicht zu spät! Wir müssen sie retten!«
Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Ich kann ihnen nicht helfen, Will. Aber dich - dich kann ich retten.« Sie streckte die Hand aus. »Komm mit mir. Wenn dir dein Leben lieb ist.«
Es gab Frauen, denen stand Rosa gut. Es gab Frauen, die konnten Schleifchen und Spitzen tragen, konnten in seidenglänzendem Taft herumstöckeln und dabei bezaubernd feminin aussehen.
Jane Rizzoli gehörte nicht zu diesen Frauen.
Sie stand im Schlafzimmer ihrer Mutter, starrte die Gestalt in dem hohen Spiegel an und dachte nur: Erschießt mich. Erschießt mich auf der Stelle.
Das glockenförmige Kleid war bonbonrosa, mit einem Rüschendekolleté von den Dimensionen eines Clownskragens. Der Rock war bauschig mit Reihen über Reihen von noch mehr abartigen Rüschen. Um die Taille war eine Schärpe mit einer riesigen rosa Schleife geschlungen. Selbst Scarlett O'Hara wäre entsetzt gewesen.
»Oh, Janie, schau dich nur an«, rief Angela Rizzoli und klatschte entzückt in die Hände. »Du bist so wunderschön, du wirst mir noch die Schau stehlen. Bist du nicht auch begeistert? «
Jane blinzelte nur, zu perplex, um auch nur ein Wort herauszubringen.
»Natürlich musst du dazu High Heels tragen, um das Ganze abzurunden. Stilettos aus Satin, würde ich sagen. Und ein Strauß mit rosa Rosen und Schleierkraut. Oder ist das altmodisch? Findest du, dass ich lieber auf modern machen sollte, mit Callas oder so was in der Art?«
»Mom ...«
»Das Kleid muss ich dir in der Taille noch enger nähen.
Wie kommt es eigentlich, dass du so abgenommen hast?
Isst du nicht genug?«
»Ist das dein Ernst? Das soll ich tragen?«
»Was stört dich denn daran?«
»Es ist ... rosa.«
»Und du siehst wunderbar darin aus.«
»Hast du mich jemals in Rosa gesehen?«
»Ich nähe ein Kleidchen genau wie das da für Regina. Ihr werdet so süß nebeneinander aussehen! Mutter und Tochter im Partnerlook!«
»Regina ist süß. Ich bin es definitiv nicht.«
Angelas Unterlippe begann zu zittern. Ein Warnsignal, so subtil wie das erste Zittern der Kontrollanzeige eines Kernkraftwerks. »Ich habe das ganze Wochenende an diesem Kleid gearbeitet. Jeden Stich, jede Rüsche habe ich eigenhändig genäht. Und jetzt willst du es gar nicht anziehen, nicht mal zu meiner Hochzeit?«
Jane schluckte. »Das habe ich nicht gesagt. Nicht direkt jedenfalls.«
»Ich sehe es dir am Gesicht an. Du hasst es.«
»Nein, Mom, es ist ein tolles Kleid.« Für ein Barbiepüppchen vielleicht.
Angela sank aufs Bett nieder, und ihr Seufzer hätte einer sterbenden Opernheldin gut angestanden. »Weißt du, vielleicht sollten Vince und ich einfach heimlich heiraten. Dann wären alle glücklich, oder? Dann müsste ich nicht mit Frankie herumstreiten. Und ich müsste mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, wer auf die Gästeliste kommt und wer nicht. Und du müsstest nicht ein Kleid tragen, das du hasst.«
Jane setzte sich zu ihr aufs Bett, wobei der Taftstoff sich über ihrem Schoß aufblähte wie eine Riesenportion Zuckerwatte. Sie drückte ihn glatt. »Mom, deine Scheidung ist ja noch nicht mal durch. Du kannst dir für die Planung alle Zeit der Welt nehmen. Das ist doch das Schöne an einer Hochzeit, meinst du nicht? Du musst nichts überstürzen.« Sie blickte auf, als die Türklingel ertönte.
»Vince wird allmählich ungeduldig. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Er sagt, er will endlich seine Braut zum Altar führen. Ist das nicht süß? Ich komme mir vor wie in dem Madonna-Song Like a virgin ...«
Jane sprang auf. »Ich geh schon hin.«
»Wir sollten einfach in Miami heiraten«, rief Angela, als Jane hinausging. »Das würde alles wesentlich vereinfachen. Und billiger wäre es auch, weil ich nicht die ganze Verwandtschaft zum Essen einladen müsste!«
Jane öffnete die Haustür. Auf der Schwelle standen die zwei Männer, die sie an diesem Sonntagmorgen am allerwenigsten sehen wollte.
Ihr Bruder Frankie lachte, als er das Haus betrat. »Was willst du denn mit dem hässlichen Kleid?«
Ihr Vater, Frank senior, stapfte hinterdrein und verkündete: »Ich bin gekommen, um mit deiner Mutter zu sprechen. «
»Dad, das ist jetzt kein guter Zeitpunkt«, sagte Jane.
»Ich bin hier. Also ist es ein guter Zeitpunkt. Wo ist sie?«, fragte er und sah sich im Wohnzimmer um.
»Ich glaube nicht, dass sie mit dir reden will.«
»Sie muss mit mir reden. Wir müssen diesem Irrsinn ein Ende machen.«
»Irrsinn?«, echote Angela und trat aus dem Schlafzimmer. »Du bist der Richtige, von Irrsinn zu reden.«
»Frankie sagt, du willst das wirklich durchziehen«, sagte Janes Vater. »Du willst diesen Mann tatsächlich heiraten?«
»Vince hat mir einen Antrag gemacht. Ich habe Ja gesagt. «
»Was ist mit der Tatsache, dass wir immer noch verheiratet sind?«
»Das steht bloß noch in den Papieren.«
»Ich werde sie nicht unterschreiben.«
»Was?«
»Ich sagte, ich werde die Papiere nicht unterschreiben. Und du wirst diesen Typen nicht heiraten.«
Angela lachte ungläubig. »Du hast doch mich sitzen lassen! «
»Ich wusste ja nicht, dass du dir gleich den Nächsten angeln würdest.«
»Was hätte ich denn machen sollen - daheim rumsitzen und mich vor Sehnsucht verzehren, nachdem du mich wegen ihr verlassen hattest? Ich bin immer noch eine junge Frau, Frank! Die Männer begehren mich. Sie wollen mit mir schlafen!«
Frankie stöhnte: »Mein Gott, Ma!«
»Und weißt du was?«, setzte Angela noch einen drauf. »Ich hatte noch nie so guten Sex!«
Jane hörte ihr Handy im Schlafzimmer klingeln. Sie ignorierte es und packte ihren Vater am Arm. »Ich glaube, du gehst jetzt besser, Dad. Komm, ich begleite dich zur Tür.«
»Ich bin froh, dass du mich verlassen hast, Frank«, sagte Angela. »Jetzt habe ich mein Leben wieder, und ich weiß, wie es ist, wenn man geschätzt wird.«
»Du bist meine Frau. Du gehörst immer noch zu mir.«
Janes Handy, das vorübergehend verstummt war, läutete erneut, so beharrlich, dass sie es nicht ignorieren konnte. »Frankie«, flehte sie, »nun hilf mir doch, Herrgott noch mal! Wir müssen ihn aus dem Haus schaffen.«
»Komm schon, Dad«, sagte Frankie und klopfte seinem Vater auf den Rücken. »Lass uns ein Bier trinken gehen.«
»Ich bin hier noch nicht fertig.«
»Doch, das bist du«, sagte Angela.
Jane rannte zurück ins Schlafzimmer und kramte das klingelnde Handy aus ihrer Tasche. Sie versuchte, die streitenden Stimmen in der Diele zu ignorieren, als sie sich meldete: »Rizzoli.«
»Wir brauchen dich hier«, sagte Detective Darren Crowe. »Wie schnell kannst du kommen?« Kein höfl iches Vorgeplänkel, kein bitte oder würde es dir etwas ausmachen - einfach nur Crowe mit seiner üblichen charmanten Art.
Sie entgegnete ebenso brüsk: »Ich habe keine Bereitschaft. «
»Marquette setzt drei Teams ein. Ich habe die Leitung bei diesem Fall. Frost ist gerade gekommen, aber wir könnten eine Frau gebrauchen.«
»Habe ich da gerade richtig gehört? Hast du tatsächlich gesagt, dass du die Hilfe einer Frau brauchst?«
»Hör zu, unser Zeuge steht zu sehr unter Schock, um uns irgendetwas Brauchbares erzählen zu können. Moore hat schon versucht, mit dem Jungen zu reden, aber er meint, du hättest vielleicht mehr Glück bei ihm.«
Mit dem Jungen. Bei dem Wort hielt Jane erschrocken inne. »Euer Zeuge ist ein Kind?«
»Dreizehn oder vierzehn, schätze ich. Er ist der einzige Überlebende.«
»Was ist passiert?«
Am anderen Ende der Leitung waren Stimmen zu hören, die knappen Wortwechsel der Spurensicherer, und das Echo vieler Schritte, die in einem Zimmer mit Parkettboden umhergingen. Sie konnte Crowe vor sich sehen, wie er mit seiner Hollywoodfrisur inmitten des Trubels stand, breitschultrig und mit geschwellter Brust. »Es ist ein verdammtes Blutbad hier«, sagte er. »Fünf Opfer, davon drei Kinder. Die Jüngste dürfte kaum älter als acht Jahre sein.«
Ich will das nicht sehen, dachte sie. Nicht heute. Und auch an keinem anderen Tag. Dennoch rang sie sich dazu durch zu fragen: »Wo bist du?«
»Das Haus ist am Louisburg Square. Die gottverdammten Übertragungswagen blockieren hier alles, also musst du wahrscheinlich ein, zwei Straßen weiter parken.«
Sie blinzelte überrascht. »Es ist in Beacon Hill passiert?« »Genau. Auch die Reichen erwischt's hin und wieder.« »Wer sind die Opfer?« »Bernard und Cecilia Ackerman, fünfzig beziehungsweise
achtundvierzig Jahre alt. Und ihre drei Adoptivtöchter.« »Und der Überlebende? Ist er ihr Sohn?« »Nein. Sein Name ist Teddy Clock. Er lebt seit ein paar
Jahren bei den Ackermans.« »Er lebt bei ihnen? Ist er ein Verwandter?« »Nein«, antwortete Crowe. »Er ist ihr Pflegekind.«
Als Jane auf den Louisburg Square trat, entdeckte sie den vertrauten schwarzen Lexus, der zwischen den kreuz und quer parkenden Einsatzfahrzeugen des Boston PD stand, und sie wusste, dass Maura Isles, die Rechtsmedizinerin, bereits am Tatort war. Nach der Anzahl der Übertragungswagen zu schließen, waren auch sämtliche Fernsehsender der Stadt vertreten, und das war nicht weiter verwunderlich: Wenige Wohnlagen in Boston waren so begehrt wie dieser Platz mit seinem schmucken kleinen Park und den vielen Schatten spendenden Bäumen. Die Häuser rings um den Square waren im Stil des Greek Revival erbaut. Hier wohnte sowohl altes als auch neues Geld, von Industriemagnaten über die vornehmen Familien der Bostoner »Brahmanen « bis hin zu einem ehemaligen Senator. Aber nicht einmal ein Viertel wie dieses war immun gegen Gewalt. Auch die Reichen erwischt's hin und wieder, hatte Detective Crowe gesagt, aber wenn es sie erwischte, schaute die ganze Welt hin. Hinter der Polizeiabsperrung rangelten sich Scharen von Schaulustigen um die besten Plätze. Beacon Hill war ein beliebtes Ziel für Reisegruppen, und heute kamen diese Touristen voll auf ihre Kosten.
»He, sieh mal! Da ist Detective Rizzoli.«
Jane entdeckte die Fernsehreporterin, die mit ihrem Kameramann auf sie zusteuerte, und hob die Hand, um ihre Fragen abzuwehren. Selbstverständlich ignorierten sie sie und verfolgten sie quer über den Platz.
»Detective, wir haben gehört, es gäbe einen Zeugen!«
Jane bahnte sich ihren Weg durch die Menge und zischte: »Polizei. Lassen Sie mich durch.«
»Stimmt es, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war? Und dass nichts gestohlen wurde?«
Diese verdammte Reporterin wusste mehr als sie. Jane schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und nannte dem Posten ihren Namen und ihre Dienstnummer. Es war reine Formsache; der Streifenbeamte wusste genau, wer sie war, und hatte ihren Namen bereits auf seinem Klemmbrett abgehakt.
»Sie hätten mal sehen sollen, wie die Tussi Detective Frost gejagt hat«, sagte er und lachte. »Wie ein verschrecktes Kaninchen hat er ausgesehen.«
»Ist Frost im Haus?«
»Ja, und Lieutenant Marquette auch. Der Polizeipräsident ist auf dem Weg hierher, und es würde mich nicht wundern, wenn der Bürgermeister auch noch aufkreuzen würde.«
Sie blickte zu dem beeindruckenden viergeschossigen roten Backsteinbau auf und murmelte: »Wow.«
»Dürfte seine fünfzehn, zwanzig Millionen wert sein.«
Aber das war, bevor es zum Geisterhaus geworden ist, dachte sie, während sie die eleganten Erkerfenster und das kunstvoll verzierte Giebeldreieck über der massiven Haustür bewunderte. Hinter dieser Tür warteten Bilder des Grauens, denen sie sich nicht gewachsen fühlte. Drei tote Kinder. Das war der Fluch der Elternschaft: Jedes tote Kind trug die Züge des eigenen. Als sie Handschuhe und Überschuhe anzog, legte sie damit zugleich eine Art emotionale Schutzkleidung an. Wie ein Bauarbeiter, der seinen Helm aufsetzt, schlüpfte sie in ihre eigene Rüstung und trat ein.
Sie fand sich in einem offenen Treppenhaus, wo der Blick über vier Etagen bis hinauf zu einem Glaskuppeldach reichte, durch das Sonnenlicht golden hereinströmte. Viele Stimmen, die meisten davon männlich, hallten von den oberen Stockwerken durch das Treppenhaus. Auch wenn sie den Hals reckte, konnte sie von der Eingangshalle aus niemanden sehen, konnte nur diese Stimmen hören, wie das Gemurmel von Geistern in einem Haus, das im Lauf eines ganzen Jahrhunderts sicherlich viele Seelen beherbergt hatte.
»Da kriegt man mal mit, wie die oberen Zehntausend so leben ...«, ertönte eine männliche Stimme.
Sie drehte sich um und sah Detective Crowe in einer Tür stehen. »... und sterben«, ergänzte sie.
»Wir haben den Jungen nebenan geparkt. Die Nachbarin war so nett, ihn in ihrem Haus warten zu lassen. Der Kleine kennt sie, und wir dachten, es wäre ihm sicher angenehmer, wenn wir ihn dort vernehmen.«
»Zuerst muss ich mal wissen, was in diesem Haus passiert ist.«
»Wir sind noch dabei, das herauszufinden.«
»Ich hab gehört, dass die ganzen hohen Tiere hier aufkreuzen wollen; sogar der Polizeipräsident soll schon unterwegs sein. Was hat es denn damit auf sich?«
»Sieh dich doch nur mal um in der Bude. Geld regiert die Welt, auch wenn man tot ist.«
»Wie ist die Familie denn zu ihrem Geld gekommen?«
»Bernard Ackerman war Investmentbanker im Ruhestand. Das Haus ist seit zwei Generationen im Besitz der Familie. Große Philanthropen. Gibt wohl keine Wohltätigkeitsorganisation, die sie nicht unterstützt haben.«
»Wie ist das Ganze abgelaufen?«
»Wie wär's, wenn ich dich einfach mal herumführe?« Er winkte sie in das Zimmer, aus dem er gerade gekommen war. »Dann kannst du mir sagen, was du davon hältst.«
Nicht, dass Darren Crowe viel Wert auf ihre Meinung gelegt hätte. In ihrer ersten Zeit beim Morddezernat waren sie oft heftig aneinandergeraten, und er hatte aus seiner Verachtung keinen Hehl gemacht. Immer noch nahm sie Spuren davon in seinem Lachen, im Ton seiner Stimme wahr. Was immer sie sich in seinen Augen an Respekt erarbeitet hatte, konnte jederzeit wieder infrage gestellt werden, und hier wartete schon die nächste Bewährungsprobe auf sie.
Sie folgte ihm durch einen Salon, dessen sechs Meter hohe Decke kunstvoll mit Putten und Weinranken bemalt und mit Blattgold-Rosetten verziert war. Doch sie hatte kaum Gelegenheit, die Decke oder die Ölgemälde an der Wand zu bewundern, denn Crowe ging gleich weiter in die Bibliothek, wo Jane Lieutenant Marquette und Dr. Maura Isles entdeckte. An diesem warmen Junitag trug Maura eine pfirsichfarbene Bluse, eine ungewöhnlich fröhliche Farbe für eine Frau, die sonst winterliches Schwarz und Grau bevorzugte. Mit ihrem eleganten geometrischen Haarschnitt und ihren feinen Zügen sah Maura aus wie eine Frau, die tatsächlich in einer Stadtvilla wie dieser wohnen könnte, umgeben von Ölgemälden und Perserteppichen.
Rings um sie herum standen Bücher in Mahagoniregalen, die bis zur Decke reichten. Ein paar der Bände waren auf den Boden gefallen, wo ein silberhaariger Mann mit dem Gesicht nach unten lag. Ein Arm lehnte ausgestreckt am Regal, so, als habe das Opfer noch im Sterben nach einem Buch gegriffen. Der Mann war mit einem Pyjama und Hausschuhen bekleidet. Die Kugel hatte seine Hand und seine Stirn durchschlagen, und im Regal über der Leiche waren die Ledereinbände mit einem strahlenförmigen Muster von Blutströpfchen überzogen. Er hat die Hand gehoben, um die Kugel abzuwehren, dachte Jane. Er hat es kommen sehen. Er hat gewusst, dass er sterben würde.
»Meine Schätzung des Todeszeitpunkts stimmt mit dem überein, was der Zeuge Ihnen gesagt hat«, sagte Maura zu Marquette.
»Also in den frühen Morgenstunden. Irgendwann nach Mitternacht.«
»Ja.«
Jane beugte sich über die Leiche und musterte die Eintrittswunde. »Kaliber 0.38?«
»Oder eventuell .357«, sagte Maura.
»Das wisst ihr nicht? Es gibt keine Patronenhülsen?«
»Nicht eine einzige im ganzen Haus.«
Jane sah überrascht auf. »Wow, was für ein ordentlicher Mörder. Nimmt seinen Müll gleich mit.«
»Ordentlich in mehrerlei Hinsicht«, entgegnete Maura, während ihr Blick nachdenklich auf dem toten Bernard Ackerman ruhte. »Der Täter ist schnell und effizient vorgegangen. Mit einem Minimum an Unordnung. Genau wie oben.«
Oben, dachte Jane. Die Kinder. »Die anderen Familienmitglieder «, sagte sie und klang dabei gefasster, als sie sich fühlte, »sind die zur gleichen Zeit gestorben wie Mr. Acker- man? Oder gab es da eine Verzögerung?«
»Meine Schätzung ist nur ein Näherungswert. Um Genaueres sagen zu können, brauchen wir eine bessere Zeugenaussage. «
»Die Detective Rizzoli uns besorgen wird«, sagte Crowe.
»Woher wollt ihr wissen, dass ich mehr aus dem Jungen herausbekomme?«, entgegnete Jane. »Ich kann auch keine Wunder wirken.«
»Wir zählen auf dich, weil wir bis jetzt kaum etwas in der Hand haben. Nur ein paar Fingerabdrücke von der Klinke der Küchentür. Keine Hinweise auf einen Einbruch. Und die Alarmanlage war ausgeschaltet.«
»Ausgeschaltet?« Jane sah auf die Leiche hinunter. »Klingt so, als hätte Mr. Ackerman seinen Mörder selbst ins Haus gelassen.«
»Oder vielleicht hatte er einfach nur vergessen, sie einzuschalten. Dann hat er ein Geräusch gehört und ist nach unten geeilt, um nachzusehen.«
»Vielleicht ein Raubüberfall? Fehlt irgendetwas?«
»Mrs. Ackermans Schmuckschatulle oben im Schlafzimmer hat er offenbar nicht angerührt«, antwortete Crowe. »Seine Geldbörse und ihre Handtasche liegen noch auf der Kommode.«
»Der Mörder war auch in ihrem Schlafzimmer?«
»O ja. Er war in ihrem Schlafzimmer. Er war in allen Schlafzimmern.« Sie hörte den unheilvollen Unterton in Crowes Stimme und wusste, dass das, was sie oben erwartete, weit schlimmer war als diese blutbespritzte Bibliothek.
Maura sagte leise: »Ich kann mit dir nach oben gehen, Jane.«
Jane folgte ihr zurück in die Eingangshalle. Beide sprachen kein Wort, als ob sie diese bedrückende Pflicht am besten schweigend hinter sich bringen könnten. Während sie die Prunktreppe hinaufstiegen, entdeckte Jane Kunstschätze, wohin sie auch schaute. Eine antike Uhr. Ein Gemälde, das eine Frau in Rot zeigte. Details, die sie automatisch registrierte, während sie sich innerlich schon auf das gefasst machte, was sie in den oberen Stockwerken erwartete. In den Schlafzimmern.
Oben angekommen, wandte Maura sich nach rechts und ging zu dem Zimmer am Ende des Flurs. Durch die offene Tür konnte Jane ihren Partner Detective Barry Frost erkennen, dessen Hände in lila Latexhandschuhen steckten. Er hatte die Ellbogen fest angelegt, eine Haltung, die jeder Polizist an einem Tatort instinktiv einnimmt, um Kreuzkontamination zu vermeiden. Er entdeckte Jane und schüttelte betrübt den Kopf, mit einem Blick, der sagte: Ich wäre an diesem wunderschönen Tag auch viel lieber woanders.
Jane trat ins Zimmer und war im ersten Moment vom Sonnenlicht geblendet, das durch die deckenhohen Fenster einfiel. In diesem Schlafzimmer waren Vorhänge überflüssig, denn die Fenster gingen auf einen ummauerten Garten, wo die Blätter eines Fächerahorns in sattem Burgunderrot leuchteten und die Rosen voll erblüht waren. Aber es war die Leiche der Frau, die Janes Blick auf sich zog. Cecilia Ackerman lag mit einem beigefarbenen Nachthemd bekleidet auf dem Rücken im Bett, die Bettdecke bis zu den Schultern hochgezogen. Mit ihrer modischen blonden Strähnchenfrisur wirkte sie jünger als ihre achtundvierzig Jahre. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Züge auf verstörende Weise entspannt. Die Kugel war unmittelbar oberhalb ihrer linken Augenbraue eingetreten, und der Schmauchring auf ihrer Haut verriet, dass es ein aufgesetzter Schuss gewesen war. Der Mörder hatte ihr die Mündung auf die Stirn gesetzt und abgedrückt. Du hast geschlafen, als der Schuss fiel, dachte Jane. Du hast nicht geschrien, hast dich nicht gewehrt, du hast keine Bedrohung dargestellt. Und doch hat der Eindringling dieses Zimmer betreten, ist zum Bett hinübergegangen und hat dir eine Kugel in den Kopf gejagt.
»Das ist noch nicht das Schlimmste«, sagte Frost.
Sie sah ihren Kollegen an, dessen Züge im harten Morgenlicht eingefallen wirkten. Es war mehr als Erschöpfung, was sie in seinen Augen las; was immer er gesehen hatte, es hatte ihn zutiefst erschüttert.
»Die Kinderzimmer sind im zweiten Stock«, sagte Maura in so sachlichem Ton, als wäre sie eine Maklerin, die den Grundriss der Villa erläuterte. Über ihnen hörte Jane knarrende Schritte - die anderen Mitglieder des Teams, die in den Zimmern über ihnen umhergingen -, und sie musste plötzlich daran denken, wie sie einmal auf der Highschool am Halloween-Gruselhaus der Schule mitgearbeitet hatte. Sie hatten literweise Kunstblut verschüttet und gruselige Horrorszenen arrangiert, weit gruseliger als das, was sie in diesem Schlafzimmer mit dem scheinbar friedlich schlummernden Opfer sah. Im wirklichen Leben brauchte das Grauen keine blutrünstige Inszenierung.
Maura verließ das Zimmer und gab damit zu verstehen, dass sie alles gesehen hatten, was es hier zu sehen gab. Jane folgte ihr zurück ins Treppenhaus. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Glaskuppel, und man hätte meinen können, sie stiegen eine Treppe zum Himmel empor, doch diese Stufen führten an einen ganz anderen Ort. An einen Ort, um den Jane am liebsten einen großen Bogen gemacht hätte. Mauras ungewohnt sommerliche Bluse wirkte so krass fehl am Platz wie ein pinkfarbenes Kostüm bei einer Beerdigung. Es war nur ein unbedeutendes Detail, und doch störte es Jane, ja es ärgerte sie regelrecht, dass Maura, wenn sie schon einmal solche fröhlichen Farben trug, sich ausgerechnet diesen Morgen dafür ausgesucht hatte, an dem drei Kinder gestorben waren.
Sie erreichten den zweiten Stock, wo Maura elegant zur Seite auswich und ihren Schuh mit dem Papierüberzieher über ein Hindernis hob, das am Treppenabsatz lag. Erst als Jane die oberste Stufe erreichte, sah sie die herzzerreißend kleine Gestalt, die mit einem Plastiklaken verhüllt war. Maura ging in die Hocke und schlug eine Ecke des Tuchs zurück.
Das Mädchen lag auf der Seite, in Embryonalstellung zusammengekauert, als ob sie sich in die dunkel erinnerte Geborgenheit des Mutterleibs zurückziehen wollte. Ihre Haut war kaffeebraun, ihre schwarzen Haare zu einer eng anliegenden Flechtfrisur gebändigt und mit bunten Perlen geschmückt. Anders als die Opfer, die Jane bisher gesehen hatte, war dieses Kind keine Weiße, sondern Afroamerikanerin.
»Opfer Nummer drei ist Kimmie Ackerman, acht Jahre alt«, erklärte Maura mit tonloser, sachlicher Stimme, einer Stimme, die Jane mehr und mehr gegen den Strich ging, je länger sie auf dieses Kind auf dem Treppenabsatz hinunterstarrte. Fast noch ein Baby. Ein Baby in einem rosafarbenen Schlafanzug mit kleinen tanzenden Ponys darauf. Auf dem Boden neben der Leiche war der Abdruck eines schlanken Fußes zu erkennen. Jemand war barfuß in das Blut dieses Kindes getreten, hatte diesen Abdruck bei der Flucht aus dem Haus hinterlassen. Er war zu klein, um von einem Mann zu stammen. Das muss Teddy gewesen sein.
»Die Kugel hat das Hinterhauptsbein des Mädchens durchschlagen, ist aber nicht wieder ausgetreten. Der Einschusswinkel lässt auf einen Schützen schließen, der größer war als sie und hinter dem Opfer stand.«
»Sie hat sich bewegt«, sagte Jane leise. »Sie wollte davonlaufen. «
»Nach der Lage des Leichnams zu schließen, ist sie wohl in Richtung eines der Schlafzimmer hier im zweiten Stock geflüchtet, als der Schuss sie traf.«
»In den Hinterkopf.«
»Ja.«
»Verdammt, wer tut denn so was? Auf ein kleines Kind schießen?«
Maura deckte die Leiche wieder zu und richtete sich auf. »Sie hat vielleicht unten etwas beobachtet. Vielleicht hat sie das Gesicht des Täters gesehen. Das wäre ein Motiv.«
»Komm mir jetzt nicht mit deiner Logik. Wer immer das getan hat, war von dem Moment an, als er das Haus betrat, dazu bereit, ein Kind zu töten. Eine ganze Familie auszulöschen.«
»Über das Motiv kann ich nichts sagen.«
»Nur über die Todesart.«
»Es dürfte sich um Mord handeln.«
»Dürfte?«
Maura sah sie fragend an. »Wieso bist du so wütend auf mich?«
»Warum habe ich den Eindruck, dass dich das hier kaltlässt? «
»Du glaubst, es lässt mich kalt? Du glaubst, ich kann dieses Kind anschauen und nicht empfinden, was du empfindest? «
Sie starrten einander eine Weile über die Leiche des Mädchens hinweg an. Wieder einmal wurden sie an die Kluft erinnert, die sich seit Mauras folgenreicher Aussage im Prozess gegen einen Bostoner Polizisten zwischen ihnen aufgetan hatte, eine Aussage, die diesen Polizisten ins Gefängnis gebracht hatte. Auch wenn solche Verstöße gegen den Korpsgeist der Truppe nicht so schnell vergessen wurden, war Jane fest entschlossen, den Bruch in ihrer Freundschaft zu kitten. Aber sich zu entschuldigen fiel ihr schwer, und es waren zu viele Wochen vergangen, in denen der Graben immer tiefer geworden war.
»Es ist nur ...« Jane seufzte. »Ich hasse es, wenn die Opfer Kinder sind. Da möchte ich am liebsten jemanden erwürgen. «
»Da sind wir schon zu zweit.« Obwohl Maura mit sanfter Stimme sprach, sah Jane die eiserne Entschlossenheit in ihren Augen aufblitzen. Ja, der Zorn war da, nur besser kaschiert und streng unter Kontrolle gehalten, so, wie Maura fast alles in ihrem Leben unter Kontrolle zu halten versuchte.
»Rizzoli«, rief Detective Thomas Moore ihr von einer Tür aus zu. Wie Frost wirkte er niedergeschlagen, als ob er durch die Strapazen dieses Tages um zehn Jahre gealtert wäre. »Hast du schon mit dem Jungen gesprochen?«
»Noch nicht. Ich wollte mir erst anschauen, womit wir es zu tun haben.«
»Ich habe eine Stunde mit ihm verbracht. Er hat kaum ein Wort mit mir gesprochen. Mrs. Lyman, die Nachbarin, hat gesagt, als er heute früh um acht an ihrer Haustür auftauchte, sei er wie erstarrt gewesen.«
»Hört sich an, als ob er eher einen Psychologen braucht.«
»Wir werden Dr. Zucker hinzuziehen müssen, und die Frau vom Jugendamt ist auch schon unterwegs. Aber ich dachte, mit dir würde Teddy vielleicht reden. Du bist schließlich eine Mutter.«
»Was hat der Junge gesehen? Wissen wir das?«
Moore schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur, dass er nicht gesehen hat, was in diesem Zimmer ist.«
Bei dieser Warnung fühlten sich Janes Finger in den Latexhandschuhen plötzlich eiskalt an. Moore war ein großer Mann, und seine Schultern versperrten ihr die Sicht, als ob er sie vor dem Anblick schützen wollte, der sie in diesem Schlafzimmer erwartete. Schweigend trat er zur Seite, um sie durchzulassen.
Zwei Mitarbeiterinnen der Spurensicherung kauerten in einer Ecke; sie blickten auf, als Jane eintrat. Beide waren noch jung - Teil jener Welle von weiblichen Kriminaltechnikern, die inzwischen die Branche dominierten. Beide sahen aus, als wären sie noch nicht alt genug, um selbst Kinder zu haben - um zu wissen, wie es war, voller Sorge eine fieberglühende Wange zu küssen oder beim Anblick eines offenen Fensters oder eines leeren Bettchens in Panik zu geraten. Die Mutterschaft brachte alle Arten von Albträumen mit sich, und in diesem Zimmer war einer dieser Albträume Wirklichkeit geworden.
»Wir glauben, dass es sich bei diesen Opfern um die Töchter der Ackermans handelt, die zehnjährige Cassandra und die neunjährige Sarah. Beide adoptiert«, erklärte Maura. »Da sie nicht in ihren Betten liegen, muss irgendetwas sie geweckt haben.«
»Schüsse?«, fragte Jane leise.
»In der Nachbarschaft hat niemand einen Knall gehört«, entgegnete Moore. »Er muss einen Schalldämpfer benutzt haben.«
»Aber irgendetwas hat diese Mädchen aufgeschreckt«, sagte Maura. »Etwas, das sie veranlasst hat, aus ihren Betten aufzustehen.«
Jane stand noch immer in der Tür. Einen Moment lang sagte niemand etwas, und sie begriff, dass die anderen nur auf sie warteten. Sie sollte sich die Leichen ansehen, sollte ihren Job als Polizistin machen. Genau das, wogegen sie sich mit allen Fasern sträubte. Sie zwang sich, auf die zusammengesunkenen Gestalten zuzugehen, und ging in die Hocke. Sie sind Arm in Arm gestorben.
»Nach der Lage der Leichen zu urteilen«, fuhr Maura fort, »scheint Cassandra sich schützend vor ihre jüngere Schwester gestellt zu haben. Zwei der Kugeln haben zunächst Cassandras Körper durchschlagen und anschließend Sarah getroffen. Um auf Nummer sicher zu gehen, hat der Täter dann jedem Mädchen noch ein Mal in den Kopf geschossen. Ihre Kleidung scheint unversehrt, ich kann also keine offensichtlichen Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch feststellen. Das muss ich aber noch durch die Obduktion bestätigen. Sie ist für den späten Nachmittag angesetzt, falls du dabei sein möchtest, Jane.«
»Nein, ich möchte nicht dabei sein. Eigentlich sollte ich heute gar nicht hier sein.« Abrupt machte sie kehrt und marschierte mit knisternden Schuhüberziehern aus dem Zimmer, auf der Flucht vor dem Anblick der beiden im Tod umschlungenen Mädchen. Doch als sie zur Treppe ging, sah sie wieder die Leiche des jüngsten Kindes. Kimmie, acht Jahre alt. Ich kann schauen, wohin ich will, dachte sie, jedes Mal bricht es mir das Herz.
»Jane, ist alles in Ordnung?«, fragte Maura.
»Du meinst, abgesehen davon, dass ich diesen Mistkerl am liebsten in Stücke reißen würde?«
»Mir geht es ganz genauso.«
Dann kannst du es einfach besser verbergen. Jane starrte auf die verhüllte Leiche hinunter. »Ich schaue dieses Kind an«, sagte sie leise, »und ich sehe unwillkürlich mein eigenes. «
»Du bist eine Mutter, deshalb ist das nur natürlich. Hör zu, Crowe und Moore sind sowieso bei der Obduktion dabei. Es ist nicht nötig, dass du auch kommst.« Sie sah auf ihre Uhr. »Es wird noch ein langer Tag. Und ich habe noch nicht mal gepackt.«
»Du besuchst diese Woche Julian im Internat, nicht wahr?«
»Morgen reise ich ab nach Maine, und nichts wird mich davon abhalten. Zwei Wochen mit einem Teenager und seinem Hund. Ich habe keine Ahnung, was mich da erwartet.«
Maura hatte selbst keine Kinder, woher sollte sie es also wissen? Sie und der sechzehnjährige Julian Perkins hatten nichts gemeinsam bis auf die Torturen, die sie im vergangenen Winter zusammen durchgestanden hatten, als sie in der Wildnis von Wyoming ums Überleben gekämpft hatten. Sie verdankte dem Jungen ihr Leben, und nun war sie entschlossen, ihm die Mutter zu sein, die er verloren hatte.
»Mal sehen, was ich dir über halbwüchsige Jungs erzählen kann«, versuchte Jane sich nützlich zu machen. »Meine Brüder hatten stinkige Schuhe. Sie haben bis Mittag geschlafen. Und sie haben ungefähr zwölfmal am Tag gegessen. «
»So ist nun mal der männliche Stoffwechsel in der Pubertät. Dafür können sie nichts.«
»Wow. Du hast ja wirklich die Mutter in dir entdeckt.«
Maura lächelte. »Ist eigentlich ein ganz gutes Gefühl.«
Aber die Mutterfreuden gibt es nicht ohne die Albträume, erinnerte sich Jane, als sie sich von Kimmies Leiche abwandte. Mit jeder Stufe, die sie hinabstieg, wuchs ihre Erleichterung darüber, diesem Haus des Schreckens zu entrinnen. Als sie schließlich wieder ins Freie trat, atmete sie tief durch, als wollte sie den Geruch des Todes aus ihrer Lunge spülen. Die Medienmeute war noch weiter angeschwollen, und die Fernsehkameras säumten die Polizeiabsperrung wie eine Batterie von Rammböcken. Crowe stand ganz vorn im Mittelpunkt - der Hollywooddetective, der sich vor seinem Publikum produzierte. Niemand beachtete Jane, als sie vorbeihuschte und zum Nebenhaus ging.
Ein Streifenbeamter hielt vor der Haustür Wache und sah mit breitem Grinsen zu, wie Crowe seine Show für die Kameras abzog. »Na, was meinen Sie, wer ihn in der Verfilmung spielen wird?«, fragte er. »Ist Brad Pitt hübsch genug? «
»Niemand ist hübsch genug, um Crowe zu spielen«, erwiderte Jane mit einem Schnauben. »Ich muss mit dem Jungen reden. Ist er da drin?«
»Ja, mit Officer Vasquez.«
»Wir warten auch noch auf den Psychologen. Also, wenn Dr. Zucker aufkreuzt, lassen Sie ihn bitte rein.«
»In Ordnung, Ma'am.«
Jane merkte plötzlich, dass sie immer noch die Handschuhe und Überschuhe vom Tatort trug. Sie streifte sie ab, stopfte sie in die Tasche und läutete. Gleich darauf erschien eine attraktive weißhaarige Frau an der Tür.
»Mrs. Lyman?«, sagte Jane. »Ich bin Detective Rizzoli.«
Die Frau nickte und winkte sie herein. »Kommen Sie schnell. Ich will nicht, dass diese schrecklichen Fernsehkameras uns sehen. Es ist eine solche Verletzung der Privatsphäre. «
Jane trat ins Haus, und die Frau machte rasch die Tür hinter ihr zu.
»Man hat Sie mir schon angekündigt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Sie mit Teddy viel weiterkommen werden. Dieser nette Detective Moore war so geduldig mit ihm.«
»Wo ist Teddy?«
»Hinten im Wintergarten. Der arme Junge hat kaum ein Wort mit mir geredet. Heute Morgen stand er plötzlich bei mir vor der Tür - er hatte noch seinen Pyjama an. Ich habe ihn nur angesehen und sofort gewusst, dass irgendetwas Schreckliches passiert war.« Sie drehte sich um. »Hier entlang, bitte.«
Jane folgte Mrs. Lyman in die Eingangshalle und blickte zu einem Treppenhaus auf, das wie ein Spiegelbild der Ackerman-Villa wirkte. Und auch dieses Haus war mit ebenso erlesenen wie teuer aussehenden Kunstobjekten geschmückt.
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte Jane.
© 2013 Limes Verlag, München
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Autoren-Porträt von Tess Gerritsen
Die chinesischstämmige Tess Gerritsen arbeitete erfolgreich als Ärztin, bevor sie sich ihrer Jugendleidenschaft besann und anfing, Romane zu schreiben. Kaum jemand vereint seit vielen Jahren so gekonnt wie sie erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Tess Gerritsen lebt mit ihrer Familie in Maine.Andreas Jäger ist nach dem Studium der Ethnologie, Politikwissenschaft, Soziologie, Anglistik und Germanistik in Freiburg, Saarbrücken, Sheffield und Brighton und einer Ausbildung als Verlagskaufmann seit 2000 als freier Übersetzer aus dem Englischen und Französischen tätig. Seine Promotion verfasste Andreas Jäger zur englischen Lyrik
Bibliographische Angaben
- Autor: Tess Gerritsen
- 2013, 416 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Jäger, Andreas
- Übersetzer: Andreas Jäger
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 380902578X
- ISBN-13: 9783809025788
Rezension zu „Abendruh / Jane Rizzoli Bd.10 “
"Bis zur letzten Seite ein mitreißender Plot. Durchdacht, routiniert, einfallsreich. Etwas ganz Besonderes." Ingrid Müller-Münch, WDR 5 "Scala"
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