Albtraum Sicherheit
Interessen und Geschäfte hinter der Sicherheitspolitik
Eine eindrückliche Recherche und ein Warnruf zum Schutz unserer Demokratie
Nach den dramatischen Anschlägen des 11. Septembers 2001 wurde ein internationaler "Antiterrorkampf" ausgerufen. Damit einher ging die Entwicklung und Verabschiedung zahlreicher...
Nach den dramatischen Anschlägen des 11. Septembers 2001 wurde ein internationaler "Antiterrorkampf" ausgerufen. Damit einher ging die Entwicklung und Verabschiedung zahlreicher...
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Produktinformationen zu „Albtraum Sicherheit “
Klappentext zu „Albtraum Sicherheit “
Eine eindrückliche Recherche und ein Warnruf zum Schutz unserer DemokratieNach den dramatischen Anschlägen des 11. Septembers 2001 wurde ein internationaler "Antiterrorkampf" ausgerufen. Damit einher ging die Entwicklung und Verabschiedung zahlreicher Antiterrorgesetze.
Die Autorin und Dokumentarfilmerin Marita Neher recherchierte, was die Antiterrorgesetzen und ihre Folgen wirklich für uns und unsere Gesellschaft bedeuten und zeigt eindrücklich anhand verschiedener Fälle, wie ganz gewöhnliche Bürger in das Netz des Antiterrorkampfes gerieten, die entweder völlig unschuldig waren oder sich nur relativ geringer Vergehen schuldig gemacht hatten. Ein beunruhigender Einblick in eine Realität, in der im Namen der Sicherheit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sehenden Auges ausgehöhlt werden.
»Diejenigen, die bereit sind, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um ein wenig kurzfristige Sicherheit zu erlagen, verdienen weder freiheit noch Sicherheit.«
Benjamin Franklin
Lese-Probe zu „Albtraum Sicherheit “
Albtraum Sicherheit von Marita NeherEinleitung
Die Doppelgefahr des Terrors
Diejenigen, die bereit sind, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um ein wenig kurzfristige Sicherheit zu erlangen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.
Benjamin Franklin (1706-1790)
Der Moment, als ich im Fernsehen sah, wie Flugzeuge die Twin Towers des World Trade Centers zerstörten, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeschrieben. Ich kam nach Hause, mein Mann schaute Nachrichten, ich setzte mich neben ihn, die Einkaufstüten noch in der Hand, und wollte meinen Augen nicht trauen. Ein erstes, ein zweites Flugzeug durchbricht die Glaswand eines Wolkenkratzers. Eine, zwei, drei Sekunden später stürzt der erste Turm in sich zusammen, dann der zweite. Bis heute werden diese Bilder, die etwas bis dahin Unvorstellbares zeigen, immer wieder gesendet. Etwas Schreckliches und Grausames, das leicht zu gelingen schien: die höchsten Türme New Yorks an einem Morgen in Schutt und Asche gelegt. Die Menschen - staubgepudert, mit angstverzerrten Gesichtern, in Panik, Menschen, die sich verzweifelt aus dem 20. Stockwerk stürzen. Wer würde sich nicht an diese Bilder erinnern?
... mehr
Knapp 3000 Leben wurden am 11. September 2001 (9/11) ausgelöscht. Neun Tage später präsentierte der US-amerikanische Präsident George W. Bush die Täter und rief zum »Krieg gegen den Terror auf«. Militante Islamisten, wie etwa die Mitglieder von alQaida unter Führung Osama bin Ladens, die unsere Religionsfreiheit, unser Recht auf freie Meinungsäußerung, unser freies Wahlrecht und Versammlungsrecht sowie die Freiheit, kontroverse Meinungen zu vertreten, hassen würden, hätten der westlichen Welt den Kampf angesagt. Dieser Kampf werde nun angenommen, und zwar weltweit und mit aller gebotenen Härte. Die Mehrheit der schockierten Öffentlichkeit dürfte mit dieser Kampfansage einverstanden gewesen sein.
Drei Jahre später verübten Islamisten auch Terrorattentate in Europa: 2004 in Madrid und 2005 in London. Auch in Deutschland konkretisierte sich die Gefahr. 2007 wurden die sogenannten Sauerlandbomber gefasst, und Terrordrohungen gegenüber dem Oktoberfest in München oder dem Berliner Reichstag verstärkten die Angst der Bevölkerung, Opfer eines Anschlags zu werden.
Die Terroristen wissen das. Angst zu verbreiten ist ihre stärkste Waffe. Gelingt es ihnen, uns so zu ängstigen, dass wir »Sicherheitsmaßnahmen « ergreifen und Gesetze erlassen, die unseren Rechtsstaat schwächen und unsere eigene Freiheit beschneiden, haben sie ihr Ziel erreicht: zu zerstören, was »den Westen« in ihren Augen brandmarkt und in unseren Augen auszeichnet. Freiheit und Selbstbestimmung.
Wie aber ist der Terrorbedrohung zu begegnen? Die Politik steht vor der schweren Aufgabe, sowohl Gefahren von uns abzuwenden als auch das richtige Maß zu finden zwischen Sicherheit und Freiheit. Vor diesem Hintergrund muss man die Legislativwut der deutschen Politiker verstehen, die seit 2001 rund 90 Gesetze mit konkretem Terrorbezug initiiert haben. Dem Staat geht es darum, seine Bürger mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vor Terrorangriffen zu schützen. Deshalb versucht er, potentielle Terroristen möglichst früh zu erkennen, damit sie ihre mörderischen Pläne gar nicht erst in die Tat umsetzen können. Und Früherkennung heißt nichts anderes als Überwachung, und zwar einer möglichst großen Anzahl von Menschen. Ein sogenannter Überwachungsstaat dürfe dabei allerdings nicht entstehen, denn das sei mit unserem politischen Selbstverständnis nicht vereinbar - ein Zielkonflikt, der die Diskussion um die Sicherheit in Deutschland und Europa so überaus kompliziert macht.
Sicherheit ist ein komplexer und gleichzeitig sehr vager Begriff, weil er Wertvorstellungen beinhaltet und individuell ganz unterschiedlich ausgelegt werden kann. Was dem einen sicher erscheint, macht dem anderen Angst. Entsprechend kontrovers wird darüber debattiert, was für die Bürger gefährlich werden und wie man diese Gefahr abwenden kann. Dem Staat und seinen Organen fällt dabei die Aufgabe zu, in letzter Instanz zu bestimmen, mit welchen Inhalten der Begriff Sicherheit gefüllt wird und mit welchen Strategien diese Inhalte umgesetzt werden sollen. Ebenso entscheidet er darüber, welche dem angestrebten Sicherheitsniveau möglicherweise entgegenstehenden Werte vernachlässigbar sind, wie zum Beispiel bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Und dies ist der neuralgische Punkt. Zwar werden die Politiker nicht müde, zu betonen, wie wichtig ihnen die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist. Gleichzeitig stellen sie durch die Anti-Terror-Gesetze bürgerliche Freiheiten und Rechte zur Disposition, verschieben die Gewichte also in Richtung Sicherheit.
In diesem Buch gehe ich der Frage nach, wie hoch der Preis für eine vermeintlich verbesserte Sicherheit ist. Diese Frage stand bereits im Mittelpunkt der Fernseh-Dokumentation »Freiheit oder Sicherheit«, die ich zusammen mit Nils Bökamp zum 10. Jahrestag von 9/11 für den Sender ARTE realisiert habe. Die Recherche für den Film führte mich in die mir bis dahin fremde Welt der deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden. So war es für mich anfangs nicht leicht zu verstehen, welche Absichten sich hinter der offiziellen Sprache von Politik, Polizei und Geheimdiensten verbergen, ebenso wenig konnte ich erkennen, dass Terrormeldungen, Verhaftungen und neue Gesetze einem wiederkehrenden Rhythmus folgen. Ich war schockiert darüber, wie vieles ich täglich überlese, überhöre, übersehe, wie sich mein Denken geändert hat seit 9/11 und wie sehr manche Floskeln auch für mich zu einer falschen Selbstverständlichkeit wurden, zum Beispiel: »Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten «, oder »Lieber einen zu viel verhaften als einen zu wenig «. Erst im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Thema wurde mir klar, wie bequem ich es mir in unserer Demokratie gemacht hatte und wie wichtig es aber stattdessen ist, dass ich selber etwas zum Erhalt dieser Demokratie beitrage.
In diesem Buch möchte ich meinen Recherche- und Erkenntnisweg nachvollziehbar machen. Zunächst einmal ging es mir schlicht darum, herauszufinden, mit welchen Maßnahmen und Strategien Deutschland auf 9/11 reagiert hat. Mir war es wichtig, Gründe und Motivation des Staates für seine Sicherheitspolitik kennenzulernen, zu verstehen, wie und wodurch die Sicherheit verbessert werden soll, und zu erkennen, wen die Behörden für gefährlich und verdächtig halten, islamistische Anschläge begehen zu wollen.
Um all dies in Erfahrung zu bringen, vereinbarte ich zahlreiche Interviews. Meine Gespräche mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, mit dem Präsidenten von Europol, Rob Wainwright, mit Vertretern des Innenministeriums und des Verfassungsschutzes gaben interessante Einblicke in die offiziellen Anti-Terror-Maßnahmen, ließen aber zugleich einen ersten Zweifel wachsen, ob das öffentliche Reden der Verantwortlichen mit ihrem Handeln übereinstimmt. Ein großes Glück war es in dieser Hinsicht, die bayrische Rechtsanwältin und Verfassungsrichterin Angelika Lex für ein Interview zu gewinnen, die solchen Zweifel gewissermaßen professionell hegt. Sie vertritt sowohl den Staat, reflektiert aber auch mit kritischem Blick die Arbeit des Verfassungsschutzes.
Auf meiner weiteren Drehreise durch Deutschland, England und Frankreich lernte ich Menschen kennen, die zur Zielscheibe der Terrorfahnder wurden. Mein bis dahin großes Vertrauen in den Staat, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, konnte ich danach nur noch als ziemlich naiv bewerten. Mehr als einmal mochte ich kaum glauben, dass sich die von Terrorverdächtigen erlebten Geschichten in Europa zugetragen hatten. Zwar war mir klar, dass man schon mal versehentlich den »Falschen« verhaften kann. Ich glaubte aber fest daran, dass ein Mensch so lange als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Doch dieses Prinzip gilt offenbar nur für »normale« Kriminelle, für potentielle Terroristen gilt es nicht. Unter Umständen muss ein Terrorverdächtiger Wochen, Monate, jahrelange Einzelhaft erdulden, bis ihm der Prozess gemacht wird. Seine Persönlichkeit, sein Berufs- und Familienleben und seine Ehre sind ruiniert.
Ist das der Preis für unsere, für meine Sicherheit? Ich habe schon in vielen Ländern Dokumentationen gedreht, in denen Sicherheit und Freiheit noch in weiter Ferne sind: Myanmar, Afghanistan, Kongo, Guatemala. In solchen Ländern ist jeder Tag gefährlich, Freiheit und Sicherheit gibt es nicht. Die Menschen wissen buchstäblich nicht, wovon sie leben oder gar eine Familie ernähren sollen, wie sie bezahlte Arbeit bekommen, wie sie sich gegen Willkür schützen können. Immer wieder war ich glücklich, wenn ich nach Deutschland zurückkehrte. Was für ein Glück, hier geboren zu sein! Wo man sagen kann, was man denkt. Wo man denken kann, was man will. Wo man glauben kann, was man für richtig hält. Wo man leben kann, wie man gerade möchte. Solange man niemandem Schaden dabei zufügt. Dachte ich. Aber genau das hat sich seit 9/11 geändert.
Seit die Regierung den Anti-Terror-Kampf ausgerufen hat, ist die Freiheit auch hier ein bedrohtes Gut. Und das kann auch gar nicht anders sein, denkt man zunächst. Wer Gefahren von uns abwenden will, muss sie im Vorfeld erkennen und präventiv verhüten. Deshalb sollen durch eine umfassende Überwachung potentielle Terroristen möglichst früh ausfindig und unschädlich gemacht werden. Um dieser Arbeit möglichst breitflächig und ungehindert nachgehen zu können, wurden nicht nur die polizeilichen Befugnisse erweitert. Zum ersten Mal seit der Zeit des Nationalsozialismus dürfen in Deutschland Polizei und Geheimdienst wieder zusammenarbeiten. Dafür wurde das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin Treptow geschaffen, dessen 229 Beschäftigte sich einzig und allein mit dem islamistischen Terrorismus beschäftigen.
Aber was folgt aus dieser »gestärkten« Gefahrenabwehr? Wem nützen diese Maßnahmen, wem schaden sie, und welche bürgerlichen Freiheiten werden davon möglicherweise beeinträchtigt? Diesen Fragen bin ich gezielt nachgegangen. Die Informationen, die ich hierbei zusammentrug, wurden über die Monate immer absurder und unglaubwürdiger. Ich lernte Mitarbeiter der Polizei kennen, die nach Dienstschluss freiwillig Moscheen ausspionieren, Asylanwärter, denen eine Aufenthaltsgenehmigung versprochen wird, wenn sie Hinweise auf muslimische Terroristen geben, oder Muslime, die sich als »Heilige Krieger« verdächtig machen, weil sie sich die Achseln rasieren - so stand das in ihren Akten.
Aus dieser Schattenwelt will ich in diesem Buch erzählen. Ich sprach mit Verdächtigen, mit potentiellen Terroristen, mit ehemaligen Inhaftierten und mit ihren Rechtsanwälten, aber auch mit Polizeikommissaren, Verfassungsschützern und Wissenschaftlern. Es gab offizielle Informationen, die jeder kennt, etwa weil sie in der Zeitung stehen, und die dazu dienen, die Bevölkerung zu beruhigen oder aufzuschrecken. Und es gab andere Informationen, hinter vorgehaltener Hand vorgetragen, in der Zigarettenpause zwischen den großen Sitzungen der EU-Innenminister oder diskret hinter verschlossenen Türen. Ich kann leider nicht alle Informanten namentlich nennen, zu groß ist ihre berechtigte Sorge, dass sie mit unangenehmen Konsequenzen zu rechnen hätten. Aber diejenigen, von denen ich hier berichte, sind weder Ausnahme noch Einzelfälle. Meine Recherchen zeigen, dass jeder in die Mühlen der Sicherheitsbehörden geraten kann.
Das Ausmaß der präventiven Polizei- und Geheimdienstarbeit wollte ich lange Zeit nicht wahrhaben. Ich befürchtete, zur Verschwörungstheoretikerin abgestempelt zu werden, zur Verfassungsfeindin. Wenn mein Computer nicht funktionierte, hatte ich schon überlegt, ob das Bundeskriminalamt an meinen Dateien interessiert sein könnte. Und obwohl die Daten meiner Meinung nach nichts enthielten, was mich verdächtig gemacht hätte, war ich mir dessen plötzlich nicht mehr sicher.
Lange verdrängte ich den Gedanken daran, denn ich tat ja nichts Verbotenes, sondern wollte nur herausfinden, was sich in den letzten zehn Jahren verändert hat und wie es dazu kommen konnte, dass heute Menschen verhaftet werden, wenn sie sich auf den »falschen« Webseiten bewegen, mit den »falschen« Menschen Verabredungen treffen oder sich mit »falschen« Themen beschäftigen. Das alles dürfte doch keine Verhaftung rechtfertigen. Immerhin gehört die Unschuldsvermutung zu den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz verankert und ein Menschenrecht. Doch ich musste erkennen: Der Anti-Terror-Kampf kassiert die Unschuldsvermutung. Ein Verdächtiger - also potentiell jeder - gilt so lange als schuldig, bis er selbst seine Unschuld zweifelsfrei bewiesen hat. Ist das der Preis, den wir für Sicherheit bezahlen wollen?
Dass Menschenrechte im Anti-Terror-Kampf außer Kraft gesetzt werden, war für mich eine schockierende Erkenntnis. Um Sicherheit zu garantieren, dehnt der Staat seine Gesetze bis an den Rand des Zulässigen aus und geht im Notfall auch darüber hinaus. Wo die Grenzen der Macht verlaufen, welche Freiheiten in welchem Umfang ausgeübt werden dürfen, liegt im Ermessen der Behörden - immer mit Blick auf die Sicherheit der Bürger.
Dass Menschenrechte unbedingt einzuhalten sind und Folter in das Reich von Diktaturen und »Schurkenstaaten« gehört, war für mich bis dahin selbstverständlich. Dass Länder wie die USA in Demokratien foltern lassen oder selber foltern, dass Menschen eingeschüchtert werden, zu Geständnissen gezwungen, das waren für mich Gräuelmärchen, die sich Extremisten ausgedacht hatten, um das demokratische System zu diskreditieren.1 Für alle nach 1945 geborenen Deutschen sind Sicherheit und bürgerliche Freiheiten eine Selbstverständlichkeit. Etwas, das zu ihrem Leben dazugehört, wie ihre Arme oder Beine zu ihrem Körper. Etwas, das einfach da ist und nicht verschwinden kann.
Aber es kann verschwinden, und es verschwindet schleichend - wenn wir nichts dagegen tun. Wenn wir zulassen, dass blinde Flecken im Sicherheitssystem zu Fehldiagnosen führen, dass sogar der Tod von Unschuldigen in Kauf genommen wird - wie zum Beispiel in London; dort wurde ein Brasilianer aus Versehen erschossen, weil die Polizei ihn für einen Terroristen hielt. Wenn wir zulassen, dass Gesetze zur Datenerhebung zu einer Einschränkung der bürgerlichen Rechte, etwa dem Grundrecht auf Privatsphäre, führen.
Die Gefahr, die von solchen legalisierten Rechtsverletzungen ausgeht, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn die gestiegenen sicherheitspolitischen Bedürfnisse rufen selbstverständlich auch ökonomische Interessen auf den Plan. Um effektivere Maßnahmen im Bereich des Datenaustauschs und der Überwachung zu ermöglichen, werden nicht nur die militärischen und geheimdienstlichen Mittel per Gesetz ausgeweitet. Es müssen auch neue Techniken ersonnen und hergestellt werden. Ungezählte Firmen und Wissenschaftler sind inzwischen einträglich damit beschäftigt, sogenannte innovative Sicherheitslösungen zu entwickeln. Die Sicherheitsbranche hat Hochkonjunktur.
Tatsächlich gibt es Wissenschaftler in der EU, die sich hauptberuflich damit beschäftigen, fiktive Terrorszenarien zu entwerfen - wie zum Beispiel im Rahmen des Projektes »CAST«, bei dem Angriffe mit nuklearen, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen simuliert werden. Von 2007 bis 2013 werden von der EU rund 1,4 Milliarden Euro für die Forschungsförderung im Themenbereich Sicherheit bereitgestellt. Gerade in Berlin-Brandenburg ist man glücklich, vom Sicherheitsboom profitieren zu können. In dem strukturschwachen Gebiet ist ein dichtes Netz an wissenschaftlichen und kommerziellen Unternehmen entstanden. 250 Firmen mit Sicherheitslösungen haben sich laut einer Studie der Berliner Senatsverwaltung in der Hauptstadtregion angesiedelt. In ihren sicherheitsrelevanten Bereichen beschäftigen sie rund 27 000 Mitarbeiter und erwirtschafteten damit schon 2009 einen jährlichen Umsatz von 3 Milliarden Euro.2 Die Hälfte dieser Unternehmen ist erst in den letzten zehn Jahren gegründet worden, das Umsatzwachstum liegt seit 2003 bei 18 Prozent pro Jahr. Für manche hat sich der Terror bezahlt gemacht.
Am Anfang der Recherche hatte ich einen Wissensstand, wie ihn jeder Deutsche hat, der regelmäßig die Nachrichten sieht und Zeitungen liest. Am Ende meiner Recherche wusste ich, dass dies nicht ausreicht, um sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Es ist mir deshalb wichtig, meine Erfahrungen und Informationen öffentlich zu machen. Es ist mir wichtig, weil ich in Sorge darüber bin, wie sich unser Land verändert, und weil ich diesen schleichenden Prozess sichtbar machen möchte.
Ich gehöre keiner Partei an, keiner Organisation, keinem Verein, keiner Institution, keiner Gruppierung. Ich spreche für niemanden - außer für mich. Und für mich sind Menschenrechte und Demokratie unersetzlich für eine gerechte und würdige Welt.
Aus tiefstem Herzen befürworte ich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ich halte Regierungen durchaus für sinnvoll. Aber ich halte es auch für wichtig, Missstände anzuklagen. Eine Demokratie muss eine Vielfalt an Meinungen aushalten können. Nur eine tolerante und offene Gesellschaft wird zukunftsfähig sein.
Der militante Islam ist mir zuwider. Ich bin froh, dass ich hier frei und sicher leben kann. Und ich möchte, dass es so bleibt. Auch deshalb habe ich etwas dagegen, dass in allen europäischen Ländern eine zunehmende Intoleranz gegenüber Muslimen wächst. Ganze Gemeinden werden des islamistischen Terrorismus verdächtigt - und damit erst an einen Rand gedrängt, der sie »dem Westen« entfremdet und für fundamentalistische Ideen empfänglich macht.
Terrorangst und Sicherheitswahn sind eine gefährliche, zersetzende Mischung. Es gibt Anzeichen, und darauf wollte ich mit diesem Buch aufmerksam machen, dass wir in unserem berechtigten Schutzbedürfnis über das Ziel hinausschießen und am Ende ungewollt das Geschäft der Terroristen betreiben, indem wir die demokratischen Errungenschaften, die wir gegen sie zu schützen vorgeben, für unsere »Sicherheit« aufzugeben bereit sind.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Knapp 3000 Leben wurden am 11. September 2001 (9/11) ausgelöscht. Neun Tage später präsentierte der US-amerikanische Präsident George W. Bush die Täter und rief zum »Krieg gegen den Terror auf«. Militante Islamisten, wie etwa die Mitglieder von alQaida unter Führung Osama bin Ladens, die unsere Religionsfreiheit, unser Recht auf freie Meinungsäußerung, unser freies Wahlrecht und Versammlungsrecht sowie die Freiheit, kontroverse Meinungen zu vertreten, hassen würden, hätten der westlichen Welt den Kampf angesagt. Dieser Kampf werde nun angenommen, und zwar weltweit und mit aller gebotenen Härte. Die Mehrheit der schockierten Öffentlichkeit dürfte mit dieser Kampfansage einverstanden gewesen sein.
Drei Jahre später verübten Islamisten auch Terrorattentate in Europa: 2004 in Madrid und 2005 in London. Auch in Deutschland konkretisierte sich die Gefahr. 2007 wurden die sogenannten Sauerlandbomber gefasst, und Terrordrohungen gegenüber dem Oktoberfest in München oder dem Berliner Reichstag verstärkten die Angst der Bevölkerung, Opfer eines Anschlags zu werden.
Die Terroristen wissen das. Angst zu verbreiten ist ihre stärkste Waffe. Gelingt es ihnen, uns so zu ängstigen, dass wir »Sicherheitsmaßnahmen « ergreifen und Gesetze erlassen, die unseren Rechtsstaat schwächen und unsere eigene Freiheit beschneiden, haben sie ihr Ziel erreicht: zu zerstören, was »den Westen« in ihren Augen brandmarkt und in unseren Augen auszeichnet. Freiheit und Selbstbestimmung.
Wie aber ist der Terrorbedrohung zu begegnen? Die Politik steht vor der schweren Aufgabe, sowohl Gefahren von uns abzuwenden als auch das richtige Maß zu finden zwischen Sicherheit und Freiheit. Vor diesem Hintergrund muss man die Legislativwut der deutschen Politiker verstehen, die seit 2001 rund 90 Gesetze mit konkretem Terrorbezug initiiert haben. Dem Staat geht es darum, seine Bürger mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vor Terrorangriffen zu schützen. Deshalb versucht er, potentielle Terroristen möglichst früh zu erkennen, damit sie ihre mörderischen Pläne gar nicht erst in die Tat umsetzen können. Und Früherkennung heißt nichts anderes als Überwachung, und zwar einer möglichst großen Anzahl von Menschen. Ein sogenannter Überwachungsstaat dürfe dabei allerdings nicht entstehen, denn das sei mit unserem politischen Selbstverständnis nicht vereinbar - ein Zielkonflikt, der die Diskussion um die Sicherheit in Deutschland und Europa so überaus kompliziert macht.
Sicherheit ist ein komplexer und gleichzeitig sehr vager Begriff, weil er Wertvorstellungen beinhaltet und individuell ganz unterschiedlich ausgelegt werden kann. Was dem einen sicher erscheint, macht dem anderen Angst. Entsprechend kontrovers wird darüber debattiert, was für die Bürger gefährlich werden und wie man diese Gefahr abwenden kann. Dem Staat und seinen Organen fällt dabei die Aufgabe zu, in letzter Instanz zu bestimmen, mit welchen Inhalten der Begriff Sicherheit gefüllt wird und mit welchen Strategien diese Inhalte umgesetzt werden sollen. Ebenso entscheidet er darüber, welche dem angestrebten Sicherheitsniveau möglicherweise entgegenstehenden Werte vernachlässigbar sind, wie zum Beispiel bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Und dies ist der neuralgische Punkt. Zwar werden die Politiker nicht müde, zu betonen, wie wichtig ihnen die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist. Gleichzeitig stellen sie durch die Anti-Terror-Gesetze bürgerliche Freiheiten und Rechte zur Disposition, verschieben die Gewichte also in Richtung Sicherheit.
In diesem Buch gehe ich der Frage nach, wie hoch der Preis für eine vermeintlich verbesserte Sicherheit ist. Diese Frage stand bereits im Mittelpunkt der Fernseh-Dokumentation »Freiheit oder Sicherheit«, die ich zusammen mit Nils Bökamp zum 10. Jahrestag von 9/11 für den Sender ARTE realisiert habe. Die Recherche für den Film führte mich in die mir bis dahin fremde Welt der deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden. So war es für mich anfangs nicht leicht zu verstehen, welche Absichten sich hinter der offiziellen Sprache von Politik, Polizei und Geheimdiensten verbergen, ebenso wenig konnte ich erkennen, dass Terrormeldungen, Verhaftungen und neue Gesetze einem wiederkehrenden Rhythmus folgen. Ich war schockiert darüber, wie vieles ich täglich überlese, überhöre, übersehe, wie sich mein Denken geändert hat seit 9/11 und wie sehr manche Floskeln auch für mich zu einer falschen Selbstverständlichkeit wurden, zum Beispiel: »Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten «, oder »Lieber einen zu viel verhaften als einen zu wenig «. Erst im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Thema wurde mir klar, wie bequem ich es mir in unserer Demokratie gemacht hatte und wie wichtig es aber stattdessen ist, dass ich selber etwas zum Erhalt dieser Demokratie beitrage.
In diesem Buch möchte ich meinen Recherche- und Erkenntnisweg nachvollziehbar machen. Zunächst einmal ging es mir schlicht darum, herauszufinden, mit welchen Maßnahmen und Strategien Deutschland auf 9/11 reagiert hat. Mir war es wichtig, Gründe und Motivation des Staates für seine Sicherheitspolitik kennenzulernen, zu verstehen, wie und wodurch die Sicherheit verbessert werden soll, und zu erkennen, wen die Behörden für gefährlich und verdächtig halten, islamistische Anschläge begehen zu wollen.
Um all dies in Erfahrung zu bringen, vereinbarte ich zahlreiche Interviews. Meine Gespräche mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, mit dem Präsidenten von Europol, Rob Wainwright, mit Vertretern des Innenministeriums und des Verfassungsschutzes gaben interessante Einblicke in die offiziellen Anti-Terror-Maßnahmen, ließen aber zugleich einen ersten Zweifel wachsen, ob das öffentliche Reden der Verantwortlichen mit ihrem Handeln übereinstimmt. Ein großes Glück war es in dieser Hinsicht, die bayrische Rechtsanwältin und Verfassungsrichterin Angelika Lex für ein Interview zu gewinnen, die solchen Zweifel gewissermaßen professionell hegt. Sie vertritt sowohl den Staat, reflektiert aber auch mit kritischem Blick die Arbeit des Verfassungsschutzes.
Auf meiner weiteren Drehreise durch Deutschland, England und Frankreich lernte ich Menschen kennen, die zur Zielscheibe der Terrorfahnder wurden. Mein bis dahin großes Vertrauen in den Staat, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, konnte ich danach nur noch als ziemlich naiv bewerten. Mehr als einmal mochte ich kaum glauben, dass sich die von Terrorverdächtigen erlebten Geschichten in Europa zugetragen hatten. Zwar war mir klar, dass man schon mal versehentlich den »Falschen« verhaften kann. Ich glaubte aber fest daran, dass ein Mensch so lange als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Doch dieses Prinzip gilt offenbar nur für »normale« Kriminelle, für potentielle Terroristen gilt es nicht. Unter Umständen muss ein Terrorverdächtiger Wochen, Monate, jahrelange Einzelhaft erdulden, bis ihm der Prozess gemacht wird. Seine Persönlichkeit, sein Berufs- und Familienleben und seine Ehre sind ruiniert.
Ist das der Preis für unsere, für meine Sicherheit? Ich habe schon in vielen Ländern Dokumentationen gedreht, in denen Sicherheit und Freiheit noch in weiter Ferne sind: Myanmar, Afghanistan, Kongo, Guatemala. In solchen Ländern ist jeder Tag gefährlich, Freiheit und Sicherheit gibt es nicht. Die Menschen wissen buchstäblich nicht, wovon sie leben oder gar eine Familie ernähren sollen, wie sie bezahlte Arbeit bekommen, wie sie sich gegen Willkür schützen können. Immer wieder war ich glücklich, wenn ich nach Deutschland zurückkehrte. Was für ein Glück, hier geboren zu sein! Wo man sagen kann, was man denkt. Wo man denken kann, was man will. Wo man glauben kann, was man für richtig hält. Wo man leben kann, wie man gerade möchte. Solange man niemandem Schaden dabei zufügt. Dachte ich. Aber genau das hat sich seit 9/11 geändert.
Seit die Regierung den Anti-Terror-Kampf ausgerufen hat, ist die Freiheit auch hier ein bedrohtes Gut. Und das kann auch gar nicht anders sein, denkt man zunächst. Wer Gefahren von uns abwenden will, muss sie im Vorfeld erkennen und präventiv verhüten. Deshalb sollen durch eine umfassende Überwachung potentielle Terroristen möglichst früh ausfindig und unschädlich gemacht werden. Um dieser Arbeit möglichst breitflächig und ungehindert nachgehen zu können, wurden nicht nur die polizeilichen Befugnisse erweitert. Zum ersten Mal seit der Zeit des Nationalsozialismus dürfen in Deutschland Polizei und Geheimdienst wieder zusammenarbeiten. Dafür wurde das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin Treptow geschaffen, dessen 229 Beschäftigte sich einzig und allein mit dem islamistischen Terrorismus beschäftigen.
Aber was folgt aus dieser »gestärkten« Gefahrenabwehr? Wem nützen diese Maßnahmen, wem schaden sie, und welche bürgerlichen Freiheiten werden davon möglicherweise beeinträchtigt? Diesen Fragen bin ich gezielt nachgegangen. Die Informationen, die ich hierbei zusammentrug, wurden über die Monate immer absurder und unglaubwürdiger. Ich lernte Mitarbeiter der Polizei kennen, die nach Dienstschluss freiwillig Moscheen ausspionieren, Asylanwärter, denen eine Aufenthaltsgenehmigung versprochen wird, wenn sie Hinweise auf muslimische Terroristen geben, oder Muslime, die sich als »Heilige Krieger« verdächtig machen, weil sie sich die Achseln rasieren - so stand das in ihren Akten.
Aus dieser Schattenwelt will ich in diesem Buch erzählen. Ich sprach mit Verdächtigen, mit potentiellen Terroristen, mit ehemaligen Inhaftierten und mit ihren Rechtsanwälten, aber auch mit Polizeikommissaren, Verfassungsschützern und Wissenschaftlern. Es gab offizielle Informationen, die jeder kennt, etwa weil sie in der Zeitung stehen, und die dazu dienen, die Bevölkerung zu beruhigen oder aufzuschrecken. Und es gab andere Informationen, hinter vorgehaltener Hand vorgetragen, in der Zigarettenpause zwischen den großen Sitzungen der EU-Innenminister oder diskret hinter verschlossenen Türen. Ich kann leider nicht alle Informanten namentlich nennen, zu groß ist ihre berechtigte Sorge, dass sie mit unangenehmen Konsequenzen zu rechnen hätten. Aber diejenigen, von denen ich hier berichte, sind weder Ausnahme noch Einzelfälle. Meine Recherchen zeigen, dass jeder in die Mühlen der Sicherheitsbehörden geraten kann.
Das Ausmaß der präventiven Polizei- und Geheimdienstarbeit wollte ich lange Zeit nicht wahrhaben. Ich befürchtete, zur Verschwörungstheoretikerin abgestempelt zu werden, zur Verfassungsfeindin. Wenn mein Computer nicht funktionierte, hatte ich schon überlegt, ob das Bundeskriminalamt an meinen Dateien interessiert sein könnte. Und obwohl die Daten meiner Meinung nach nichts enthielten, was mich verdächtig gemacht hätte, war ich mir dessen plötzlich nicht mehr sicher.
Lange verdrängte ich den Gedanken daran, denn ich tat ja nichts Verbotenes, sondern wollte nur herausfinden, was sich in den letzten zehn Jahren verändert hat und wie es dazu kommen konnte, dass heute Menschen verhaftet werden, wenn sie sich auf den »falschen« Webseiten bewegen, mit den »falschen« Menschen Verabredungen treffen oder sich mit »falschen« Themen beschäftigen. Das alles dürfte doch keine Verhaftung rechtfertigen. Immerhin gehört die Unschuldsvermutung zu den Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz verankert und ein Menschenrecht. Doch ich musste erkennen: Der Anti-Terror-Kampf kassiert die Unschuldsvermutung. Ein Verdächtiger - also potentiell jeder - gilt so lange als schuldig, bis er selbst seine Unschuld zweifelsfrei bewiesen hat. Ist das der Preis, den wir für Sicherheit bezahlen wollen?
Dass Menschenrechte im Anti-Terror-Kampf außer Kraft gesetzt werden, war für mich eine schockierende Erkenntnis. Um Sicherheit zu garantieren, dehnt der Staat seine Gesetze bis an den Rand des Zulässigen aus und geht im Notfall auch darüber hinaus. Wo die Grenzen der Macht verlaufen, welche Freiheiten in welchem Umfang ausgeübt werden dürfen, liegt im Ermessen der Behörden - immer mit Blick auf die Sicherheit der Bürger.
Dass Menschenrechte unbedingt einzuhalten sind und Folter in das Reich von Diktaturen und »Schurkenstaaten« gehört, war für mich bis dahin selbstverständlich. Dass Länder wie die USA in Demokratien foltern lassen oder selber foltern, dass Menschen eingeschüchtert werden, zu Geständnissen gezwungen, das waren für mich Gräuelmärchen, die sich Extremisten ausgedacht hatten, um das demokratische System zu diskreditieren.1 Für alle nach 1945 geborenen Deutschen sind Sicherheit und bürgerliche Freiheiten eine Selbstverständlichkeit. Etwas, das zu ihrem Leben dazugehört, wie ihre Arme oder Beine zu ihrem Körper. Etwas, das einfach da ist und nicht verschwinden kann.
Aber es kann verschwinden, und es verschwindet schleichend - wenn wir nichts dagegen tun. Wenn wir zulassen, dass blinde Flecken im Sicherheitssystem zu Fehldiagnosen führen, dass sogar der Tod von Unschuldigen in Kauf genommen wird - wie zum Beispiel in London; dort wurde ein Brasilianer aus Versehen erschossen, weil die Polizei ihn für einen Terroristen hielt. Wenn wir zulassen, dass Gesetze zur Datenerhebung zu einer Einschränkung der bürgerlichen Rechte, etwa dem Grundrecht auf Privatsphäre, führen.
Die Gefahr, die von solchen legalisierten Rechtsverletzungen ausgeht, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn die gestiegenen sicherheitspolitischen Bedürfnisse rufen selbstverständlich auch ökonomische Interessen auf den Plan. Um effektivere Maßnahmen im Bereich des Datenaustauschs und der Überwachung zu ermöglichen, werden nicht nur die militärischen und geheimdienstlichen Mittel per Gesetz ausgeweitet. Es müssen auch neue Techniken ersonnen und hergestellt werden. Ungezählte Firmen und Wissenschaftler sind inzwischen einträglich damit beschäftigt, sogenannte innovative Sicherheitslösungen zu entwickeln. Die Sicherheitsbranche hat Hochkonjunktur.
Tatsächlich gibt es Wissenschaftler in der EU, die sich hauptberuflich damit beschäftigen, fiktive Terrorszenarien zu entwerfen - wie zum Beispiel im Rahmen des Projektes »CAST«, bei dem Angriffe mit nuklearen, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen simuliert werden. Von 2007 bis 2013 werden von der EU rund 1,4 Milliarden Euro für die Forschungsförderung im Themenbereich Sicherheit bereitgestellt. Gerade in Berlin-Brandenburg ist man glücklich, vom Sicherheitsboom profitieren zu können. In dem strukturschwachen Gebiet ist ein dichtes Netz an wissenschaftlichen und kommerziellen Unternehmen entstanden. 250 Firmen mit Sicherheitslösungen haben sich laut einer Studie der Berliner Senatsverwaltung in der Hauptstadtregion angesiedelt. In ihren sicherheitsrelevanten Bereichen beschäftigen sie rund 27 000 Mitarbeiter und erwirtschafteten damit schon 2009 einen jährlichen Umsatz von 3 Milliarden Euro.2 Die Hälfte dieser Unternehmen ist erst in den letzten zehn Jahren gegründet worden, das Umsatzwachstum liegt seit 2003 bei 18 Prozent pro Jahr. Für manche hat sich der Terror bezahlt gemacht.
Am Anfang der Recherche hatte ich einen Wissensstand, wie ihn jeder Deutsche hat, der regelmäßig die Nachrichten sieht und Zeitungen liest. Am Ende meiner Recherche wusste ich, dass dies nicht ausreicht, um sich eine unabhängige Meinung zu bilden. Es ist mir deshalb wichtig, meine Erfahrungen und Informationen öffentlich zu machen. Es ist mir wichtig, weil ich in Sorge darüber bin, wie sich unser Land verändert, und weil ich diesen schleichenden Prozess sichtbar machen möchte.
Ich gehöre keiner Partei an, keiner Organisation, keinem Verein, keiner Institution, keiner Gruppierung. Ich spreche für niemanden - außer für mich. Und für mich sind Menschenrechte und Demokratie unersetzlich für eine gerechte und würdige Welt.
Aus tiefstem Herzen befürworte ich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ich halte Regierungen durchaus für sinnvoll. Aber ich halte es auch für wichtig, Missstände anzuklagen. Eine Demokratie muss eine Vielfalt an Meinungen aushalten können. Nur eine tolerante und offene Gesellschaft wird zukunftsfähig sein.
Der militante Islam ist mir zuwider. Ich bin froh, dass ich hier frei und sicher leben kann. Und ich möchte, dass es so bleibt. Auch deshalb habe ich etwas dagegen, dass in allen europäischen Ländern eine zunehmende Intoleranz gegenüber Muslimen wächst. Ganze Gemeinden werden des islamistischen Terrorismus verdächtigt - und damit erst an einen Rand gedrängt, der sie »dem Westen« entfremdet und für fundamentalistische Ideen empfänglich macht.
Terrorangst und Sicherheitswahn sind eine gefährliche, zersetzende Mischung. Es gibt Anzeichen, und darauf wollte ich mit diesem Buch aufmerksam machen, dass wir in unserem berechtigten Schutzbedürfnis über das Ziel hinausschießen und am Ende ungewollt das Geschäft der Terroristen betreiben, indem wir die demokratischen Errungenschaften, die wir gegen sie zu schützen vorgeben, für unsere »Sicherheit« aufzugeben bereit sind.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Marita Neher
Marita Neher ist Dokumentarfilmerin und Produzentin. Seit 20 Jahre dreht sie u. a. für arte Dokumentationen. Seit mehreren Jahren setzt sie sich mit Krieg und globalem Terror auseinander und drehte dafür in Länder wie der DR Kongo, Afghanistan, Kambodscha und Myanmar. Zum 10. Jahrestag der Terrorattentate von 9/11 recherchierte und realisierte sie die Dokumentation "Freiheit oder Sicherheit. Der Anti-Terrorkampf und seine Folgen". Sie lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marita Neher
- 2013, 1. Auflage., 240 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 310053705X
- ISBN-13: 9783100537058
- Erscheinungsdatum: 16.05.2013
Rezension zu „Albtraum Sicherheit “
Sie versteht es, komplexe Sachverhalte in einfachen Bildern auszudrücken, schildert eindrucksvoll Einzelschicksale und liefert gut recherchierte Fakten und Daten Martin Zähringer Deutschlandradio 20130825
Kommentar zu "Albtraum Sicherheit"
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