Alias XX
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Alias XX von Joel Ross
LESEPROBE
DasZwanziger-Komitee begann mit »Sleet«, einem Maschinenbauingenieur, der beieinem Zulieferbetrieb für die Admiralität angestellt war. Anfang der dreißigerJahre reiste Sleet häufig geschäftlich nach Deutschland und kehrte gelegentlichmit technischen Informationen für die Admiralität und den MI6 zurück. EinGelegenheitsspion, anspruchslos und eher unergiebig. Trotzdem hielt man sich andie Richtlinien - seine Informationen wurden überprüft, die Kontaktekontrolliert, wiederholt überwachte man seinen Alltag.
1936 trugen dieseBemühungen Früchte. Der militärische Geheimdienst fing einen Brief ab, denSleet an einen deutschen Agenten in Hamburg geschrieben hatte; es stellte sichheraus, dass der Maschinenbauingenieur sein Brot auf beiden Seiten butterte.Man erwog, Sleet festzunehmen, aberwozu? Unter welchem Vorwand? Er hatte lediglich Briefe an einen Bürger einesLandes geschrieben, das mit England nicht im Krieg war.
Die Geduld zahltesich aus. Einige Monate später kontaktierte Sleet den MI6 und erzählte, er seivom deutschen Geheimdienst, der Abwehr, angeworben worden. Er habe zugestimmt,für die Nazis zu arbeiten, um - so sagte er - als britischer Agent in dieAbwehr einzudringen. Und so betrieb Sleet von 1936 bis 1939 sein doppeltesSpiel. Oder war es ein dreifaches? Das war die Frage, auf die es keine Antwortgab - und, ging es Davies-Frank durch den Kopf, eine Frage, die sich niemandstellte. Sleet war kaum als Agent eingestuft worden, der von weltbewegenderBedeutung sein könnte.
Aber er werkelteweiter vor sich hin. Er reichte Informationen an die Engländer weiter, falscheNamen, die sich unmöglich bestätigen ließen, Gesprächsfetzen, Einblicke in dieArbeitsweise seiner Kontakte. Er lieferte seinen deutschen GewährsleutenAufzeichnungen zum britischen Schiffsbau oder zur Stimmung in der Bevölkerung.Und er suchte, auf die Bitte seines Abwehr-Führungsoffiziers, Anschluss an diezunehmend beliebter werdende British Union of Fascists des Sir OswaldMosley.
Er wurde angewiesen,Informationen über die BUF zu sammeln, herauszufinden, welche Mitglieder übergenügend Einfluss oder Macht verfügten, damit sich eine direkte Kontaktaufnahme lohne. Er wurde instruiert,mit der BUF die Inbetriebnahme und Nutzung von vier Funkgeräten auszuhandeln.Berichte wurden verfasst. Informationen gesammelt. Protokolle geschrieben. UndSleet operierte weiterhin unter der eher nachlässigen Führung sowohl derEngländer als auch der Deutschen. Es kam wenig dabei heraus, er richtete wenigSchaden an.
Im Januar 1939wurde einem gelangweilten untergeordneten Agenten, der die Geduld seinesVorgesetzten ausgereizt hatte, befohlen, Sleet zu beschatten. Zwei Tage langfolgte er ihm auf dessen Weg von seinem Zuhause zum Büro und zurück. Am drittenTag fuhr Sleet zur Victoria Station, wo er in der Gepäckaufbewahrung einengelben Pepita-Koffer abholte. Darin befand sich, als Grammophon getarnt, eindrahtloses Sende- und Empfangsgerät. Sleet installierte es auf seinem Dachbodenund nahm die Verbindung mit Hamburg auf.
Ein weitererBericht wurde verfasst. Er sorgte für leichte Verwunderung, aber kaum mehr.Dann kam die Kriegserklärung- und Sleet wurde in Gewahrsam genommen. SeinFunkgerät wanderte mit ihm ins Wandsworth-Gefängnis und wurde in seiner Zelle aufgebaut.Aus dem Gefängnis heraus nahm er erneut Kontakt mit Hamburg auf und nahmBefehle und Anfragen nach bestimmten Informationen entgegen. Unter Anleitungseiner britischen Gastgeber erstellte er darauf fingierte Antworten.
DasZwanziger-Komitee war zu jenem Zeitpunkt, als das gesamte unter englischerKontrolle stehende Spionagenetz der Deutschen einzig und allein aus Sleetbestand, noch nicht gebildet worden. Aber auch damals, in dieser erstenungewissen Zeit, ging es ausschließlich um das eine: die Wahrheit. Die Wahrheitwar das Fundament, auf dem das ganze Lügengerüst errichtet wurde. Sie war dasSandkorn, um das sich die unschätzbare Perle bildete - und wie ein Sandkornsorgte die Wahrheit für Irritationen. Man wusste sie zu handhaben, bekam sie abernie ganz unter Kontrolle.
Dennoch, dieAbwehr überprüfte diese Zuchtperle und stufte sie als echt ein. Sie hielt Sleetfür loyal und handelte gemäß seinen Berichten. Das Doppelspiel war erfolgreich- jedenfalls im Moment. Das Umdrehen eines Agenten war eine heikleAngelegenheit. Im besten Fall war es eine Verführung: vertraulich, behutsam,leidenschaftlich. Im schlimmsten Fall eine Vergewaltigung. Sleet, verführt undals loyal erachtet, wurde mit einem MI6-Agenten, der als Mitglied der WelshNationalist Party auftrat, nach Antwerpen geschickt. Man gab ihnenKontaktinformationen für »Thrush«, eine in Deutschland geborene, inGroßbritannien lebende Fotografin, die bei der Entwicklung von Mikrofotografienhelfen würde - Bilder in der Größe von Briefmarken oder noch kleiner, mit denenInformationen übermittelt wurden. Thrush, obwohl durch Drohungen erpresst, diesich gegen ihre Neffen in Deutschland richteten, ließ sich leicht umdrehen.Danach kam »Bitters« - ein vormaliger Drogenschmuggler und Gauner, den Sleetals Agenten rekrutierte, der in Deutschland ausgebildet werden sollte. Bittersstürzte sich auf die Spionage wie der Wurm auf den Morast und erfuhr kurzdarauf von drei weiteren deutschen Agenten, die über England abspringensollten. Zwei von ihnen ließen sich umdrehen und blieben am Leben. Einerweigerte sich und wurde gehängt.
So nahmen dieDinge ihren Lauf. Ein Agent führte zum nächsten und zum nächsten und wieder zumnächsten, so dass Ende 1941 das gesamte Netz der Abwehr in England von denBriten geleitet wurde.
Es war einDoppelspiel von monumentalem Ausmaß; die Deutschen, die die Briten aufs Kreuzlegen wollten, wurden von ihnen selbst aufs Kreuz gelegt. Ein doppeltes Kreuz:XX. Das Zwanziger-Komitee. Damit beauftragt, ein Lügengespinst zu entwerfen,das in sich so stimmig und überzeugend war, damit die Nazis niemalsdahinterkamen, dass sie ihr eigenes Agentennetz nicht im Griff hatten.
© DroemerKnaurVerlag
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
- Autor: Joel Ross
- 2005, 445 Seiten, Maße: 14,3 x 21,8 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426197022
- ISBN-13: 9783426197028
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