Alle meine Kinder
"Greene betrachtet aus nächster Nähe erst die Ausläufer einer gesellschaftlichen Entwicklung von größter Bedeutung und erhellt dann den Gesamtzusammenhang. - Mit großer Leidenschaft geschrieben!" (Publishers Weekly)
"Eine kraftvoll erzählte Geschichte, bisweilen traurig, aber auch anregend und politisch zornig machend! Jeder sollte sie lesen!" Entertainment Weekly
Alle meine Kinder von Melissa Fay Greene
LESEPROBE
AUGUST 2004
An einem düsteren Nachmittag währendder Regenzeit sag ich in einem überfüllten Wohnzimmer im äthiopischen Addis Abeba,völlig überrascht von den Wassermassen. Der Regen trommelte ohrenbetäubend aufdie Blechdächer der auf die Hügel gebauten Häuser, so als stünden sämtlicheBewohner dort oben und schlügen mit Stöcken auf Töpfe ein. Den Hof verwandeltedas Wasser in einen kochenden Kessel. Durch dir sperrangelweit offen stehendeHaustür sah ich die eintreffenden Besucher über die vom Matsch schlüpfrigenTrittsteine springen. Auf der Schwelle zu HaregewoinTeferras unverputztem Haus - eine einfachereUnterkunft mit mehr undichten Stellen als das moderne einstöckige Haus, das siefrüher ihr Eigen nennen durfte - nahmen die Männer ihre Hüte ab undschüttelten sie, und die Frauen wrangen ihre Tücher aus. Obwohl Haregewoin jeden Tag ein wenig weiter aus der Mittelklasseabrutschte, der sie früher angehört hatte, hatten ein Dutzend alter Freundebeschlossen, den Wolkenbruch bei ihr auszusitzen - einige, um ihre Loyalität zubekunden, andere vielleicht, weil sie sehen wollten, was sie als Nächstes tunwürde. Alle betraten das Haus mit einem strahlenden Lächeln, trotz ihrerBefürchtungen, wen sie unter den Gästen antreffen könnten. Sie begrüßten einandermit Handschlag oder einem leichten Hochziehen der Augenbrauen und drängten,kleine Pfützen auf dem Betonhoden hinterlassend, herein, um sich zu deruntätigen Runde zu gesellen.
Die Gastgeberin, einetemperamentvolle, rundliche, knapp über einen Meter vierzig große Frau,schlurfte in ihren Plastiksandalen über den nassen Boden. HaregewoinTeferra war eine gebildete, zwei Sprachen sprechendeFrau Ende fünfzig und kam ursprünglich vom Land. In ihren dicken Haaren, diesie mit einem dreieckigen Tuch zusammengebunden hatte, ringelten sich ein paargraue Strähnen. Ihre kaffeebraune Haut glühte in der Hitze. Sie trug das, wassie stets trug: einen langen Baumwollrock mit Leopardenmuster und einemelastischen Bund und ein rotes, kurzärmliges T-Shirt. Nachdem sich alle Besuchergesetzt hatten, eilte Haregewoin zurück zu ihremStuhl und beugte sich lächelnd nach vorn, begierig, die Neuigkeiten zu hören.Wenn sie lachte, schlug sie die Hände vor der Brust zusammen und lehnte sichzurück, ihre Augen verschwanden dann zwischen den Lachfältchen, und ihreSchultern bebten.
Es war kein Feiertag, und auch sonstgab es keinen besonderen Anlass. Einige von Haregewoinsalten Freunden waren aus Altersgründen aus dem Beruf ausgeschieden oder hattenihr Geschäft aufgegeben; andere hatten nicht genug zu tun, die schlechteäthiopische Wirtschaftslage bot ihnen schlicht keine Gelegenheit, einerlohnenden Beschäftigung nachzugehen.' Wieder andere hatten verborgene Gründedafür, dass sie sich an einem ganz normalen Wochentag die Zeit für einenBesuch nehmen konnten.
Einer der Gäste stellte für dieNeuankömmlinge eine regelrechte Mutprobe dar. Wollen wir doch mal sehen, wieweit dein gutes Benehmen reicht, besagte die Miene von ZeweduGetachew, ein einstmals gut aussehender undwohlhabender Mann. Er hatte als Bauleiter für ein französisches Unternehmengearbeitet und an der Universität von Addis Abeba Ingenieurwesenunterrichtet. Seine Schultern unter der khakifarbenen Jacke waren hochgezogen,wohl weniger wegen des Regens, als vielmehr aus Zorn darüber, dass ihm dasLeben so übel mitgespielt hatte, dass eine Krankheit ihn seine Stelle undseinen guten Namen gekostet hatte.
Auf dem gesamten Kontinent werdenMillionen von Menschen nach einem neuen Binärsystem eingeteilt, indem man ihnenmitteilt, dass sie »positiv« oder »negativ« sind, so als hätten sie sich überNacht in Protonen und Elektronen verwandelt und als ginge es um subatomarePhysik und nicht darum, wer leben wird und wer geächtet, grauenvolles Leiddurchmachen und sterben wird.
Haregewoin war die einzige der vielen Freunde,in deren Häusern er einst ein und aus gegangen war,die ihn noch willkommen hieß. Er drückte sich an die Lehne des metallenenKüchenstuhls, die Arme vor der Brust verschränkt, weder erwartete er einenHändedruck, noch bot er selbst jemandem die Hand. Auf seinen Wangen lag eindunkler Bartschatten.
Eine scheu wirkende, hübsche jungeFrau in einem langen Rock nahm auf einem niedrigen Stuhl Platz und röstetefrische Kaffeebohnen in einer Eisenpfanne über einem tragbaren Öfchen. Sarawar während ihres zweiten Jahres vom College verwiesen und von ihren Elternverstoßen worden, als klar wurde, dass ihr hartnäckiger Husten nicht nur voneiner Tuberkulose herrührte (die ihre Eltern noch veranlasst hatte, sie insAuto zu packen und zu den besten Ärzten zu bringen), sondern von etwasUnaussprechlichem (weswegen sie sie des Hauses verwiesen). Wie die meistenäthiopischen Mädchen war auch diese junge Frau zur Unterwürfigkeit erzogenworden, so dass sie nicht darauf vorbereitet war, allein in der Stadtzurechtzukommen; als Haregewoin sie fand, saß Sarazusammengekauert in einem Torweg. Anders als vielleicht Sara selbst wusste Haregewoin, dass das junge Mädchen bald nur noch die Wahlhaben würde, zu betteln oder seinen Körper zu verkaufen.
Es war also ein seltener Anblick,der sich hier an einem ganz normalen Wochentag in Ostafrika bot: ein Haus, indem Männer und Frauen aus der Mittelschicht, die von der Epidemie nicht persönlichbetroffen waren, neben Männern und Frauen saßen, die ihr hilflos ausgeliefertwaren.
Der Regen prasselte auf das Dach,verwandelte den Hof in eine riesige Schlammpfütze und trieb Horden barfüßigerkleiner Kinder durch Haregewoins offene Tür.
Ich saß auf einem schmalen Sofaneben einer finster dreinblickenden alten Frau, die in einen Kokon aushandgesponnener Baumwolle gehüllt war. Ihre dunkle, schlaffe Haut und die hängendenAugenlider wurden von einem Kopftuch nach oben gezogen, was ihr den Ausdruckbesorgter Missbilligung verlieh. Ich weiß nicht, ob sie sich darüber ärgerte,dass ihr Gesicht in eine Grimasse gezwungen wurde oder weil sie an mich geratenwar. Im Laufe der Stunden wurden wir wie Fremde auf einer nächtlichen Busreisewiderstrebend miteinander vertraut. Heimlich und ohne dabei eine Miene zuverziehen, schoben wir uns gegenseitig millimeterweiseüber das umkämpfte Territorium.
Der Wind wehte feinen Sprühregen durchdie offen stehende Tür. Das weiß gestrichene Zimmer schien wie ein Hausboot aufdunklen Wellen hin und her zu schaukeln. Die mumifizierte Witwe an meiner Seitegewann langsam an Boden, während sie sich aus ihren langen Baumwollschalsschälte.
Es hatte ein paar Wochen gedauert,bis ich mich daran gewöhnt hatte. An den langen Nachmittagen, wenn die Luft inAddis Abeba von Regen gesättigt ist, flüchten sich die in der Stadt lebendenTiere - Ziegen, Schafe, Esel, streunende Hunde, Spechte, Spottdrosseln,Schwalben - in Ritzen und Nischen, oder sie ziehen zum Schutz vor der Sintflutden Kopf ein und schlafen. In diesen Stunden sehne ich mich danach, mich dieTreppe zu meinem sauberen Zimmer im Yilma Hotel hochzuschleppen, die schlammverkrusteten Schuhe und Sockenabzustreifen, einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, mich mit Bahru Zewdes Historyof Modern Ethiopia ins Bett zu legen und dann zuschlafen, während sich die langen, dünnen Vorhänge, schwer von der Nässe und vomGeruch des Regens, bauschen.
Aber hier saß ich auf einem Sofa in Haregewoins Zimmer und konnte nicht weg. Die allgemeineTrägheit hatte auch mich erfasst. »Jetzt?«, sagtenalle befremdet. »Du willst jetzt gehen, bei diesem Wetter? « Sicherlich dachteneinige: Die ferange, die Weiße, muss jetztirgendwohin? Selamneh Techane,mein Freund und Fahrer, der mit in die Hände gestütztem Kopf dasaß, richtetesich auf und sah mich mit müden Augen verwundert an. Immer wenn ich micherheben wollte, streifte die Matrone neben mir eine weitere Schicht ihrerTücher ab.
Bleib einfach hocken, schienen allesagen zu wollen; wir werden das gemeinsam durchstehen. Also hockten wirwährend des endlosen Trommelns des nachmittäglichen Regengusses beisammen. DerKaffee aus den kleinen Tassen, in denen am Boden dick der braune Zucker stand,versetzte uns aus irgendeinem Grund noch schneller in einen schläfrigenZustand. Nachdem wir unsere leeren Tassen auf das vierbeinige Holztablett, das aufdem Boden stand, zurückgestellt hatten, versickerte das Gespräch in kürzesterZeit. Keiner klopfte gegen die Lampe, als das schwache Licht zu flackernbegann. Niemand schaltete den verstaubten Fernseher ein, auf dem auf einemvergilbten Deckchen eine Vase mit Plastikblumen stand. (Es gab auch nichts anzusehen:Tag für Tag brachte der von der Regierung kontrollierte Fernsehsenderpraktisch ununterbrochen traditionelle Tänze, unter gleißendem Studiolicht vonspringenden, hüpfenden Tänzern vorgeführt.) Meine unerschütterliche Sitznachbarin,die sich mittlerweile fast ausgewickelt hatte, schnarchte vor sich hin.
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© BlanvaletVerlag
Übersetzung: AnderaStumpf und Gabriele Werbeck
- Autor: Melissa F. Greene
- 2007, 1, 543 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Andrea Stumpf u. Gabriele Werbeck
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764502150
- ISBN-13: 9783764502157
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