Allmen und die verschwundene María
Roman
Kunst-Detektiv Allmen und sein Mitarbeiter Carlos freuen sich eben noch über die Wiederbeschaffung des Dahlienbildes, da schlagen die Gangster zurück: Sie entführen Maria Moreno - Carlos große Liebe. Bild gegen Maria, so lautet ihre...
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Produktinformationen zu „Allmen und die verschwundene María “
Kunst-Detektiv Allmen und sein Mitarbeiter Carlos freuen sich eben noch über die Wiederbeschaffung des Dahlienbildes, da schlagen die Gangster zurück: Sie entführen Maria Moreno - Carlos große Liebe. Bild gegen Maria, so lautet ihre einfache Forderung. Wenn s nur so einfach wäre.
Klappentext zu „Allmen und die verschwundene María “
Die Geschichte um das wertvolle Dahlienbild erreicht einen neuen Höhepunkt: Carlos zittert um die entführte María Moreno und bringt Allmen dazu, Dinge zu tun, die dieser sich nie hätte träumen lassen. Ein raffinierter Krimi voller Action und Spannung.
Lese-Probe zu „Allmen und die verschwundene María “
Allmen und die verschwundene María von Martin Suter Cheryl Talfeld ging am offiziellen Schlafzimmer ihrer Chefin vorbei bis zu ihrem tatsächlichen. Durch die Tür hörte sie eine monotone Stimme. Es war die ihrer Nachtpflegerin, die ihr wie jeden Abend vorlas.
Cheryl klopfte, und die Stimme verstummte. Kurz darauf wurde die Tür ein wenig geöffnet, und das Gesicht der Schwester erschien im Spalt. Es entspannte sich ein wenig, als sie Madames Assistentin erkannte, aber ihre Stimme klang immer noch sehr irritiert, als sie fragte: »Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Es handelt sich um etwas Unaufschiebbares.«
»Wer ist es, Schwester?«, rief Dalia Gutbauer.
»Frau Talfeld«, rief diese über die Schulter zurück. »Etwas Unaufschiebbares.«
»Unaufschiebbar ist nur der Tod«, rief Dalia zurück.
Und Cheryl, jetzt auch laut genug für ihre Chefin: »Um diesen handelt es sich, Madame!«
»Lassen Sie sie rein, Schwester.«
Die Nachtschwester öffnete die Tür und trat beiseite. Im Zimmer roch es nach Kampfer, Eukalyptusöl und Menthol, Dalia Gutbauer kämpfte mit einer Erkältung. Die alte Frau lag in ihrem Krankenhausbett. Eine voluminöse Daunendecke verbarg auf den ersten Blick ihren Kopf. Er befand sich außerhalb des Lichtkegels, der auf einen Stuhl neben dem Bett gerichtet war. Auf dessen Sitzpolster aus bordeauxfarbenem Leder lag ein aufgeschlagenes Buch.
Cheryl ging zu ihr. Jetzt sah sie, dass Madame Gutbauer über ihre dichte weiße Wuschelfrisur ein Haarnetz gestülpt hatte. Sie war abgeschminkt und trug keine Brille. Cheryl Talfeld hatte sie schon zwei-, dreimal so gesehen. Aber diesmal kam sie ihr noch fremder vor als die anderen Male.
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Ihre Stimme machte sie wieder vertrauter. »Setzen Sie sich«, befahl sie. Und zur Nachtschwester: »Ich klingle dann, Schwester.«
Die Pflegerin verließ das Zimmer und schloss die Tür geräuschlos hinter sich.
Cheryl nahm das Buch vom Stuhl. Es war Hotel Shanghai von Vicki Baum. Sie setzte sich und fühlte, wie die Angst vor der Alten ihre Wut auf sie besiegte.
»Um den Tod von wem noch außer mir?«, fragte Dalia ruppig.
»Von Frau Moreno.« Cheryls Antwort klang nicht so selbstsicher wie beabsichtigt.
»Kenne keine Frau Moreno.«
»Die Mitarbeiterin der beiden Herren von eben.«
»Wie gesagt: Ich kenne sie nicht. Wenn ich mir auch noch um alle, die ich nicht kenne, Sorgen machen würde, wäre ich nicht so alt geworden.«
Cheryl besann sich auf ihren ursprünglichen Plan: »Es geht nur indirekt um Frau Moreno. In Wirklichkeit geht es um Sie, Madame Gutbauer.«
Damit waren sie bei einem Thema, das Dalia Gutbauer interessierte. Vielleicht dem einzigen. Sie richtete sich auf ihrem Kissen etwas auf und fragte: »Um mich? Inwiefern?«
»Das Bild ist Ihre einzige Möglichkeit, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.«
Ihre Chefin lächelte müde. »Die Behörden hier sind diskret. Die wissen seit bald zwanzig Jahren, dass ich hier lebe, und noch nie hat die Öffentlichkeit davon erfahren.«
»Aber wir haben es hier mit Allmen International Inquiries zu tun«, wandte Cheryl ein. »Das ist keine Behörde.«
»Aber eine Firma, die von der Diskretion lebt«, sagte Dalia Gutbauer abschließend. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Allmen damit droht, an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber danke, dass Sie mich gewarnt haben.« Sie griff nach der Klingel, die am Haltegriff über ihr hing.
Doch Cheryl gab nicht auf. »Von Herrn von Allmen haben wir nichts zu befürchten. Aber von seinem Mitarbeiter. Sie haben ja miterlebt, wie verzweifelt er ist.«
Die knorrige Hand mit den perfekten rotlackierten Nägeln ließ von der Klingel ab und sank zurück auf die Daunendecke.
»Er liebt die Frau«, doppelte Cheryl nach.
Die alte Frau schloss die Augen, als hätte sie das Gespräch erschöpft. Sie atmete kaum. Ihr Gesicht war bleich und still. Wie eine Totenmaske, fuhr es Cheryl durch den Kopf. Sie dachte daran, der Schwester zu klingeln, aber in diesem Moment seufzte Madame Gutbauer tief. Ohne die Augen zu öffnen, fragte sie: »Glauben Sie an Flüche, Cheryl?«
Als die Assistentin nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Ich habe bis jetzt nicht daran geglaubt. Aber dieses Bild ... Ich glaube, es bringt Unglück.« Sie schlug die Augen so plötzlich auf, dass Cheryl erschrak. »Die Dahlien sind ein Fluch.«
Cheryl Talfeld fröstelte. Aber sie blieb am Ball: »Dann geben Sie es her. Vielleicht bringt es zum ersten Mal jemandem Glück.«
Dalia Gutbauer seufzte. »Ich glaube, dazu ist es zu spät.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie werden es gleich verstehen.« Ihre Hand griff wieder nach der Klingel. Diesmal drückte sie sie. Sofort trat die Pflegerin ein.
»Helfen Sie mir, Schwester. Ich muss noch einmal aufstehen.«
»Sie wird es nicht herausgeben«, hatte Carlos gesagt, als Cheryl Talfeld den Raum verlassen hatte.
»Ya veremos«, hatte Allmen, der Optimist, geantwortet. Von da an hatten sie meistens geschwiegen. Carlos hatte vor sich hin gestarrt und manchmal die Lippen bewegt. Allmen wusste nicht, ob im Selbstgespräch oder im Gespräch mit seinem Maximón.
Allmen war aufgestanden und hatte Cheryls Zimmer inspiziert. Das Zimmer einer Heimatlosen. Gerahmte Fotos, ein altes Paar und das gleiche etwas jünger und noch mal sehr jung. Eine Frau und zwei Männer, die Cheryl glichen, Geschwister oder Cousins. Sie selbst als Tante Cheryl mit Kindern oder Babys. Gruppenfotos mit Arbeitskollegen vor verschiedenen Hotels. Die übrigen persönlichen Gegenstände waren Andenken. Kunsthandwerk von überall her, leicht zu transportierende Nippes.
Hatte sie nicht erzählt, dass sie seit zweiundzwanzig Jahren bei Dalia Gutbauer war? Und dennoch sah es hier aus, als wäre sie ständig bereit, jederzeit ihre Siebensachen zu packen und ciao.
Allmen stellte sich ans Fenster, um sich den mitleiderregenden Anblick von Carlos zu ersparen. Das Licht einer ganzen Büroetage erlosch, und für einen Augenblick sah es aus, als schwebe die obere Hälfte des Gebäudes davon. Er selbst wäre auch gerne davongeschwebt.
Nach einer halben Stunde kam Cheryl zurück. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Carlos war erwartungsvoll aufgesprungen, als er das Geräusch der Türklinke hörte. Als er ihre Miene sah, setzte er sich wieder. »Hija de puta«, murmelte er.
»Sie bleibt dabei, nicht wahr?«, fragte Allmen.
Cheryl seufzte. »Nein. Aber kommen Sie.«
Sie folgten ihr durch den stillen Korridor zum offiziellen Schlafzimmer, das Allmen von früheren Besuchen kannte.
Cheryl klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Dalia Gutbauer erwartete sie, halb sitzend, halb stehend an die Kante ihres überdimensionierten Art-déco-Bettes gelehnt.
Allmen nickte ihr zu und richtete den Blick sofort auf die Stelle, wo die Dahlien hängen sollten. Sie war leer.
Carlos, der den Raum noch nie betreten hatte, folgte Allmens Blick, sah die Lücke zwischen den Frauenporträts und verstand. Er sah Allmen an, fragend oder vorwurfsvoll oder beides.
Dieser wandte sich wieder der alten Frau zu. Sie war jetzt ein wenig geschminkt und frisch frisiert und trug einen schwarzen Kimono mit kleinem goldenen Bambusmuster.
»Ich konnte es nicht mehr sehen«, erklärte sie.
»Und dann?«, fragte Allmen entgeistert.
»Und dann?« Sie deutete mit dem Kinn in die Richtung, wo früher das Bild hing. »Sie sehen ja. Weg. Jetzt geht es mir besser.«
Carlos hielt es nicht länger aus. »¿Dónde se encuentra, señora?«
Sie überraschte ihn mit einem fast akzentfreien spanischen Anpfiff: »Nada te va en eso.« Das geht dich nichts an.
Allmen kannte den Tonfall. So sprach die mittel- amerikanische Oberschicht mit ihren Domestiken. Wie lange hatte sie in den dreißig Jahren ihres Untertauchens wohl in dieser Gegend gelebt?
Carlos akzeptierte die Zurechtweisung mit einer Unterwürfigkeit, als sei er diesen Tonfall von klein auf gewohnt.
Allmen ärgerte sich darüber und reagierte etwas schärfer, als es sonst seine Art war. »Nun sagen Sie schon, wo das verdammte Bild ist. Auch wenn es für Sie nichts taugt, für uns taugt es dazu, ein Leben zu retten.«
Dalia Gutbauer antwortete mit einem Hustenanfall. Allmen wusste nicht, ob er ein Vorwand war, um Zeit zu gewinnen, oder ob sie damit einer Antwort ganz ausweichen wollte. Aber der Anfall dauerte länger, als es dafür nötig gewesen wäre. Sie presste eine Hand auf die hagere Brust und verzog vor Schmerzen das Gesicht.
Carlos ließ sich nicht täuschen. Er setzte sich langsam in Bewegung und ging drohend auf die hustende Greisin zu. Allmen griff nicht ein.
Madame Gutbauer streckte abwehrend die Hand aus und stieß zwischen zwei Hustenanfällen hervor: »Zeigen Sie es, Cheryl.«
Die Assistentin ging am Schminktisch vorbei zu einem schwarz-roten Paravent und verschwand dahinter.
Sie kam mit dem Bild zurück, trug es in die Mitte des Raumes und hielt es vor ihre Brust.
Allmen und Carlos stießen einen erschrockenen Schrei aus, der wie aus einer Kehle klang.
In dem Bild klaffte ein großes Loch. Die größte der Dahlien war herausgetrennt. Durch den Vandalenakt hatte die Leinwand ihre Spannung verloren. Die Schnittränder waren gewellt, und die Wellen setzten sich über das Gemälde fort.
Durch das Loch sah man das Muster von Cheryl Talfelds hellgelber Seidenbluse.
© 2014 Diogenes Verlag AG Zürich
Ihre Stimme machte sie wieder vertrauter. »Setzen Sie sich«, befahl sie. Und zur Nachtschwester: »Ich klingle dann, Schwester.«
Die Pflegerin verließ das Zimmer und schloss die Tür geräuschlos hinter sich.
Cheryl nahm das Buch vom Stuhl. Es war Hotel Shanghai von Vicki Baum. Sie setzte sich und fühlte, wie die Angst vor der Alten ihre Wut auf sie besiegte.
»Um den Tod von wem noch außer mir?«, fragte Dalia ruppig.
»Von Frau Moreno.« Cheryls Antwort klang nicht so selbstsicher wie beabsichtigt.
»Kenne keine Frau Moreno.«
»Die Mitarbeiterin der beiden Herren von eben.«
»Wie gesagt: Ich kenne sie nicht. Wenn ich mir auch noch um alle, die ich nicht kenne, Sorgen machen würde, wäre ich nicht so alt geworden.«
Cheryl besann sich auf ihren ursprünglichen Plan: »Es geht nur indirekt um Frau Moreno. In Wirklichkeit geht es um Sie, Madame Gutbauer.«
Damit waren sie bei einem Thema, das Dalia Gutbauer interessierte. Vielleicht dem einzigen. Sie richtete sich auf ihrem Kissen etwas auf und fragte: »Um mich? Inwiefern?«
»Das Bild ist Ihre einzige Möglichkeit, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.«
Ihre Chefin lächelte müde. »Die Behörden hier sind diskret. Die wissen seit bald zwanzig Jahren, dass ich hier lebe, und noch nie hat die Öffentlichkeit davon erfahren.«
»Aber wir haben es hier mit Allmen International Inquiries zu tun«, wandte Cheryl ein. »Das ist keine Behörde.«
»Aber eine Firma, die von der Diskretion lebt«, sagte Dalia Gutbauer abschließend. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Allmen damit droht, an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber danke, dass Sie mich gewarnt haben.« Sie griff nach der Klingel, die am Haltegriff über ihr hing.
Doch Cheryl gab nicht auf. »Von Herrn von Allmen haben wir nichts zu befürchten. Aber von seinem Mitarbeiter. Sie haben ja miterlebt, wie verzweifelt er ist.«
Die knorrige Hand mit den perfekten rotlackierten Nägeln ließ von der Klingel ab und sank zurück auf die Daunendecke.
»Er liebt die Frau«, doppelte Cheryl nach.
Die alte Frau schloss die Augen, als hätte sie das Gespräch erschöpft. Sie atmete kaum. Ihr Gesicht war bleich und still. Wie eine Totenmaske, fuhr es Cheryl durch den Kopf. Sie dachte daran, der Schwester zu klingeln, aber in diesem Moment seufzte Madame Gutbauer tief. Ohne die Augen zu öffnen, fragte sie: »Glauben Sie an Flüche, Cheryl?«
Als die Assistentin nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Ich habe bis jetzt nicht daran geglaubt. Aber dieses Bild ... Ich glaube, es bringt Unglück.« Sie schlug die Augen so plötzlich auf, dass Cheryl erschrak. »Die Dahlien sind ein Fluch.«
Cheryl Talfeld fröstelte. Aber sie blieb am Ball: »Dann geben Sie es her. Vielleicht bringt es zum ersten Mal jemandem Glück.«
Dalia Gutbauer seufzte. »Ich glaube, dazu ist es zu spät.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie werden es gleich verstehen.« Ihre Hand griff wieder nach der Klingel. Diesmal drückte sie sie. Sofort trat die Pflegerin ein.
»Helfen Sie mir, Schwester. Ich muss noch einmal aufstehen.«
»Sie wird es nicht herausgeben«, hatte Carlos gesagt, als Cheryl Talfeld den Raum verlassen hatte.
»Ya veremos«, hatte Allmen, der Optimist, geantwortet. Von da an hatten sie meistens geschwiegen. Carlos hatte vor sich hin gestarrt und manchmal die Lippen bewegt. Allmen wusste nicht, ob im Selbstgespräch oder im Gespräch mit seinem Maximón.
Allmen war aufgestanden und hatte Cheryls Zimmer inspiziert. Das Zimmer einer Heimatlosen. Gerahmte Fotos, ein altes Paar und das gleiche etwas jünger und noch mal sehr jung. Eine Frau und zwei Männer, die Cheryl glichen, Geschwister oder Cousins. Sie selbst als Tante Cheryl mit Kindern oder Babys. Gruppenfotos mit Arbeitskollegen vor verschiedenen Hotels. Die übrigen persönlichen Gegenstände waren Andenken. Kunsthandwerk von überall her, leicht zu transportierende Nippes.
Hatte sie nicht erzählt, dass sie seit zweiundzwanzig Jahren bei Dalia Gutbauer war? Und dennoch sah es hier aus, als wäre sie ständig bereit, jederzeit ihre Siebensachen zu packen und ciao.
Allmen stellte sich ans Fenster, um sich den mitleiderregenden Anblick von Carlos zu ersparen. Das Licht einer ganzen Büroetage erlosch, und für einen Augenblick sah es aus, als schwebe die obere Hälfte des Gebäudes davon. Er selbst wäre auch gerne davongeschwebt.
Nach einer halben Stunde kam Cheryl zurück. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Carlos war erwartungsvoll aufgesprungen, als er das Geräusch der Türklinke hörte. Als er ihre Miene sah, setzte er sich wieder. »Hija de puta«, murmelte er.
»Sie bleibt dabei, nicht wahr?«, fragte Allmen.
Cheryl seufzte. »Nein. Aber kommen Sie.«
Sie folgten ihr durch den stillen Korridor zum offiziellen Schlafzimmer, das Allmen von früheren Besuchen kannte.
Cheryl klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Dalia Gutbauer erwartete sie, halb sitzend, halb stehend an die Kante ihres überdimensionierten Art-déco-Bettes gelehnt.
Allmen nickte ihr zu und richtete den Blick sofort auf die Stelle, wo die Dahlien hängen sollten. Sie war leer.
Carlos, der den Raum noch nie betreten hatte, folgte Allmens Blick, sah die Lücke zwischen den Frauenporträts und verstand. Er sah Allmen an, fragend oder vorwurfsvoll oder beides.
Dieser wandte sich wieder der alten Frau zu. Sie war jetzt ein wenig geschminkt und frisch frisiert und trug einen schwarzen Kimono mit kleinem goldenen Bambusmuster.
»Ich konnte es nicht mehr sehen«, erklärte sie.
»Und dann?«, fragte Allmen entgeistert.
»Und dann?« Sie deutete mit dem Kinn in die Richtung, wo früher das Bild hing. »Sie sehen ja. Weg. Jetzt geht es mir besser.«
Carlos hielt es nicht länger aus. »¿Dónde se encuentra, señora?«
Sie überraschte ihn mit einem fast akzentfreien spanischen Anpfiff: »Nada te va en eso.« Das geht dich nichts an.
Allmen kannte den Tonfall. So sprach die mittel- amerikanische Oberschicht mit ihren Domestiken. Wie lange hatte sie in den dreißig Jahren ihres Untertauchens wohl in dieser Gegend gelebt?
Carlos akzeptierte die Zurechtweisung mit einer Unterwürfigkeit, als sei er diesen Tonfall von klein auf gewohnt.
Allmen ärgerte sich darüber und reagierte etwas schärfer, als es sonst seine Art war. »Nun sagen Sie schon, wo das verdammte Bild ist. Auch wenn es für Sie nichts taugt, für uns taugt es dazu, ein Leben zu retten.«
Dalia Gutbauer antwortete mit einem Hustenanfall. Allmen wusste nicht, ob er ein Vorwand war, um Zeit zu gewinnen, oder ob sie damit einer Antwort ganz ausweichen wollte. Aber der Anfall dauerte länger, als es dafür nötig gewesen wäre. Sie presste eine Hand auf die hagere Brust und verzog vor Schmerzen das Gesicht.
Carlos ließ sich nicht täuschen. Er setzte sich langsam in Bewegung und ging drohend auf die hustende Greisin zu. Allmen griff nicht ein.
Madame Gutbauer streckte abwehrend die Hand aus und stieß zwischen zwei Hustenanfällen hervor: »Zeigen Sie es, Cheryl.«
Die Assistentin ging am Schminktisch vorbei zu einem schwarz-roten Paravent und verschwand dahinter.
Sie kam mit dem Bild zurück, trug es in die Mitte des Raumes und hielt es vor ihre Brust.
Allmen und Carlos stießen einen erschrockenen Schrei aus, der wie aus einer Kehle klang.
In dem Bild klaffte ein großes Loch. Die größte der Dahlien war herausgetrennt. Durch den Vandalenakt hatte die Leinwand ihre Spannung verloren. Die Schnittränder waren gewellt, und die Wellen setzten sich über das Gemälde fort.
Durch das Loch sah man das Muster von Cheryl Talfelds hellgelber Seidenbluse.
© 2014 Diogenes Verlag AG Zürich
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Autoren-Porträt von Martin Suter
Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, lebt mit seiner Frau in Spanien und Guatemala. Er war Werbetexter und erfolgreicher Werber, ein Beruf, den er immer wieder durch andere Schreibtätigkeiten ergänzt oder unterbrochen hat. Unter anderem "GEO"-Reportagen, zahlreiche Drehbücher für Film und Fernsehen. Seit 1991 lebt er als freier Autor, seit 1992 schreibt er die wöchentliche Kolumne "Business Class" in der "Weltwoche".Martin Suter ist am 29. März 2004 in Zürich mit der Goldenen Diogenes Eule ausgezeichnet worden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Suter
- 2014, 224 Seiten, Leinen, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257068875
- ISBN-13: 9783257068870
- Erscheinungsdatum: 26.03.2014
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