Am Beispiel meines Bruders
Es ist das bisher wohl persönlichste Buch von Uwe Timm. Er versucht, Antworten zu finden. Antworten auf die vielen Fragen, die das kurze Leben seines 16 Jahre älteren Bruders aufgeworfen hat: Karl Heinz Timm war bei einer SS-Totenkopfdivision und fiel...
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Es ist das bisher wohl persönlichste Buch von Uwe Timm. Er versucht, Antworten zu finden. Antworten auf die vielen Fragen, die das kurze Leben seines 16 Jahre älteren Bruders aufgeworfen hat: Karl Heinz Timm war bei einer SS-Totenkopfdivision und fiel sehr jung in der Ukraine. Ein schönes, kluges und trauriges Buch, das einen nicht mehr loslässt.
»Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen.« Wer war dieser Karl-Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in einem Lazarett in der Ukraine? Warum hat er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet? Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben?
Am Beispielmeines Bruders von Uwe Timm
LESEPROBE
Erhoben werden - Lachen, Jubel, eine unbändige Freude - dieseEmpfindungen begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, dassich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst,das Gedächtnis:
Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen,meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Siewerden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht:Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zudem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei einBesenschrank gewesen.
Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über demSchrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt- und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesichtkann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlichUniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ichdas blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werdehochgehoben - ich schwebe. Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahreälteren Bruder, der einige Monate später, Ende September, in der Ukraine schwerverwundet wurde.
30.9.1943
Mein Lieber Papi
Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam einPanzerbüchsenschuß durch beide Beine die die sie mir nun abgenommen haben. Daßrechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und dass linke Bein wurde amOberschenkel abgenommen sehr große Schmerzen habe ich nicht mehr tröste dieMutti es geht alles vorbei in ein paar Wochen bin ich in Deutschland dann kannsDu Mich besuchen ich bin nicht waghalsig gewesen.
Nun will ich schließen.
Es Grüßt Dich und Mama Uwe und alle
Dein Kurdel
Am 16.10.1943 um 20 Uhr starb er in dem Feldlazarett 623.
Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheitbegleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungenzwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnlicheSituationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihmdie Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durchErzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, denNachkömmling, einbezogen.
Mehrmals habe ich den Versuch gemacht, über den Bruder zuschreiben. Aber es blieb jedes Mal bei dem Versuch. Ich las in seinenFeldpostbriefen und in dem Tagebuch, das er während seines Einsatzes in Rußlandgeführt hat. Ein kleines Heft in einem hellbraunen Einband mit der AufschriftNotizen. Ich wollte die Eintragungen des Bruders mit dem Kriegstagebuch seinerDivision, der SS-Totenkopfdivision, vergleichen, um so Genaueres und über seineStichworte Hinausgehendes zu erfahren. Aber jedesmal, wenn ich in das Tagebuchoder in die Briefe hineinlas, brach ich die Lektüre schon bald wieder ab.
Ein ängstliches Zurückweichen, wie ich es als Kind von einemMärchen her kannte, der Geschichte von Ritter Blaubart. Die Mutter las mirabends die Märchen der Gebrüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen vonBlaubart, doch nur bei diesem mochte ich den Schluß nie hören. So unheimlichwar es, wenn Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in dasverschlossene Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nichtweiterzulesen.
Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchenzu Ende gelesen. Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr einStrom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, undvon einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, daß siedie Türe gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus undfiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwaschen, aberes war umsonst, wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf deranderen Seite wieder zum Vorschein.
Ein anderer Grund war die Mutter. Solange sie lebte, war es mirnicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im voraus gewußt, wassie auf meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst alsauch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei,über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, aufnichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Hin und wieder träume ich vomBruder. Meist sind es nur Traumfetzen, ein paar Bilder, Situationen, Worte.
Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt. Jemand will in dieWohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt.Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sichhereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesengesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, daß es der Bruder ist,zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloß drücken und verriegeln. Halte aberzu meinem Entsetzen eine raue, verfetzte Jacke in den Händen.
Der Bruder und ich. In anderen Träumen hat er dasselbe Gesicht wieauf den Fotos. Nur auf einem Bild trägt er Uniform. Von dem Vater gibt es vieleFotos, die ihn mit und ohne Stahlhelm, mit Feldmütze, in Dienst- und inAusgehuniform, mit Pistole und mit Luftwaffendolch zeigen. Vom uniformiertenBruder hingegen findet sich nur diese eine Aufnahme, die ihn, den Karabiner inder Hand, bei einem Waffenappell auf dem Kasernenhof zeigt. Er ist darauf nurvon fern und so undeutlich zu sehen, daß allein meine Mutter behaupten konnte,sie habe ihn sofort erkannt.
Ein Foto, das ihn in Zivil zeigt, wahrscheinlich zu der Zeitaufgenommen, als er sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, habe ich, seit ichüber ihn schreibe, in meinem Bücherschrank stehen: Ein wenig von untenaufgenommen, zeigt es sein Gesicht, schmal, glatt, und die sich andeutendesteile Falte zwischen den Augenbrauen gibt ihm einen nachdenklichen strengenAusdruck. Das blonde Haar ist links gescheitelt. Eine Geschichte, die von derMutter immer wieder erzählt wurde, war die, wie er sich freiwillig zurWaffen-SS melden wollte, sich dabei aber verlaufen hatte. Sie erzählte es so,als wäre das, was dann danach kam, vermeidbar gewesen. Eine Geschichte, die ichso früh und so oft gehört habe, daß ich alles wie miterlebt vor mir sehe.
1942, im Dezember, an einem ungewöhnlich kalten Tag,spätnachmittags, war er nach Ochsenzoll, wo die SS-Kasernen lagen,hinausgefahren. Die Straßen waren verschneit. Es gab keine Wegweiser, und erhatte sich in der einbrechenden Dunkelheit verlaufen, war aber weiter an denletzten Häusern vorbei in Richtung der Kasernen gegangen, deren Lage er sichauf dem Plan eingeprägt hatte. Kein Mensch war zu sehen. Er geht hinaus insoffene Land. Der Himmel ist wolkenlos, und nur über den Bodensenken undBachläufen liegen dünne Dunstschwaden. Der Mond ist eben über einem Gehölzaufgegangen. Der Bruder will schon umkehren, als er einen Mann entdeckt.
Eine dunkle Gestalt, die am Rand der Straße steht und über dasverschneite Feld in Richtung des Mondes blickt. Einen Moment zögert der Bruder,weil der Mann wie erstarrt dasteht, sich auch dann nicht bewegt, als er die ihmnäher kommenden, im Schnee knirschenden Schritte hätte hören müssen. Der Bruderfragt ihn, ob er den Weg zur SS-Kaserne kenne. Einen recht langen Augenblickregt sich der Mann nicht, als habe er nichts gehört, dreht sich dann langsam umund sagt: Da. Der Mond lacht. Und als mein Bruder nochmals nach dem Weg zu derKaserne fragt, sagt der Mann, er solle ihm folgen, und geht auch sogleichvoran, schnell, schreitet rüstig aus, er geht, ohne sich umzudrehen, ohne Rastdurch die Nacht.
Längst ist es zu spät, um noch zur Musterungsstelle zu kommen.Mein Bruder fragt nach dem Weg zum Bahnhof, aber der Mann geht, ohne zuantworten, vorbei an dunklen Bauernhäusern, an Ställen, aus denen das heisereMuhen zu Kühe zu hören ist. In den Radspuren splittert unter dem Tritt das Eis.Mein Bruder fragt nach einiger Zeit, ob sie denn auf dem richtigen Weg seien.Der Mann bleibt stehen, dreht sich um und sagt. Ja. Wir gehen zum Mond, da, derMond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen.
Nachts, als er nach Hause kam, erzählte mein Bruder, wie ihn einenMoment gegraust habe, und daß er später, nachdem er zu dem Bahnhofzurückgefunden hatte, zwei Polizisten getroffen habe, die einen Irren suchten,der aus den Alsterdorfer Anstalten entlaufen war. Und dann? Am nächsten Tag warer frühmorgens losgefahren, hatte die Kaserne und das Musterungsbüro gefunden,wurde auch sofort genommen:
1,85 groß, blond, blauäugig. So wurde er Panzerpionier in derSS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt.
© Deutscher Taschenbuchverlag
- Autor: Uwe Timm
- 2005, 17. Aufl., 160 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423133163
- ISBN-13: 9783423133166
- Erscheinungsdatum: 21.03.2005
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