Anklage
Ein gesamtes Dorf duldet über 25 Jahre einen Kinderschänder. Ein fremder Grundstücksinteressent gibt dem Fall einen neuen Lauf. Ein Mitglied des organisierten Verbrechens liefert Mädchen in Deutschland an Prominente und Mächtige....
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Produktinformationen zu „Anklage “
Ein gesamtes Dorf duldet über 25 Jahre einen Kinderschänder. Ein fremder Grundstücksinteressent gibt dem Fall einen neuen Lauf. Ein Mitglied des organisierten Verbrechens liefert Mädchen in Deutschland an Prominente und Mächtige. Als er auffliegt, entwickeln sich die Dinge mit unerwarteter Dynamik. An anderer Stelle müssen unschuldige Arbeitnehmer um Ihre berufliche Existenz bangen. Ihnen droht das komplette Aus, denn sie kämpfen gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner. Es scheint für alle nur eine Lösung zu geben: Ein idealistischer Anwalt, der als Neuling auszog, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch je weiter er die Karriereleiter als Strafverteidiger hochsteigt, desto mehr sieht er sich vom Morast der Käuflichkeit umgeben. Recht scheint in erster Linie eine Frage des Geldes zu sein. Er spielt das Spiel mit, bis er nicht mehr kann und sich eines Tages für die Kehrtwende auf eigene Faust entscheidet.
Markus Schollmeyers packende Geschichte über Gerechtigkeit basiert auf seinen eigenen Erfahrungen. Er gewährt uns dabei unglaubliche Einsichten in und hinter die deutschen Gerichtssäle, die Mechanismen von Anwaltskanzleien und der Rechtsprechung. Selbst auf seine Besuche in der Justizvollzugsanstalt, besser bekannt als »Knast«, nimmt er den Leser mit. Als Strafverteidiger erhebt er Anklage gegen die Käuflichkeit von Gerechtigkeit. Er bleibt nicht im Zynismus vieler seiner Kollegen stecken, sondern hält ein Plädoyer für mehr Werte und auch mehr echte Freiheit auf Basis von gegenseitigem Vertrauen. Absolute Thrillerqualität!
Markus Schollmeyers packende Geschichte über Gerechtigkeit basiert auf seinen eigenen Erfahrungen. Er gewährt uns dabei unglaubliche Einsichten in und hinter die deutschen Gerichtssäle, die Mechanismen von Anwaltskanzleien und der Rechtsprechung. Selbst auf seine Besuche in der Justizvollzugsanstalt, besser bekannt als »Knast«, nimmt er den Leser mit. Als Strafverteidiger erhebt er Anklage gegen die Käuflichkeit von Gerechtigkeit. Er bleibt nicht im Zynismus vieler seiner Kollegen stecken, sondern hält ein Plädoyer für mehr Werte und auch mehr echte Freiheit auf Basis von gegenseitigem Vertrauen. Absolute Thrillerqualität!
Klappentext zu „Anklage “
Der erschütternde Einblick eines Insiders in die Welt des RechtsEr ist aus Berufung Anwalt geworden. Als idealistischer Neuling zog er aus, um für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch je weiter er die Karriereleiter als Strafverteidiger hochsteigt, desto mehr sieht er sich vom Morast der Käuflichkeit umgeben. Recht scheint in erster Linie eine Frage des Geldes zu sein. Er spielt das Spiel mit, bis er nicht mehr kann und sich eines Tages für die Kehrtwende entscheidet.
Markus Schollmeyers packende Geschichte über Gerechtigkeit basiert auf seinen eigenen Erfahrungen. Er gewährt uns dabei unglaubliche Einsichten in und hinter die deutschen Gerichtssäle, die Mechanismen von Anwaltskanzleien und der Rechtssprechung. Selbst auf seine Besuche in der Justizvollzugsanstalt, besser bekannt als "Knast", nimmt er den Leser mit. Die Schilderungen seiner außergewöhnlichen und packenden Fälle lesen sich wie ein Thriller. Als ehemaliger Strafverteidiger erhebt er Anklage gegen die Käuflichkeit von Gerechtigkeit. Er bleibt nicht im Zynismus vieler seiner Kollegen stecken, sondern hält ein Plädoyer für mehr Werte und auch mehr echte Freiheit auf Basis von gegenseitigem Vertrauen.
Absolute Thrillerqualität: Anwalt Markus Schollmeyer schildert anhand unglaublicher Fälle seinen Kampf um Gerechtigkeit.
Ein gesamtes Dorf duldet über 25 Jahre einen Kinderschänder. Ein fremder Grundstücksinteressent gibt dem Fall einen neuen Lauf. Ein Mitglied des organisierten Verbrechens liefert Mädchen in Deutschland an Prominente und Mächtige. Als er auffliegt, entwickeln sich die Dinge mit unerwarteter Dynamik. An anderer Stelle müssen unschuldige Arbeitnehmer um Ihre berufliche Existenz bangen. Ihnen droht das komplette Aus, denn sie kämpfen gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner. Es scheint für alle nur eine Lösung zu geben: Ein idealistischer Anwalt, der als Neuling auszog, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Doch je weiter er die Karriereleiter als Strafverteidiger hochsteigt, desto mehr sieht er sich vom Morast der Käuflichkeit umgeben. Recht scheint in erster Linie eine Frage des Geldes zu sein. Er spielt das Spiel mit, bis er nicht mehr kann und sich eines Tages für die Kehrtwende auf eigene Faust entscheidet.Markus Schollmeyers packende Geschichte über Gerechtigkeit basiert auf seinen eigenen Erfahrungen. Er gewährt uns dabei unglaubliche Einsichten in und hinter die deutschen Gerichtssäle, die Mechanismen von Anwaltskanzleien und der Rechtsprechung. Selbst auf seine Besuche in der Justizvollzugsanstalt, besser bekannt als "Knast", nimmt er den Leser mit. Als Strafverteidiger erhebt er Anklage gegen die Käuflichkeit von Gerechtigkeit. Er bleibt nicht im Zynismus vieler seiner Kollegen stecken, sondern hält ein Plädoyer für mehr Werte und auch mehr echte Freiheit auf Basis von gegenseitigem Vertrauen. Absolute Thrillerqualität!
Lese-Probe zu „Anklage “
Gleich würde es überstanden sein. Vom Fensterbrett des fünften Stockwerks aus konnte man weit sehen. Von hier oben sah alles so harmonisch aus. Besonders an so einem herrlichen Frühlingstag: Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte die Großstadt in ein fröhliches Licht. In den belebten Straßencafes der Prachtmeile war jeder Platz besetzt. Viele Tische waren beladen mit Geschirr. Die Kellner kamen mit dem Abräumen gar nicht mehr nach, trotzdem ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Gäste störte das nicht weiter. Wer das Glück hatte, einen Platz in der ersten Reihe ergattert zu haben, nahm ein bisschen Geschirr auf dem Tisch gern in Kauf. Zum Bestellen reichte der Blickkontakt mit dem Kellner: eine Geste auf ein leeres Glas und mit den Fingern der anderen Hand die Anzahl gezeigt, und er wusste Bescheid.Die Luxusboutiquen mit ihren Nobelmarken spien unentwegt Menschen mit bunten Tüten aus, während sie gleichzeitig ebenso viele Menschen einsogen. Offene Cabrios mit lauter Musik rollten die Straße entlang.
Dort unten breitete sich das Flair südlicher Lebensart aus mit einer entspannenden Urlaubsatmosphäre - einfach himmlisch. Hier oben sah die Welt ganz anders aus. Hier oben war die Hölle, in der ein riesiges Fegefeuer brannte. Flammen, die auf einen ganz bestimmten Sterblichen warteten: auf mich. Ich hatte die Hoffnung, durch dieses Feuer gereinigt und von all meiner Pein erlöst zu werden.
Es fehlte nur noch ein einziger, entscheidender Schritt nach vorn für meine persönliche Lösung.
Mein Blick blieb an der Mittellinie der Straße hängen. Ursprünglich ein reines Weiß, war sie oft überfahren, abgenutzt und grau geworden. Diese Mischfarbe erinnerte mich an mein Leben als Anwalt. Ein Leben, das einst weiß und rein war, richtiggehend poliert schien, und nun hässliche, dunkle Flecke aufwies. Und nun stand ich im fünften Stock, mein Schreibtisch war aufgeräumt und alles, was noch wichtig und zu erledigen war, hatte ich niedergeschrieben.
Aber welches
... mehr
Leben hatte keine dunklen Flecke, wer war schon frei von Fehlern?
Meine Gedanken schweiften zurück in meine Studentenzeit. Ich war ein engagierter und enthusiastischer Idealist gewesen. Mein Ziel war Gerechtigkeit und ich war sicher, dass ich mithelfen konnte, sie in der Welt zu halten. Oder sie auch manchmal in die Welt zu bringen. Dafür studierte ich Jura, bestand alle diese schweren Prüfungen beim ersten Anlauf. Nach den beiden Examen war sofort klar, dass ich Anwalt werde. Ich wollte für die Gerechtigkeit kämpfen, sonst nichts. Das hatte ich dann auch bei der Zulassung zur Anwaltschaft geschworen. Vor allem aber hatte ich es mir aus tiefstem Herzen vorgenommen. Ich meinte jede Silbe des Schwurs ernst. "Recht und Gerechtigkeit sind mein Ziel und dabei bin ich unabhängig und frei." Meine Karriere hatte ganz gut angefangen und ich wähnte mich zu Beginn auf dem richtigen Weg, doch jetzt stand ich nur einen Schritt vor dem endgültigen Ende. Aber was hatte mich nur an diesen absoluten Tiefpunkt meines Lebens gebracht? Welche Macht hatte auf mich eingewirkt, die mich innerlich verbogen, ja, zerrissen hat? Ich versuchte mir diese Frage zu beantworten, während ich weiter auf die Mittellinie starrte. War ich tatsächlich am Ende angelangt? Gab es keinen anderen Ausweg als diesen, als all dem ein Ende zu setzen durch einen Sprung aus dem fünften Stockwerk? Ich fühlte mich leer, müde und traurig. Von außen betrachtet hatte ich doch alles erreicht. Der Job als Anwalt hatte mir ein Leben in Luxus erlaubt. Dennoch stand ich hier.
Mein Leben begann vor meinem inneren Auge abzulaufen: Kindheit, Freunde, Schule, Studium.
Meine Gedanken sprangen zurück an einen Tag im November. Damals war ich 29 Jahre alt, enthusiastisch und Anwalt für Strafrecht und Arbeitsrecht in einer größeren Kanzlei einer langweiligen Kleinstadt. Die Kanzlei war modern, erfolgreich und perfekt organisiert. An diesem Tag begann, was mich schlussendlich hierherbrachte.
Ich hatte um diesen Fall wirklich nicht gebeten, ja, ich habe ihn mir nicht einmal gewünscht. Und doch erreichte er mich - der Fall, der mein Leben verändern sollte.
Als ich mich an einem trüben Novembervormittag auf den Weg zu einer großen Polizeidienststelle machte, um einen neuen Mandanten zu treffen, hatte ich aber davon noch keine Ahnung. In der Kanzlei hatten sie mir gesagt, es sei ein ganz großes Ding. Wie schmutzig und niederträchtig dieser Fall tatsächlich war, darüber haben sie kein Wort fallen gelassen. Vielleicht, weil sie es selbst nicht wussten, vielleicht, weil sie es sich auch nicht vorstellen konnten.
Es war einer dieser Anrufe gewesen, bei denen ein Festgenommener von seinem Recht Gebrauch macht, sich einen Anwalt zu nehmen und ihn telefonisch herbeizubitten. Viel Zeit bleibt ihm dafür nicht, denn die Polizisten drängen in der Regel auf ein schnelles Ende des Gesprächs. Hätte ein Festgenommener nicht das gesetzliche Recht auf anwaltlichen Beistand oder zumindest einen Anruf, würde das Gespräch in den meisten Fällen ganz entfallen. Denn Polizisten schätzen die Anwesenheit von Anwälten nicht, unterstellt man diesen doch, sie hätten nur das eine Ziel: die Schuld des Festgenommenen zu verschleiern und die weiteren Ermittlungen zu erschweren. Als Anwalt bekommt man diese Einstellung des Öfteren deutlich zu spüren.
Mir war das jedoch zu diesem Zeitpunkt egal, denn ich war aus Berufung Anwalt geworden und ich glaubte an mich und die Gerechtigkeit. Ich war jung und hungrig nach Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, wie ich sie mir naiv vorstellte. Es war aber nicht nur mein Beruf, es war meine innere Berufung, die mich über meine Grenzen hinausführen sollte.
Auf dem Weg zur Polizeidienststelle überlegte ich, um was es bei dem "großen Ding" gehen könnte. Vielleicht war es ein Raubüberfall oder sogar ein Mord? Gerade im deprimierend grauen Monat November werden brutale Verbrechen begangen, die uns aus der Alltagsroutine reißen und deren Grausamkeit die Menschen an die Zeit erinnert, als es noch keine Zivilisation gab. Eine Zeit, in der der Stärkste sich mit dem Brutalsten um die Vorherrschaft stritt. Unmenschliche Grausamkeiten glauben wir oft überwunden zu haben, doch dann holen sie uns unvermutet wieder ein. Wie eine Mahnung aufzupassen. Aufzupassen, dass wir nicht aus dem Ruder laufen. Aufzupassen, dass wir uns eine friedliche Koexistenz als Ziel stecken und nicht mit allen Mitteln nach Macht, Dominanz und Vorherrschaft streben.
Die Medien stürzen sich förmlich auf diese brutalen Straftaten und schlachten sie regelrecht aus. Die Schlagzeilen sind dann voll mit sogenannten Blutüberschriften. Man liest vom "brutalen Axtmörder", vom "Schlächter aus der Innenstadt" oder auch von der "hinterhältigen Giftmörderin". Bis ins Detail werden das Grauen des Tatorts und der Tathergang beschrieben. Für die Person des Täters interessieren sich Journalisten und auch Öffentlichkeit nicht. Keine Silbe ist davon zu lesen, was den Täter dazu gebracht haben könnte, eine wahrlich nicht alltägliche Grausamkeit an den Tag zu legen. Aber wen interessiert schon die schlechte Kindheit eines Täters, wenn das Mitgefühl aller den Opfern und deren Angehörigen gehört? Für einen Anwalt ist das sehr wohl wichtig. Ein Täter darf nur nach seiner Schuld bestraft werden, so lautet die edle Maxime des Strafrechts, die jedem Jurastudenten eingebläut wird. Dazu gehört auch, dass die Probleme des Täters berücksichtigt werden. Und seine psychischen Krankheiten. Ob man einen depressiven Täter milder bestrafen sollte als einen, der das Glück hatte gesund zu sein, das war eine der typischen Fragen der Professoren. Die Schuldfrage war der Teil der Gerechtigkeit, den man im Studium besonders intensiv beigebracht bekommt. Das Beurteilungsvermögen soll den logischen Juristen vom emotionalen Menschen unterscheiden. Ob die Juristen ihre elitäre Selbsteinschätzung aus diesem Punkt beziehen? Menschen handeln, Juristen urteilen. Dazu werden sie ausgebildet, denn schließlich endet das Jurastudium in unserem Land offiziell mit der "Befähigung zum Richteramt". Ein guter Anwalt zu sein, das hingegen muss man sich selbst beibringen. In manchen Bundesländern müssen angehende Richter sogar eine Mindestzeit als Staatsanwalt hinter sich bringen, bevor sie auf den Richterstuhl dürfen. Die Frage, ob ein Richter, der zuvor zum Staatsanwalt "trainiert" wurde und die Sichtweise des Anklagenden verinnerlichen musste, um als Staatsanwalt zu bestehen, später eine unabhängige Meinung vom Täter haben kann, habe ich mir nie ernsthaft gestellt. Vielleicht, weil ich zu sehr beschäftigt war Anwalt zu sein, vielleicht, weil ich an das Gute im Menschen glaubte. Kann echte Gerechtigkeit entstehen, wenn ein ausgebildeter Richter auf einen Anwalt trifft, der sich selbst um seine Fähigkeiten kümmern muss? Oder beendet das die Rechtsfälle nur einfach schneller?
Mit diesen Gedanken im Kopf stellte ich meinen Wagen auf dem grau-tristen Hof der Polizei ab. Ich schnappte mir meine Aktentasche, stieg aus und zog meinen Mantel über. Mit großen, ungeduldigen Schritten ging ich zum Eingang der Polizeistation. Meiner Verantwortung und meinem Schicksal entgegen.
Dass man mich damals als den jüngsten Anwalt der Kanzlei zu einem "großen Ding" schickte, gefiel mir. Offensichtlich würdigte man meine Arbeit. Das dachte ich zumindest. Ich fühlte mich großartig. Nur noch schnell den Papierkram am Empfang erledigt, und schon ging's mit Riesenschritten Richtung Gerechtigkeit. In Gedanken sah ich mich schon mit wehender Robe vor Gericht auf Freispruch plädieren. Welch naiver Gedanke!
Dieser Tag war mein letzter Tag als Jurist, danach wurde ich Anwalt. Ein harter, verschlagener, listiger und erfolgreicher Anwalt. Das war mir alles nicht bewusst, als ich meinen Namen an der Empfangspforte der Polizei nannte und Einlass verlangte. Ich verlangte ihn so, dass man meinen konnte, ich vertrete einen unschuldigen Dissidenten in einer übermächtigen und herzlosen Diktatur. Einen Menschen also, der dafür bestraft wird, nur weil er seine Menschenrechte wahrgenommen hat. Aber so ein Mandant wartete nicht auf mich. Eher das genaue Gegenteil. Ein echter Verbrecher! Der Polizist am Empfang reagierte ruhig und professionell, aber in seinen Augen konnte ich Verachtung lesen. Die Verachtung eines Menschen, der schon viel Leid gesehen hatte. Mir fiel nicht auf, dass diese Verachtung meinem unsensiblen Auftreten galt. Denn ich sah ihn als Feind. Einen Feind, gegen den man sich durchsetzen musste. Den man niederkämpfen musste. Genauso wie das Generationen von Anwälten vor mir gemacht hatten.
Es traf mich wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so heftig werden würde: Die Kanzlei hatte mich zum "Monster" geschickt. So nannte die Presse den Mann, der seit mehr als 25 Jahren Kinder missbraucht hatte. Sexueller Missbrauch von Kindern in 147 Fällen lautete der Tatvorwurf! Mir wurde schlecht und mein Bauch sagte mir, dass ich besser gehen sollte. Doch mein Kopf sagte, dass es eine große Chance sei, einen solchen Täter zu verteidigen, und ich diese Chance unbedingt nutzen sollte. Mit so einem Fall könnte man als Strafverteidiger berühmt und sehr erfolgreich werden. Finanziell erfolgreich. Außerdem wäre das doch die Gelegenheit, sich in der Kanzlei eine gute Ausgangsposition auf dem Weg zur Partnerschaft zu sichern. Davon träumen schließlich alle jungen Anwälte. Die Partnerschaft in einer renommierten Kanzlei ist fast die einzige Möglichkeit, als Anwalt nachhaltig finanziell abgesichert zu sein. Anders als manche selbstständige Anwälte, die oft nicht das verdienen, was man für ein ordentliches Leben benötigt, braucht man sich als Partner einer guten Kanzlei keine Gedanken um das liebe Geld zu machen. Man hat es einfach und kann das Klischee bedienen, das viele Menschen von Anwälten haben: reiche Zeitgenossen, die ein luxuriöses Leben führen. Ich malte mir eine rosige Zukunft aus. Außerdem war da ja noch meine Berufung. Ich wollte nicht nur Jurist sein, sondern Anwalt! Jemand, der sich für andere einsetzt, für die Gerechtigkeit arbeitet und siegt. Schließlich hat auch ein Straftäter Anspruch auf eine ordentliche Verteidigung. So steht es im Gesetz und so haben es die Professoren an der Uni gelehrt. Sofort war ich überzeugt, das Richtige zu tun, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein. Und zimperlich war ich doch auch noch nie. Ich musste doch das Monster einfach nur verteidigen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Mein Bauch dagegen erkannte: Ich war gerade dabei, ein Anwalt zu werden, den jeder kaufen kann ohne auf Gerechtigkeit achten zu müssen. Ein Anwalt, der einem für Geld beisteht und dabei vor allem seinen persönlichen Vorteil im Kopf hat. Also jemand, der ohne zu fragen etwas tat, was die meisten Menschen sofort strikt ablehnen würden. Wer will sich schon auf die Seite eines Kinderschänders stellen? Ursprünglich war ich doch im Anwaltsberuf angetreten, um der Gerechtigkeit zu dienen und merkte nun nicht, dass ich dabei war mich zu prostituieren. Prostituieren nicht deshalb, weil ich diesen Mandanten überhaupt vertrat, sondern weil ich es nur wegen des eigenen Vorteils tat.
"Ich möchte meinen Mandanten sprechen", fuhr ich den Polizisten an, und er kam anstandslos dem nach, wozu ihn das Gesetz verpflichtet: Er ließ einen Anwalt zu seinem Mandanten. Ich gab dem Beamten den Papierkram zurück, der notwendig ist, wenn man einen inhaftierten Mandanten besucht. Wesentlichster Bestandteil dieser Unterlagen war die Besucherliste. In diese Liste hatte ich mich groß und deutlich eingetragen. Ich wollte, dass die Menschen wissen, wer diesen Mandanten vertritt. Ich wollte mit diesem Fall meinen Anwaltsstern aufgehen lassen.
Wortlos zeigte der Polizist auf eine gesicherte und mehrfach verschlossene weiße Stahltür. Vor dieser Stahltür war ein Klingelknopf angebracht. "Zellenaufsicht" stand darunter. Ich ging mit schnellen Schritten zu dieser Tür und drückte den Klingelknopf, worauf ein Summen ertönte und ich die Tür öffnen konnte.
Hinter der Tür war ein kleiner Raum, an dessen Ende sich wiederum eine weiße, mehrfach gesicherte und verschlossene Stahltür befand. Einen Klingelknopf gab es an dieser Tür nicht. Ich drehte mich kurz um, als die Stahltür, durch die ich den Raum betreten hatte, mit einem satten Geräusch ins Schloss fiel. Hier gab es nun keine Klingel mehr. Ich war eingesperrt. "Man kommt hier nur raus, wenn einen die Staatsmacht auch lässt", dachte ich und erinnerte mich an eine Vorlesung, in der Anwälte als Kämpfer für Bürgerrechte heroisiert wurden. "Niemand sollte unberechtigt eingesperrt werden, dafür haben Anwälte zu sorgen", donnerte der Professor immer. In diesem Augenblick konnte ich diese Macht, die von verschlossenen Türen und starken Mauern ausging, zum ersten Mal spüren. Freiheit ist unbezahlbar! Leider ist uns das viel zu wenig bewusst. Vielleicht muss man erst genommen bekommen, was man braucht, bevor man merkt, wie wichtig es ist. Ich konnte nun wenigstens erahnen, was es heißt seine Freiheit zu verlieren.
Insoweit war ich sehr froh, dass es in unserem Rechtssystem einen Haftrichter gibt, dessen Aufgabe darin besteht, über die Anordnung der sogenannten Untersuchungshaft zu entscheiden. Eine Instanz also, die Willkür und Machtmissbrauch verhindern soll. Ich hatte zwar in meinem bisherigen Anwaltsleben noch keinen Haftrichter zu Gesicht bekommen, dazu waren die bisherigen Fälle nicht groß genug. Aber ich war mir sicher, dass ich es mit ihm aufnehmen konnte und das natürlich auch in diesem Fall machen würde.
Ich verlor mich in diesen Gedanken, bis meine Aufmerksamkeit wieder zu dem Raum zurückkehrte, indem ich mich gerade befand. Es war eine Art Schleuse, ein Raum der totalen Kontrolle. In der oberen Ecke gegenüber dem Eingang hing eine Videokamera. Sie filmte jeden Winkel und gab den Wachbeamten, die in einem anderen Raum saßen, die Möglichkeit, am Monitor zu sehen was in dieser Schleuse passierte und ob sie die Tür auch tatsächlich öffnen sollten. Nur wenn die Wachbeamten den ferngesteuerten Öffner betätigten, konnte man aus diesem Raum entkommen. Die damit verbundene momentane Ohnmacht in meiner persönlichen Bewegungsfreiheit ließ mich erschaudern.
Diese Situation wirkte aber nur so lange bedrohlich, bis das laute Brummen des elektrischen Türöffners anzeigte, dass die gegenüberliegende Stahltür am Auslass geöffnet werden konnte. Sofort griff ich nach dem Türknauf und verließ die Schleuse. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich damit zugleich einen Schritt in ein anderes Leben machte. Es würde nichts mehr so sein wie früher.
Auf dem Weg zu meinem Mandanten nahm mich jetzt ein uniformierter Polizist in Empfang. Er war groß und hatte resolute Gesichtszüge. Mit diesem Wachmann war nicht zu spaßen; seine Statur und seine Ausstrahlung verrieten sofort, dass er genau wusste, wie er Menschen zur Räson bringen konnte. Ich folgte ihm zur Zelle meines Mandanten. Und da war sie. Die Zelle, in der das Monster saß. Einen kurzen Augenblick erfasste mich Unbehagen, denn in wenigen Sekunden würde ich hineingehen und dem leibhaftigen Monster gegenübersitzen. Alles, was ich von ihm aus der Presse wusste, ließ ihn überaus gefährlich erscheinen. Doch dann meldete sich mein Stolz zu Wort, der mir sagte, dass ich schließlich sein Anwalt sei. Und das sei ja schließlich eine echte Auszeichnung. Dieser Gedanke siegte über meine Zweifel und meine Unsicherheit.
Die Tür zur Zelle wurde geöffnet und ich trat ohne zu zögern ein. In der rechten Hand hatte ich meine Aktentasche, in der linken einen Klappstuhl. Den hatte mir der Wachbeamte mitgegeben, falls ich mich beim Gespräch setzen wollte. Das fand ich seltsam. Vielleicht hatten sich andere Anwälte beschwert, weil sie nicht auf abgenutzten Zellenmöbeln sitzen wollten? Mir kam nicht in den Sinn, dass es vielleicht einfach nur keine Stühle in der Zelle gab. Um keine unnötige Diskussion mit dem Wachmann zu führen, nahm ich den Stuhl mit. Hinter mir fiel die schwere Zellentür ins Schloss. Der Polizist verriegelte die Tür mehrfach. Von da an war ich mit meinem Mandanten allein.
Ich blickte mich in der Zelle um. Sie war ungefähr zehn Quadratmeter groß, rechteckig und durchgehend weiß gefliest. Auch die Decke hatte Fliesen. An der rechten Wand neben der Zellentür war ein Stehklo aus Aluminium, wie man es aus Urlauben im Süden kennt. In der anderen Ecke befand sich eine an der Wand befestigte Pritsche. Sonst war in dem Raum nichts - gut, dass ich einen Stuhl dabei hatte. Mein Mandant war wohl in eine Art Ausnüchterungszelle eingesperrt worden. Später sagte mir ein Polizist, dass sie das immer so machen bei frisch Festgenommenen, denen erhebliche Straftaten vorgeworfen werden. Schließlich weiß man nie, wie diese Menschen reagieren. Manche versuchen, sich das Leben zu nehmen, andere wiederum machen sich vor Angst über die Entdeckung und deren Folgen in die Hose. In beiden Fällen verursacht das eine Verunreinigung. Deshalb bringe man in dieser Dienststelle Täter, bei denen ein solcher "Verunreinigungsverdacht" besteht, lieber in eine Zelle, die man leichter reinigen kann als herkömmliche Zellen. Zur Not auch mal mit einem Dampfstrahler, der das Blut etwaiger Selbstmordversuche am besten beseitigen kann.
Offenbar bestand nach Ansicht der Polizisten auch bei diesem Inhaftierten die Gefahr einer "Verunreinigung", eventuell durch Selbstmord. Manche Blicke, die ich auf dem Polizeirevier bemerkte, ließen in mir die Vermutung aufkommen, dass dem einen oder anderen Beamten die Erfüllung dieser Erwartung keineswegs unrecht gewesen wäre.
Und mein Mandant? Auf der Pritsche saß er, ein etwa 65-jähriger, fast winziger Mann. Ich habe ihn in diesem Augenblick auf etwa 1,60 Meter geschätzt. Später sollte ich in der Akte lesen, dass er 1,64 Meter maß. Er wog vielleicht 50 Kilo, großzügig geschätzt. An seinem schmächtigen Körper hing ein verdreckter Arbeitsoverall, wie er von Landwirten getragen wird. Seine Füße steckten in abgewetzten, schwarzen Gummistiefeln. Das Haar war wirr und sein Gesicht unrasiert. Die dürren Finger mit ungeschnittenen Nägeln, unter denen Dreck zu sehen war, komplettierten seine ungepflegte Erscheinung. Erst jetzt fiel mir der beißende Geruch auf, der die Zelle erfüllte. Es roch nicht nur nach Gülle, es stank zum Himmel. Ich empfand Ekel, zumal mir das ihm vorgeworfene Delikt in den Sinn kam. Mein Bauchgefühl meldete sich in diesem Augenblick wieder und empfahl mir, einfach wieder ins Büro zu gehen und alles zu vergessen. Doch auch an dieser Stelle hörte ich nicht auf meinen Bauch, sondern gab weiter der Stimme nach, die mir einen gewaltigen Vorteil aus der Verteidigung des Kinderschänders in Aussicht stellte. Der zukünftige große Anwalt ein Schwächling? Niemals!
Mein Mandant musterte mich mit kleinen, stechenden Augen, während ich mich vorstellte. Er wendete den Blick erst von mir ab, als ich ihn nochmals mit dem Tatvorwurf konfrontierte und viel zu höflich bat, mir seine Sicht der Dinge zu erläutern. Eine kleine Pause entstand. Er hob seinen zerzausten Kopf und sah mich zum ersten Mal direkt an. Mir wurde kalt auf meinem Klappstuhl, aber ich bewahrte Haltung. Wozu war ich denn in den USA auf eine Schauspielschule gegangen, wenn nicht dafür, in solchen Situationen meine Mimik und Gestik nicht entgleisen zu lassen.
"Was ist denn nun passiert, aus Ihrer Sicht?", hakte ich noch einmal nach.
"Es waren nicht so viele, vielleicht zwei oder drei. Aber niemals einhundertsiebenundvierzig", sagte er mit dünner Stimme. Eine Stimme, die so gar nicht zu einem Monster passte. Dann fuhr er monoton fort: "Und die Kinder haben es so gewollt." Mir wurde wieder übel, es würgte mich regelrecht. Das schlug doch dem Fass den Boden aus. Wie konnte er nur so etwas behaupten! Dachte er von mir, ich würde akzeptieren, dass er so einen respektlosen Schwachsinn auch öffentlich erzählt, etwa noch dazu in einem Gerichtssaal?
"Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Solche Aussagen sind nicht nur Hohn und Spott für die Opfer, sie sind frech und dumm zugleich", platzte es aus mir heraus.
Mein Mandant zuckte mit keiner Wimper, starrte mich nur regungslos an. Ich dagegen wollte nur raus, einfach weg und den ganzen Schlamassel vergessen. Aber ich riss mich zusammen. "Wenn Sie so was noch einmal sagen, dann können Sie sich einen neuen Anwalt suchen. Ist das klar?" Er nickte ruhig und ernst.
"Erzählen Sie weiter", herrschte ich ihn an, "sonst werden wir hier nie fertig. Ich muss ja auch noch eine mündliche Haftprüfung beantragen, sonst kommen Sie hier ja nie raus."
Nun erzählte mein Mandant die schrecklichen Details seiner Taten, wobei er dabei blieb, dass es viel weniger Opfer seien, als man ihm vorwerfen würde. Obwohl ich ihm nicht glaubte, ließ ich ihn gewähren, um seinen Redefluss nicht zu unterbrechen. Und so beschrieb er all die unfassbaren Details, aber nur für die Delikte, für die er sich offensichtlich verantworten wollte. Alle anderen Vorwürfe stritt er ab. Erstaunlich war dabei die Art, wie er erzählte. Seine Berichte waren frei von jeder Gefühlsregung. Sie klangen wie die Erzählung eines Dritten, der in aller Sachlichkeit einen Bericht für eine Gerichtsakte formuliert. Keine Emotionen, kein Bedauern oder gar Reue, aber auch keine Rechtfertigung. Man konnte aus seinen Erzählungen nicht heraushören, warum er diese Taten vollbracht und welche Empfindungen er selbst dabei gehabt hatte. Mir war das in diesem Augenblick recht; ich wollte das nicht hören und war bemüht, zu diesen schrecklichen Taten wenigstens ein bisschen innerliche Distanz zu halten, um das alles ertragen zu können.
Das Gespräch endete damit, dass ich ihn eine Honorarvereinbarung unterschreiben ließ. Ein Vordruck, bei dem nur noch Name, Delikt und Honorarsumme eingetragen werden mussten. Ich forderte ein exorbitant hohes Honorar. Er akzeptierte den Betrag ohne zu zögern.
Ich rief den Wachmann, durchquerte die Schleuse zurück in Richtung Freiheit und fuhr zurück in die Kanzlei. Dort musste ich den Antrag auf eine mündliche Haftprüfung vorbereiten, um vor einem Richter zu begründen, warum mein Mandant aus der Untersuchungshaft entlassen werden sollte. Ich war fest entschlossen, das auch wirklich zu erreichen.
Meine Gedanken schweiften zurück in meine Studentenzeit. Ich war ein engagierter und enthusiastischer Idealist gewesen. Mein Ziel war Gerechtigkeit und ich war sicher, dass ich mithelfen konnte, sie in der Welt zu halten. Oder sie auch manchmal in die Welt zu bringen. Dafür studierte ich Jura, bestand alle diese schweren Prüfungen beim ersten Anlauf. Nach den beiden Examen war sofort klar, dass ich Anwalt werde. Ich wollte für die Gerechtigkeit kämpfen, sonst nichts. Das hatte ich dann auch bei der Zulassung zur Anwaltschaft geschworen. Vor allem aber hatte ich es mir aus tiefstem Herzen vorgenommen. Ich meinte jede Silbe des Schwurs ernst. "Recht und Gerechtigkeit sind mein Ziel und dabei bin ich unabhängig und frei." Meine Karriere hatte ganz gut angefangen und ich wähnte mich zu Beginn auf dem richtigen Weg, doch jetzt stand ich nur einen Schritt vor dem endgültigen Ende. Aber was hatte mich nur an diesen absoluten Tiefpunkt meines Lebens gebracht? Welche Macht hatte auf mich eingewirkt, die mich innerlich verbogen, ja, zerrissen hat? Ich versuchte mir diese Frage zu beantworten, während ich weiter auf die Mittellinie starrte. War ich tatsächlich am Ende angelangt? Gab es keinen anderen Ausweg als diesen, als all dem ein Ende zu setzen durch einen Sprung aus dem fünften Stockwerk? Ich fühlte mich leer, müde und traurig. Von außen betrachtet hatte ich doch alles erreicht. Der Job als Anwalt hatte mir ein Leben in Luxus erlaubt. Dennoch stand ich hier.
Mein Leben begann vor meinem inneren Auge abzulaufen: Kindheit, Freunde, Schule, Studium.
Meine Gedanken sprangen zurück an einen Tag im November. Damals war ich 29 Jahre alt, enthusiastisch und Anwalt für Strafrecht und Arbeitsrecht in einer größeren Kanzlei einer langweiligen Kleinstadt. Die Kanzlei war modern, erfolgreich und perfekt organisiert. An diesem Tag begann, was mich schlussendlich hierherbrachte.
Ich hatte um diesen Fall wirklich nicht gebeten, ja, ich habe ihn mir nicht einmal gewünscht. Und doch erreichte er mich - der Fall, der mein Leben verändern sollte.
Als ich mich an einem trüben Novembervormittag auf den Weg zu einer großen Polizeidienststelle machte, um einen neuen Mandanten zu treffen, hatte ich aber davon noch keine Ahnung. In der Kanzlei hatten sie mir gesagt, es sei ein ganz großes Ding. Wie schmutzig und niederträchtig dieser Fall tatsächlich war, darüber haben sie kein Wort fallen gelassen. Vielleicht, weil sie es selbst nicht wussten, vielleicht, weil sie es sich auch nicht vorstellen konnten.
Es war einer dieser Anrufe gewesen, bei denen ein Festgenommener von seinem Recht Gebrauch macht, sich einen Anwalt zu nehmen und ihn telefonisch herbeizubitten. Viel Zeit bleibt ihm dafür nicht, denn die Polizisten drängen in der Regel auf ein schnelles Ende des Gesprächs. Hätte ein Festgenommener nicht das gesetzliche Recht auf anwaltlichen Beistand oder zumindest einen Anruf, würde das Gespräch in den meisten Fällen ganz entfallen. Denn Polizisten schätzen die Anwesenheit von Anwälten nicht, unterstellt man diesen doch, sie hätten nur das eine Ziel: die Schuld des Festgenommenen zu verschleiern und die weiteren Ermittlungen zu erschweren. Als Anwalt bekommt man diese Einstellung des Öfteren deutlich zu spüren.
Mir war das jedoch zu diesem Zeitpunkt egal, denn ich war aus Berufung Anwalt geworden und ich glaubte an mich und die Gerechtigkeit. Ich war jung und hungrig nach Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, wie ich sie mir naiv vorstellte. Es war aber nicht nur mein Beruf, es war meine innere Berufung, die mich über meine Grenzen hinausführen sollte.
Auf dem Weg zur Polizeidienststelle überlegte ich, um was es bei dem "großen Ding" gehen könnte. Vielleicht war es ein Raubüberfall oder sogar ein Mord? Gerade im deprimierend grauen Monat November werden brutale Verbrechen begangen, die uns aus der Alltagsroutine reißen und deren Grausamkeit die Menschen an die Zeit erinnert, als es noch keine Zivilisation gab. Eine Zeit, in der der Stärkste sich mit dem Brutalsten um die Vorherrschaft stritt. Unmenschliche Grausamkeiten glauben wir oft überwunden zu haben, doch dann holen sie uns unvermutet wieder ein. Wie eine Mahnung aufzupassen. Aufzupassen, dass wir nicht aus dem Ruder laufen. Aufzupassen, dass wir uns eine friedliche Koexistenz als Ziel stecken und nicht mit allen Mitteln nach Macht, Dominanz und Vorherrschaft streben.
Die Medien stürzen sich förmlich auf diese brutalen Straftaten und schlachten sie regelrecht aus. Die Schlagzeilen sind dann voll mit sogenannten Blutüberschriften. Man liest vom "brutalen Axtmörder", vom "Schlächter aus der Innenstadt" oder auch von der "hinterhältigen Giftmörderin". Bis ins Detail werden das Grauen des Tatorts und der Tathergang beschrieben. Für die Person des Täters interessieren sich Journalisten und auch Öffentlichkeit nicht. Keine Silbe ist davon zu lesen, was den Täter dazu gebracht haben könnte, eine wahrlich nicht alltägliche Grausamkeit an den Tag zu legen. Aber wen interessiert schon die schlechte Kindheit eines Täters, wenn das Mitgefühl aller den Opfern und deren Angehörigen gehört? Für einen Anwalt ist das sehr wohl wichtig. Ein Täter darf nur nach seiner Schuld bestraft werden, so lautet die edle Maxime des Strafrechts, die jedem Jurastudenten eingebläut wird. Dazu gehört auch, dass die Probleme des Täters berücksichtigt werden. Und seine psychischen Krankheiten. Ob man einen depressiven Täter milder bestrafen sollte als einen, der das Glück hatte gesund zu sein, das war eine der typischen Fragen der Professoren. Die Schuldfrage war der Teil der Gerechtigkeit, den man im Studium besonders intensiv beigebracht bekommt. Das Beurteilungsvermögen soll den logischen Juristen vom emotionalen Menschen unterscheiden. Ob die Juristen ihre elitäre Selbsteinschätzung aus diesem Punkt beziehen? Menschen handeln, Juristen urteilen. Dazu werden sie ausgebildet, denn schließlich endet das Jurastudium in unserem Land offiziell mit der "Befähigung zum Richteramt". Ein guter Anwalt zu sein, das hingegen muss man sich selbst beibringen. In manchen Bundesländern müssen angehende Richter sogar eine Mindestzeit als Staatsanwalt hinter sich bringen, bevor sie auf den Richterstuhl dürfen. Die Frage, ob ein Richter, der zuvor zum Staatsanwalt "trainiert" wurde und die Sichtweise des Anklagenden verinnerlichen musste, um als Staatsanwalt zu bestehen, später eine unabhängige Meinung vom Täter haben kann, habe ich mir nie ernsthaft gestellt. Vielleicht, weil ich zu sehr beschäftigt war Anwalt zu sein, vielleicht, weil ich an das Gute im Menschen glaubte. Kann echte Gerechtigkeit entstehen, wenn ein ausgebildeter Richter auf einen Anwalt trifft, der sich selbst um seine Fähigkeiten kümmern muss? Oder beendet das die Rechtsfälle nur einfach schneller?
Mit diesen Gedanken im Kopf stellte ich meinen Wagen auf dem grau-tristen Hof der Polizei ab. Ich schnappte mir meine Aktentasche, stieg aus und zog meinen Mantel über. Mit großen, ungeduldigen Schritten ging ich zum Eingang der Polizeistation. Meiner Verantwortung und meinem Schicksal entgegen.
Dass man mich damals als den jüngsten Anwalt der Kanzlei zu einem "großen Ding" schickte, gefiel mir. Offensichtlich würdigte man meine Arbeit. Das dachte ich zumindest. Ich fühlte mich großartig. Nur noch schnell den Papierkram am Empfang erledigt, und schon ging's mit Riesenschritten Richtung Gerechtigkeit. In Gedanken sah ich mich schon mit wehender Robe vor Gericht auf Freispruch plädieren. Welch naiver Gedanke!
Dieser Tag war mein letzter Tag als Jurist, danach wurde ich Anwalt. Ein harter, verschlagener, listiger und erfolgreicher Anwalt. Das war mir alles nicht bewusst, als ich meinen Namen an der Empfangspforte der Polizei nannte und Einlass verlangte. Ich verlangte ihn so, dass man meinen konnte, ich vertrete einen unschuldigen Dissidenten in einer übermächtigen und herzlosen Diktatur. Einen Menschen also, der dafür bestraft wird, nur weil er seine Menschenrechte wahrgenommen hat. Aber so ein Mandant wartete nicht auf mich. Eher das genaue Gegenteil. Ein echter Verbrecher! Der Polizist am Empfang reagierte ruhig und professionell, aber in seinen Augen konnte ich Verachtung lesen. Die Verachtung eines Menschen, der schon viel Leid gesehen hatte. Mir fiel nicht auf, dass diese Verachtung meinem unsensiblen Auftreten galt. Denn ich sah ihn als Feind. Einen Feind, gegen den man sich durchsetzen musste. Den man niederkämpfen musste. Genauso wie das Generationen von Anwälten vor mir gemacht hatten.
Es traf mich wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so heftig werden würde: Die Kanzlei hatte mich zum "Monster" geschickt. So nannte die Presse den Mann, der seit mehr als 25 Jahren Kinder missbraucht hatte. Sexueller Missbrauch von Kindern in 147 Fällen lautete der Tatvorwurf! Mir wurde schlecht und mein Bauch sagte mir, dass ich besser gehen sollte. Doch mein Kopf sagte, dass es eine große Chance sei, einen solchen Täter zu verteidigen, und ich diese Chance unbedingt nutzen sollte. Mit so einem Fall könnte man als Strafverteidiger berühmt und sehr erfolgreich werden. Finanziell erfolgreich. Außerdem wäre das doch die Gelegenheit, sich in der Kanzlei eine gute Ausgangsposition auf dem Weg zur Partnerschaft zu sichern. Davon träumen schließlich alle jungen Anwälte. Die Partnerschaft in einer renommierten Kanzlei ist fast die einzige Möglichkeit, als Anwalt nachhaltig finanziell abgesichert zu sein. Anders als manche selbstständige Anwälte, die oft nicht das verdienen, was man für ein ordentliches Leben benötigt, braucht man sich als Partner einer guten Kanzlei keine Gedanken um das liebe Geld zu machen. Man hat es einfach und kann das Klischee bedienen, das viele Menschen von Anwälten haben: reiche Zeitgenossen, die ein luxuriöses Leben führen. Ich malte mir eine rosige Zukunft aus. Außerdem war da ja noch meine Berufung. Ich wollte nicht nur Jurist sein, sondern Anwalt! Jemand, der sich für andere einsetzt, für die Gerechtigkeit arbeitet und siegt. Schließlich hat auch ein Straftäter Anspruch auf eine ordentliche Verteidigung. So steht es im Gesetz und so haben es die Professoren an der Uni gelehrt. Sofort war ich überzeugt, das Richtige zu tun, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein. Und zimperlich war ich doch auch noch nie. Ich musste doch das Monster einfach nur verteidigen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Mein Bauch dagegen erkannte: Ich war gerade dabei, ein Anwalt zu werden, den jeder kaufen kann ohne auf Gerechtigkeit achten zu müssen. Ein Anwalt, der einem für Geld beisteht und dabei vor allem seinen persönlichen Vorteil im Kopf hat. Also jemand, der ohne zu fragen etwas tat, was die meisten Menschen sofort strikt ablehnen würden. Wer will sich schon auf die Seite eines Kinderschänders stellen? Ursprünglich war ich doch im Anwaltsberuf angetreten, um der Gerechtigkeit zu dienen und merkte nun nicht, dass ich dabei war mich zu prostituieren. Prostituieren nicht deshalb, weil ich diesen Mandanten überhaupt vertrat, sondern weil ich es nur wegen des eigenen Vorteils tat.
"Ich möchte meinen Mandanten sprechen", fuhr ich den Polizisten an, und er kam anstandslos dem nach, wozu ihn das Gesetz verpflichtet: Er ließ einen Anwalt zu seinem Mandanten. Ich gab dem Beamten den Papierkram zurück, der notwendig ist, wenn man einen inhaftierten Mandanten besucht. Wesentlichster Bestandteil dieser Unterlagen war die Besucherliste. In diese Liste hatte ich mich groß und deutlich eingetragen. Ich wollte, dass die Menschen wissen, wer diesen Mandanten vertritt. Ich wollte mit diesem Fall meinen Anwaltsstern aufgehen lassen.
Wortlos zeigte der Polizist auf eine gesicherte und mehrfach verschlossene weiße Stahltür. Vor dieser Stahltür war ein Klingelknopf angebracht. "Zellenaufsicht" stand darunter. Ich ging mit schnellen Schritten zu dieser Tür und drückte den Klingelknopf, worauf ein Summen ertönte und ich die Tür öffnen konnte.
Hinter der Tür war ein kleiner Raum, an dessen Ende sich wiederum eine weiße, mehrfach gesicherte und verschlossene Stahltür befand. Einen Klingelknopf gab es an dieser Tür nicht. Ich drehte mich kurz um, als die Stahltür, durch die ich den Raum betreten hatte, mit einem satten Geräusch ins Schloss fiel. Hier gab es nun keine Klingel mehr. Ich war eingesperrt. "Man kommt hier nur raus, wenn einen die Staatsmacht auch lässt", dachte ich und erinnerte mich an eine Vorlesung, in der Anwälte als Kämpfer für Bürgerrechte heroisiert wurden. "Niemand sollte unberechtigt eingesperrt werden, dafür haben Anwälte zu sorgen", donnerte der Professor immer. In diesem Augenblick konnte ich diese Macht, die von verschlossenen Türen und starken Mauern ausging, zum ersten Mal spüren. Freiheit ist unbezahlbar! Leider ist uns das viel zu wenig bewusst. Vielleicht muss man erst genommen bekommen, was man braucht, bevor man merkt, wie wichtig es ist. Ich konnte nun wenigstens erahnen, was es heißt seine Freiheit zu verlieren.
Insoweit war ich sehr froh, dass es in unserem Rechtssystem einen Haftrichter gibt, dessen Aufgabe darin besteht, über die Anordnung der sogenannten Untersuchungshaft zu entscheiden. Eine Instanz also, die Willkür und Machtmissbrauch verhindern soll. Ich hatte zwar in meinem bisherigen Anwaltsleben noch keinen Haftrichter zu Gesicht bekommen, dazu waren die bisherigen Fälle nicht groß genug. Aber ich war mir sicher, dass ich es mit ihm aufnehmen konnte und das natürlich auch in diesem Fall machen würde.
Ich verlor mich in diesen Gedanken, bis meine Aufmerksamkeit wieder zu dem Raum zurückkehrte, indem ich mich gerade befand. Es war eine Art Schleuse, ein Raum der totalen Kontrolle. In der oberen Ecke gegenüber dem Eingang hing eine Videokamera. Sie filmte jeden Winkel und gab den Wachbeamten, die in einem anderen Raum saßen, die Möglichkeit, am Monitor zu sehen was in dieser Schleuse passierte und ob sie die Tür auch tatsächlich öffnen sollten. Nur wenn die Wachbeamten den ferngesteuerten Öffner betätigten, konnte man aus diesem Raum entkommen. Die damit verbundene momentane Ohnmacht in meiner persönlichen Bewegungsfreiheit ließ mich erschaudern.
Diese Situation wirkte aber nur so lange bedrohlich, bis das laute Brummen des elektrischen Türöffners anzeigte, dass die gegenüberliegende Stahltür am Auslass geöffnet werden konnte. Sofort griff ich nach dem Türknauf und verließ die Schleuse. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass ich damit zugleich einen Schritt in ein anderes Leben machte. Es würde nichts mehr so sein wie früher.
Auf dem Weg zu meinem Mandanten nahm mich jetzt ein uniformierter Polizist in Empfang. Er war groß und hatte resolute Gesichtszüge. Mit diesem Wachmann war nicht zu spaßen; seine Statur und seine Ausstrahlung verrieten sofort, dass er genau wusste, wie er Menschen zur Räson bringen konnte. Ich folgte ihm zur Zelle meines Mandanten. Und da war sie. Die Zelle, in der das Monster saß. Einen kurzen Augenblick erfasste mich Unbehagen, denn in wenigen Sekunden würde ich hineingehen und dem leibhaftigen Monster gegenübersitzen. Alles, was ich von ihm aus der Presse wusste, ließ ihn überaus gefährlich erscheinen. Doch dann meldete sich mein Stolz zu Wort, der mir sagte, dass ich schließlich sein Anwalt sei. Und das sei ja schließlich eine echte Auszeichnung. Dieser Gedanke siegte über meine Zweifel und meine Unsicherheit.
Die Tür zur Zelle wurde geöffnet und ich trat ohne zu zögern ein. In der rechten Hand hatte ich meine Aktentasche, in der linken einen Klappstuhl. Den hatte mir der Wachbeamte mitgegeben, falls ich mich beim Gespräch setzen wollte. Das fand ich seltsam. Vielleicht hatten sich andere Anwälte beschwert, weil sie nicht auf abgenutzten Zellenmöbeln sitzen wollten? Mir kam nicht in den Sinn, dass es vielleicht einfach nur keine Stühle in der Zelle gab. Um keine unnötige Diskussion mit dem Wachmann zu führen, nahm ich den Stuhl mit. Hinter mir fiel die schwere Zellentür ins Schloss. Der Polizist verriegelte die Tür mehrfach. Von da an war ich mit meinem Mandanten allein.
Ich blickte mich in der Zelle um. Sie war ungefähr zehn Quadratmeter groß, rechteckig und durchgehend weiß gefliest. Auch die Decke hatte Fliesen. An der rechten Wand neben der Zellentür war ein Stehklo aus Aluminium, wie man es aus Urlauben im Süden kennt. In der anderen Ecke befand sich eine an der Wand befestigte Pritsche. Sonst war in dem Raum nichts - gut, dass ich einen Stuhl dabei hatte. Mein Mandant war wohl in eine Art Ausnüchterungszelle eingesperrt worden. Später sagte mir ein Polizist, dass sie das immer so machen bei frisch Festgenommenen, denen erhebliche Straftaten vorgeworfen werden. Schließlich weiß man nie, wie diese Menschen reagieren. Manche versuchen, sich das Leben zu nehmen, andere wiederum machen sich vor Angst über die Entdeckung und deren Folgen in die Hose. In beiden Fällen verursacht das eine Verunreinigung. Deshalb bringe man in dieser Dienststelle Täter, bei denen ein solcher "Verunreinigungsverdacht" besteht, lieber in eine Zelle, die man leichter reinigen kann als herkömmliche Zellen. Zur Not auch mal mit einem Dampfstrahler, der das Blut etwaiger Selbstmordversuche am besten beseitigen kann.
Offenbar bestand nach Ansicht der Polizisten auch bei diesem Inhaftierten die Gefahr einer "Verunreinigung", eventuell durch Selbstmord. Manche Blicke, die ich auf dem Polizeirevier bemerkte, ließen in mir die Vermutung aufkommen, dass dem einen oder anderen Beamten die Erfüllung dieser Erwartung keineswegs unrecht gewesen wäre.
Und mein Mandant? Auf der Pritsche saß er, ein etwa 65-jähriger, fast winziger Mann. Ich habe ihn in diesem Augenblick auf etwa 1,60 Meter geschätzt. Später sollte ich in der Akte lesen, dass er 1,64 Meter maß. Er wog vielleicht 50 Kilo, großzügig geschätzt. An seinem schmächtigen Körper hing ein verdreckter Arbeitsoverall, wie er von Landwirten getragen wird. Seine Füße steckten in abgewetzten, schwarzen Gummistiefeln. Das Haar war wirr und sein Gesicht unrasiert. Die dürren Finger mit ungeschnittenen Nägeln, unter denen Dreck zu sehen war, komplettierten seine ungepflegte Erscheinung. Erst jetzt fiel mir der beißende Geruch auf, der die Zelle erfüllte. Es roch nicht nur nach Gülle, es stank zum Himmel. Ich empfand Ekel, zumal mir das ihm vorgeworfene Delikt in den Sinn kam. Mein Bauchgefühl meldete sich in diesem Augenblick wieder und empfahl mir, einfach wieder ins Büro zu gehen und alles zu vergessen. Doch auch an dieser Stelle hörte ich nicht auf meinen Bauch, sondern gab weiter der Stimme nach, die mir einen gewaltigen Vorteil aus der Verteidigung des Kinderschänders in Aussicht stellte. Der zukünftige große Anwalt ein Schwächling? Niemals!
Mein Mandant musterte mich mit kleinen, stechenden Augen, während ich mich vorstellte. Er wendete den Blick erst von mir ab, als ich ihn nochmals mit dem Tatvorwurf konfrontierte und viel zu höflich bat, mir seine Sicht der Dinge zu erläutern. Eine kleine Pause entstand. Er hob seinen zerzausten Kopf und sah mich zum ersten Mal direkt an. Mir wurde kalt auf meinem Klappstuhl, aber ich bewahrte Haltung. Wozu war ich denn in den USA auf eine Schauspielschule gegangen, wenn nicht dafür, in solchen Situationen meine Mimik und Gestik nicht entgleisen zu lassen.
"Was ist denn nun passiert, aus Ihrer Sicht?", hakte ich noch einmal nach.
"Es waren nicht so viele, vielleicht zwei oder drei. Aber niemals einhundertsiebenundvierzig", sagte er mit dünner Stimme. Eine Stimme, die so gar nicht zu einem Monster passte. Dann fuhr er monoton fort: "Und die Kinder haben es so gewollt." Mir wurde wieder übel, es würgte mich regelrecht. Das schlug doch dem Fass den Boden aus. Wie konnte er nur so etwas behaupten! Dachte er von mir, ich würde akzeptieren, dass er so einen respektlosen Schwachsinn auch öffentlich erzählt, etwa noch dazu in einem Gerichtssaal?
"Sind Sie eigentlich noch bei Trost? Solche Aussagen sind nicht nur Hohn und Spott für die Opfer, sie sind frech und dumm zugleich", platzte es aus mir heraus.
Mein Mandant zuckte mit keiner Wimper, starrte mich nur regungslos an. Ich dagegen wollte nur raus, einfach weg und den ganzen Schlamassel vergessen. Aber ich riss mich zusammen. "Wenn Sie so was noch einmal sagen, dann können Sie sich einen neuen Anwalt suchen. Ist das klar?" Er nickte ruhig und ernst.
"Erzählen Sie weiter", herrschte ich ihn an, "sonst werden wir hier nie fertig. Ich muss ja auch noch eine mündliche Haftprüfung beantragen, sonst kommen Sie hier ja nie raus."
Nun erzählte mein Mandant die schrecklichen Details seiner Taten, wobei er dabei blieb, dass es viel weniger Opfer seien, als man ihm vorwerfen würde. Obwohl ich ihm nicht glaubte, ließ ich ihn gewähren, um seinen Redefluss nicht zu unterbrechen. Und so beschrieb er all die unfassbaren Details, aber nur für die Delikte, für die er sich offensichtlich verantworten wollte. Alle anderen Vorwürfe stritt er ab. Erstaunlich war dabei die Art, wie er erzählte. Seine Berichte waren frei von jeder Gefühlsregung. Sie klangen wie die Erzählung eines Dritten, der in aller Sachlichkeit einen Bericht für eine Gerichtsakte formuliert. Keine Emotionen, kein Bedauern oder gar Reue, aber auch keine Rechtfertigung. Man konnte aus seinen Erzählungen nicht heraushören, warum er diese Taten vollbracht und welche Empfindungen er selbst dabei gehabt hatte. Mir war das in diesem Augenblick recht; ich wollte das nicht hören und war bemüht, zu diesen schrecklichen Taten wenigstens ein bisschen innerliche Distanz zu halten, um das alles ertragen zu können.
Das Gespräch endete damit, dass ich ihn eine Honorarvereinbarung unterschreiben ließ. Ein Vordruck, bei dem nur noch Name, Delikt und Honorarsumme eingetragen werden mussten. Ich forderte ein exorbitant hohes Honorar. Er akzeptierte den Betrag ohne zu zögern.
Ich rief den Wachmann, durchquerte die Schleuse zurück in Richtung Freiheit und fuhr zurück in die Kanzlei. Dort musste ich den Antrag auf eine mündliche Haftprüfung vorbereiten, um vor einem Richter zu begründen, warum mein Mandant aus der Untersuchungshaft entlassen werden sollte. Ich war fest entschlossen, das auch wirklich zu erreichen.
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Autoren-Porträt von Markus Schollmeyer
Markus Schollmeyer, geboren 1969, studierte Rechtswissenschaften und Psychologie in München. Seit 1998 arbeitet er als Rechtsanwalt und seit 2007 zusätzlich als Coach. In seiner anwaltlichen Tätigkeit verbringt er die meiste Zeit vor Gericht und hat dabei juristische Erfahrungen unter anderem in Los Angeles, Hamburg und München gemacht.Er ist Spezialist für Selbstbehauptung in Konfrontations- und Krisenszenarien. Im Zuge seiner Ausbildung absolvierte er einen Schauspielkurs, der in den USA für Prozessanwälte ein Muss ist. Seine schauspielerischen Fähigkeiten konnte er bereits bei einigen TV-Auftritten, z.B. in SOKO 5113, unter Beweis stellen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Markus Schollmeyer
- 2010, 224 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Irisiana
- ISBN-10: 3424150762
- ISBN-13: 9783424150766
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