Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz
'Wenn ich eine Geschichte lese und merke, wie sie sich entwickeln wird, wird sie für mich langweilig', sagt Erwin Grosche. Entsprechend köstlich chaotisch anders und unvorhersagbar überraschend ist da sein Roadmovie-Krimi um Anne, Bruder Berti und den...
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Produktinformationen zu „Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz “
Klappentext zu „Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz “
'Wenn ich eine Geschichte lese und merke, wie sie sich entwickeln wird, wird sie für mich langweilig', sagt Erwin Grosche. Entsprechend köstlich chaotisch anders und unvorhersagbar überraschend ist da sein Roadmovie-Krimi um Anne, Bruder Berti und den traurigen Papa, die eigentlich unterwegs ins Sanatorium der guten Laune sind. Aber eben nur eigentlich, denn ein trotteliges Bankräuberduo, 80.000 Euro Diebesgut und Papas Lieblingsschuhe, ohne die er nirgendwohin fährt, die er aber dummerweise daheim vergisst, machen die Fahrt zur grandiosen Verwirrfahrt, in der nicht zuletzt zwei Supermarkttüten eine tragende Rolle spielen. Ankommen werden die fünf nicht, aber sich finden -nd das will schon etwas heißen.
"Wenn ich eine Geschichte lese und merke, wie sie sich entwickeln wird, wird sie für mich langweilig", sagt Erwin Grosche. Entsprechend köstlichchaotisch anders und unvorhersagbar überraschend ist da sein Roadmovie-Krimi um Anne, Bruder Berti und den traurigen Papa, die eigentlich unterwegs ins Sanatorium der guten Laune sind. Aber eben nur eigentlich, denn ein trotteliges Bankräuberduo, 80.000 Euro Diebesgut und Papas Lieblingsschuhe, ohne die er nirgendwohin fährt, die er aber dummerweise daheim vergisst, machen die Fahrt zur grandiosen Verwirrfahrt, in der nicht zuletzt zwei Supermarkttüten eine tragende Rolle spielen. Ankommen werden die fünf nicht, aber sich finden - und das will schon etwas heißen.
Lese-Probe zu „Anne, Bankräuberkurt und der Plastiktütenschatz “
In Kapitel 1wird erzählt, wie alles begann: Von Anne und einem traurigen Tag, von einem Halbbruder, der röchelt wie eine Kaffeemaschine, und von zwei merkwürdigen Männern in Schwarz.
Alles begann am Tag der Beerdigung. Ich schaute ungläubig in die Welt und hatte Angst vor dem Abschiednehmen. Ich wusste noch nicht, dass dies nur der Beginn von unglaublichen Tagen war, die unser aller Leben verändern würden.
Auf dem Friedhof schien die Sonne und leuchtete jeden Flecken aus. Alles hing reglos in der Hitze herum und litt. Baum, Strauch und Mensch ließen ihre Köpfe hängen. Papa hatte darauf bestanden, dass ich das schwarze Samtkleid anzog, das Oma einmal für mich genäht hatte. Ich hasse dieses Kleid. Ich sehe darin aus wie eine Bürostehlampe. Ich konnte nicht glauben, dass Mama gewollt hätte, dass ich mich an ihrem Ehrentag in dieses Kleid zwänge und mich zu Tode schwitze. Aber Mama fehlte mir, obwohl ich sie noch um mich spürte, wie alles, was wichtig war.
Wir bildeten nur eine kleine Gruppe, die um das ausgehobene Grab stand. Die meisten kannte ich nicht, glaubte aber, Mamas Frisörin unter den Trauernden zu entdecken. Auf jeden Fall war dort eine Frau, die sich extra für diesen Tag die Haare aufgedonnert hatte. Sie sah aus wie ein Blumenkohl und hielt sich dauernd ein Taschentuch vor die Augen, obwohl sie gar nicht weinte. Ich verstand gar nicht, warum so wenige Leute zu Mamas Beerdigung gekommen waren. Niggi, mein Freund, war auch nicht gekommen. Er hatte mir doch versprochen, da zu sein, wenn ich ihn brauche. Verräter. Ich sah auch sonst niemanden aus meiner Klasse. Wahrscheinlich hatte Papa wieder vergessen, allen Bescheid zu sagen. Papa vergaß sowieso immer alles, aber seitdem Mama tot war, vergaß er manchmal sogar das. So waren wir nur wenige und drängten uns aneinander wie Pinguine.
Der alte Priester sprach durch ein Mikrofon, damit man ihn verstehen konnte. Der Lautsprecher quietschte, und die tröstenden Worte quetschten sich aus ihm heraus wie
... mehr
Kinder, die durch eine zu enge Tür auf den Pausenhof stürmten. Es waren Allerweltsworte. Aber was kann man auch sagen über einen Menschen, den man gar nicht gekannt hat? Ich konnte mich jedenfalls nicht erinnern, dass Mama und unser Priester, Herr Dinslaken, sich mal getroffen hätten, um über den Tod zu reden, und selbst wenn, war Mama niemand, der viel von sich her machte, sondern lieber zuhörte. Das konnte sie nun. Der Priester sprach von der Liebe und dass sie ewig währen würde. Ich wollte gar nicht weinen, aber als der Sarg in die Erde gelassen wurde, kamen mir doch die Tränen. Meine Mama war lange krank gewesen, und ich dachte eigentlich, ich hätte mich schon verabschiedet. Aber plötzlich kullerten mir die Tränen nur so aus den Augen und ich sagte rasch "Tschüss, Mama", bevor ich eine Sonnenblume in ihr Grab warf. Sonnenblumen waren ihre Lieblingsblumen gewesen, weil sie immer den Kopf zur Sonne wendeten und das Licht suchten.
Ich schaute auf Papa, der in seinem schwarzen Anzug aussah wie ein Oberkellner. Er hatte trotz der Hitze seinen grauen Pullunder über das weiße Hemd gezogen und bemerkte nicht, wie ihm der Schweiß von der Nase tropfte. Er lächelte abwesend, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Ich ging wieder zu ihm und wollte gerade seine Hand nehmen - da trat ein Mann zu ihm, den ich noch nie gesehen hatte. Ich wusste sofort wer er war: Vor mir stand Berti, mein Halbbruder aus Oldenburg. Er war Papa wie aus dem Gesicht geschnitten. Er sah immer noch so aus wie auf dem Bild, das bei uns auf dem Fernseher steht. Er sah aus wie ein Waldmensch, als wäre er mit einem Eichhörnchen verwandt. Er hatte langes rotes Haar, in dem sich schon ein paar graue und weiße Strähnen versammelt hatten, als wollte er mal Zauberer werden. Er trug eine Lederjacke und eine alte schwarze Jeans, die sich um seinen dicken Bauch so spannte, als wollte sie gleich platzen. Berti stammt aus Papas erster Ehe und gehört deshalb nicht ganz zur Familie, sondern nur halb. Er hat uns auch nie besucht, wenigstens nicht in der Zeit, an die ich mich hätte erinnern können. Ich wusste immer nur, dass er schon groß war und schnell Auto fahren konnte wie ein Rennfahrer. Nun war ich überrascht. Mir hatte niemand gesagt, dass mein Bruder kommen würde und dass wir erst das Abenteuer unseres Lebens meistern mussten, um uns gut zu verstehen.
Und das Abenteuer begann an diesem Tag.
Berti trug seinen Autoschlüssel in der Hand und wedelte so damit hin und her, dass der daran hängende Plastikaffe wild hin und her hüpfte. "Hallo, Anne", sagte er mit überraschend hoher Stimme. "Ich bin dein Bruder Berti. Erinnerst du dich noch an mich?"
Er lächelte mir zu und tausend Falten umtanzten seine Augen.
"Du bist nur mein Halbbruder", sagte ich zu ihm, obwohl ich wusste, dass das unhöflich war. Ich spürte, dass ich Lust hatte, jemandem wehzutun. Da kam mir mein Halbbruder gerade recht. Ich war gespannt, wie er reagieren würde. Doch er streckte mir nur eine Riesenhand entgegen und lächelte mich weiter an. Ohne es zu wollen, ergriff ich mit meiner kleinen Hand seinen Riesenpatscher und schüttelte ihn viel zu lange, als ständen wir unter Strom.
"Also gut, ich bin dein Halbbruder Berti", sagte er. "Das tut mir leid mit deiner Mutter. Es tut mir auch leid, dass ich zu spät gekommen bin."
Ich hörte leise lustige Musik und drehte mich um. Hinter der Friedhofsmauer, auf dem nicht asphaltierten Weg, stand sein Auto. Es war ein roter Schrott-VW-Bus mit einer schwarzen, später ausgewechselten Heckklappe. Mir fiel auf, dass die Reifen dampften. Die Musik kam aus dem Innern, Berti hatte wohl vergessen, das Radio auszumachen.
"Wenn dein Vater in der Klinik ist", sagte mein Halbbruder, "werde ich mich um dich kümmern."
Ich schaute Papa an. Er nickte. Die Sache schien klar zu sein. Die beiden mussten sich hinter meinem Rücken abgesprochen haben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Nicht nur dass mein Vater in eine Klinik musste, nun stand auch noch mein Halbbruder vor mir und wollte bei uns wohnen.
Ich war wütend. Ich wollte gerade schimpfen, als zwei Männer mich anrempelten und sich hinter uns stellten, als gehörten sie dazu. Ich kannte sie nicht, doch ich sollte sie bald besser kennen lernen, als mir lieb sein würde. Heute wunderte mich gar nichts mehr. Sollen doch alle kommen und gehen. Die Welt ist ein Taubenschlag und ich kann nicht fliegen. Ich schaute zu den beiden Männern. Der kleine Dicke von den beiden faltete die Hände, während der große Lange von ihnen sich dauernd umdrehte und zwei Einkaufstüten an sich drückte wie Babys.
Wir beteten ein Schlussgebet und sangen ein Lied, ich musste fast darüber lachen, wie laut und falsch mein Halbbruder singen konnte.
"Papa", flüsterte ich, aber mein Papa hörte mir nicht zu. Nun kamen auch noch Frau Niggemeier, unsere Ortspolizistin, und zwei Helferinnen zu uns herübergelaufen, schauten dem großen Langen in seine Einkaufstüten und liefen dann wieder weiter. Was war da los?
Papa riss mich aus meinen Gedanken. Er stolzierte plötzlich wie aufgedreht los und war nicht mehr zu halten. Er konnte nirgends lange verweilen, seitdem Mama gestorben war. Es war so, als wüsste er nicht mehr, wohin er gehörte. Berti und ich schauten uns an und liefen dann zu seinem Auto. Berti humpelte dabei mehr, als dass er lief, und stöhnte bei jedem Schritt. Ich schaute auf seine Schuhe und wunderte mich, dass man in diesen ausgetretenen Turnschuhen überhaupt noch laufen konnte. Ich sah ihn kopfschüttelnd an, aber er hatte sich schon stöhnend hinter das Steuer geklemmt. Berti startete den Motor. Er stieß von innen die Beifahrertür auf. Ich sprang auf den Nebensitz. Die Öllampe leuchtete auf.
Ich sagte: "Die Öllampe leuchtet auf. Du musst Öl nachfüllen."
Berti blinkte und fuhr los.
"Die Öllampe leuchtet immer auf", sagte er, "das ist völlig normal."
Wir fuhren hinter Papa her. Er ging ruhig und zielstrebig durch unser Dorf, ohne nach links oder rechts zu schauen. Ich ahnte, was er vorhatte. Er war auf dem Weg zum Gasthaus Scholz, wo die Beerdigung ihren Ausklang finden sollte. Ich atmete auf, da wollten wir auch hin. Ich schaute mich um. In Bertis Auto sah es aus wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer. Alles lag kreuz und quer auf einer Matratze, die den ganzen hinteren Heckbereich verstopfte. Zwei Einkaufstüten standen in der Ecke und waren mit einer Decke halb abgedeckt. Berti war ganz aufgeregt. Immer wieder sagte er: "Was hat er denn bloß? Was macht er denn bloß?" Er fuhr im Schritttempo und suchte den Parkplatz hinter dem Gasthaus.
Berti schnaufte dauernd und machte sich anscheinend Sorgen um meinen Papa, der ja auch sein Papa war. Zum Glück fanden wir sofort den Parkplatz.
Wir sahen durch die geöffnete Tür in den Festsaal, wo Papa mutterseelenallein an einem der Tische saß, die Frau Scholz für uns zusammengeschoben hatte. Ich wollte aussteigen, bekam aber die Tür nicht auf. Berti musste erst aussteigen, um die Beifahrertür von außen aufmachen zu können. Er röchelte dabei wie eine verkalkte Kaffeemaschine. Er hörte erst auf, schwer zu atmen, als wir im Festsaal waren und Papa uns zuwinkte. Hier war es nicht so heiß wie auf dem Friedhof. Frau Scholz hatte die Rollläden heruntergelassen und weitgeöffnete Türen sorgten für Durchzug. Ich saß neben Berti und hielt mir die Nase zu. Es roch. Berti roch. Er roch nach seiner alten Lederjacke und nach viel zu viel gerauchten Zigaretten.
"Ich habe immer an dich gedacht", sagte Berti plötzlich. Er hielt ein zerknittertes Foto in der Hand, auf dem ich mit Papa und Mama zu sehen war.
Papa nickte mir zu. Er saß uns gegenüber und trank einen Kaffee nach dem anderen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte er kein Maß mehr. Er ließ oft den Kopf hängen und wirkte klein und hilflos. Wenn er saß, stand er bald auf. Wenn er ging, suchte er wieder einen Platz. Ihm fehlte jeder Plan. Papa verschlang gerade das dritte Stückchen Ananastorte, dabei mochte er gar keine Ananastorte.
"Hauptsache, es schmeckt", sagte Frau Scholz, die Besitzerin des Gasthofes, goss meinem Vater noch einen Kaffee ein und füllte seinen Teller mit dem vierten Stückchen Ananastorte.
Inzwischen waren auch unser Priester, Herr Dinslaken, eine Abordnung der Feuerwehr und die anderen Trauernden eingetroffen. Sie verteilten sich in dem viel zu großen Saal an den viel zu langen Tischen. Doktor Kapuze, Papas Hausarzt, kam auf uns zu und setzte sich direkt neben ihn, als müsste er auf ihn aufpassen. Obwohl nun fast alle, die an der Beerdigung teilgenommen hatten, gekommen waren, sah es immer noch so aus, als ob viele fehlen würden. Mein Halbbruder Berti saß neben mir und drehte sich eine Zigarette. Er zündete sie an und machte einen tiefen Zug.
"Ich habe fast mit dem Rauchen aufgehört", sagte er und zog an seiner Zigarette.
Ich hustete übertrieben, als würde mich der Zigarettenqualm stören, und schaute meinem Vater nach, der wieder aufgestanden war und unruhig hin und her lief.
"Dafür dass du fast mit dem Rauchen aufgehört hast", sagte ich, "qualmst du ganz schön herum."
"Brumm, brumm, brumm", sagte mein Halbbruder, als wäre er ein Bär und ich hätte auf seinen Bauch gedrückt.
Nach dem Kuchen gab es Schnittchen. Als würde Frau Scholz noch mit weiteren Gästen rechnen, stellte sie alle Tische, auch die, an denen keiner saß, mit Riesenbergen Schnittchen voll. Wir mussten uns ranhalten. Berti aß eine Wurstschnitte nach der anderen und sagte mit vollem Mund: "Ich bin eigentlich Vegetarier, aber das Zeug muss ja weg."
Ich schüttelte den Kopf. Oh Mama, wie konntest du mich alleinlassen!
Plötzlich kam Frau Scholz in den Festsaal gestürzt und rief: "Herr Kleine? Wo sind Sie, Herr Kleine?" Hinter ihr stand Doktor Kapuze und schaute mich fragend an. Frau Scholz hatte ein Tablett mit dampfenden Klößen in der Hand, und alle wunderten sich, wer die noch essen sollte - bis wir schlagartig begriffen, dass mein Papa verschwunden war. Alles schaute plötzlich auf mich, als müsste ich es am besten wissen, wo mein Papa sich versteckt hatte. Aber ich bin die kleine Anne Kleine, ich weiß von nichts.
In Kapitel 2
wird erzählt, was sich vor der Beerdigung in der Stadt zutrug, was ein Tiger in einer Sparkasse sucht und wieso zwei Männer mit zwei Plastiktüten auf den Friedhof von Atteln flüchten.
Um die Mittagszeit standen zwei Gauner mit ihrem Auto vor der Kreissparkasse Atteln. Sie warteten auf eine günstige Gelegenheit, die Bank zu überfallen. Sie hatten die Bank seit Wochen überwacht und wussten, dass sie kurz nach der Mittagszeit am wenigsten besucht wurde. Die beiden schauten wie nebenbei auf die Uhr und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Als nur noch drei Kunden, ein Kind, zwei Mitarbeiter und der Kassierer in dem Gebäude waren, machten sie sich bereit. Auto-Meier schaute in den Rückspiegel und setzte seine Sonnenbrille auf. Brat-Kurt zog sich eine Hasenmaske über und entsicherte seine Pistole, die er schnell wieder in das Halfter unter seiner schwarzen Windjacke schob.
Auto-Meier knackte seine Finger aus, atmete tief durch und schaute erneut in den Rückspiegel. Die Luft war rein. Brat-Kurt schob ein wenig seine Hasenmaske hoch und stotterte: "Auf... auf... auf geht's."
Brat-Kurt stotterte ein wenig, wenn er aufgeregt war, und er war immer aufgeregt. Gauner wie Brat-Kurt und Co. saßen nicht ruhig in einer Ecke und drehten Däumchen. Sie liefen durch das Leben und zogen Ärger an, wie Frikadellen den Senf.
Auto-Meier nickte. Er ließ den Schlüssel stecken und öffnete die Fahrertür des geklauten Volvos. Brat-Kurt schob seine Hasenmaske wieder zurecht und stieg auf der Beifahrerseite aus. Sie betraten den Schalterraum.
Auto-Meier mischte sich unter die Kunden und sicherte den Rückweg. Er drehte der Überwachungskamera den Rücken zu und tat so, als füllte er eine Spendenüberweisung für UNICEF aus. Brat-Kurt ging sofort zur Geldausgabe und streckte dem Kassierer sein selbst gemaltes Schild entgegen. Obwohl die Bank Aircondition hatte, schwitzte er unter seiner Hasenmaske. Der Kassierer, Herr Brönner, trug einen Tigeranzug und hielt an diesem Tag alles für einen Scherz.
"Was meinen Sie denn mit 'Überschall'?", fragte er lachend. Brat-Kurt stutzte. Er schaute auf das Schild. Er hatte tatsächlich "Überschall", statt "Überfall" daraufgeschrieben.
"Ich mei... mei... meine natürlich Ü... Ü... Überfall", stammelte Brat-Kurt und ärgerte sich, dass er stottern musste. Er wollte der Polizei nicht gleich auf die Nase binden, dass er Brat-Kurt war und in den Polizeiakten stehen hatte, dass er stottern konnte wie ein Biber.
"Ü... Ü... Überfall", plapperte der Bankbeamte, ihm nach. "O, o, o, oh."
Brat-Kurt riss seine Pistole heraus und schoss die Überwachungskamera aus. Man sollte Brat-Kurt nie unterschätzen. Er hasste es, wenn man sein Stottern nachmachte. Der Kassierer begriff jetzt den Ernst der Lage.
Im Schalterraum entstand Unruhe. Ein Bankkunde schrie auf. Ein Mann warf sich auf den Boden, ein Kind weinte. Auto-Meier schlich sich aus der Bank. Er wollte schon mal das Fluchtauto starten. Der Banküberfall schien zu klappen. Sie würden bald reich sein.
"Ich habe verstanden", sagte der Schalterbeamte, Herr Brönner. "Ich war nur ein wenig überrascht."
Brat-Kurt steckte seine Pistole weg und schob zwei gefaltete Marktkauftüten durch den Glasschlitz. Er hatte extra im Marktkauf diese Tüten besorgt, um mit dem Geld unauffällig verschwinden zu können.
Herr Brönner faltete eine der Tüten auseinander und schaute sich Hilfe suchend um. Erst jetzt fielen Brat-Kurt die Girlanden und die Lampions im Schalterraum auf.
"Wa... wa... was ist denn hier los?", fragte er.
"Wir haben eine Kostümfeier und wollten gleich die Filiale schließen", sprach der Bankbeamte. "Wir feiern heute 30-jähriges Bestehen."
"Gra... gra... gratuliere", flüsterte Brat-Kurt.
"Danke", sagte der Bankbeamte. "Kann aber sein, dass wir heute Abend unser Feuerwerk wegen dieses Überfalls verschieben müssen."
"Tut... tut mir leid", seufzte Brat-Kurt.
Er schaute sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Bankbeamte, Herr Brönner, einen Tigeranzug trug. Der Beamte setzte einen Tigerkopf auf, um seine Verkleidung komplett zu zeigen. Brat-Kurt schaute auf den Tiger und kam sich unter seiner Hasenmaske wie das Opfer vor. Ein Hase hat doch keine Angst vor einem Tiger, oder? Verärgert hielt er seine Pistole hoch. Sofort nahm der Tiger seinen Kopf wieder ab.
"Wenn Sie morgen kommen würden", sagte Herr Brönner, "ginge alles viel reibungsloser."
Brat-Kurt sah nach draußen. Auto-Meier saß bereits im Fluchtauto und schlug ungeduldig auf das Lenkrad ein.
"Sch... Sch... Schluss mit dem Unsinn", sagte Brat-Kurt und nahm seine Hasenmaske ab. Er schwitzte darunter und bekam keine Luft mehr.
"Sie sehen ja aus wie ein Kaninchen", sagte eine Frau, die ihm direkt ins Gesicht starrte und auf seine zwei vorstehenden Zähne zeigte.
Na super, dachte Brat-Kurt, da kann ich ja gleich noch erzählen, dass ich Brat-Kurt heiße und in der Liliengasse 12 in Paderborn wohne. Dann muss die Polizei nur noch kommen und mich holen. "Die Zäh... Zähne", stotterte er, "sind nicht echt."
Brat-Kurt drehte sich wieder zur Geldausgabe um und schrie den Schalterbeamten an:
"Pa... pa... packen Sie alles ein, was wert... wertvoll ist", schrie er unruhig, "aber dalli!"
Herr Brönner schaute sich ratlos in seiner Glasbox um.
"Und zwar da... da... dalli, dalli!", wiederholte Brat-Kurt.
Herr Brönner überlegte nicht lange und packte als Erstes seinen aktuellen Jahreskalender in die Marktkauftüte, steckte hastig vier Parkscheiben dazu und holte aus einer Schachtel fünf Sparkassenkugelschreiber, um sie dem Räuber zu überlassen.
"He, Sie... Sie... Sie Scherzkeks", zischte Brat-Kurt böse, "ich will Ihr Geld."
"Natürlich", sagte Herr Brönner. "Natürlich, ich habe verstanden."
Sofort füllte er beide Tüten mit allen Geldscheinen aus Safe und Schalterschublade.
"Das werden 80000 Euro sein", murmelte der Bankbeamte, als wollte er darüber noch eine Quittung haben. Er begann auch noch, das Münzgeld in die Tüten zu kippen, als Brat-Kurt abwinkte.
"Das... das reicht", schrie er, "für so viel Geld muss... mu... mu... muss eine alte Frau lange stricken. Den... den... den Rest können Sie bei Ihrer Party auf den Kopf hauen."
"Danke", stammelte Herr Brönner, öffnete die Tür aus Panzerglas und stellte das Geld heraus.
Brat-Kurt nahm es an sich. Stolz schwellte sich seine Brust. Der Überfall war seine Idee gewesen. Immer und immer wieder hatte er Auto-Meier bekniet, diesen Coup mit ihm zu landen. Er hatte ihm viel Geld versprochen und ein sorgenfreies Leben auf Tahiti. Er hatte Recht behalten. Nun konnten sie dort leben in Saus und Braus.
"Wa... wa... wagen Sie es nicht, die Polizei anzurufen", schrie er, "sonst komme ich zurück!"Brat-Kurt stürmte aus der Bank und sprang in den Wagen. Er warf seine Hasenmaske auf die Rückbank und reckte den Daumen nach oben. Sie waren reich. Auto-Meier drehte den Zündschlüssel des geklauten Volvos, aber außer einem Seufzer war dem Wagen kein Ton zu entlocken. Auto-Meier fluchte. Der Schweiß lief ihm von Stirn und Nase.
Ich schaute auf Papa, der in seinem schwarzen Anzug aussah wie ein Oberkellner. Er hatte trotz der Hitze seinen grauen Pullunder über das weiße Hemd gezogen und bemerkte nicht, wie ihm der Schweiß von der Nase tropfte. Er lächelte abwesend, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Ich ging wieder zu ihm und wollte gerade seine Hand nehmen - da trat ein Mann zu ihm, den ich noch nie gesehen hatte. Ich wusste sofort wer er war: Vor mir stand Berti, mein Halbbruder aus Oldenburg. Er war Papa wie aus dem Gesicht geschnitten. Er sah immer noch so aus wie auf dem Bild, das bei uns auf dem Fernseher steht. Er sah aus wie ein Waldmensch, als wäre er mit einem Eichhörnchen verwandt. Er hatte langes rotes Haar, in dem sich schon ein paar graue und weiße Strähnen versammelt hatten, als wollte er mal Zauberer werden. Er trug eine Lederjacke und eine alte schwarze Jeans, die sich um seinen dicken Bauch so spannte, als wollte sie gleich platzen. Berti stammt aus Papas erster Ehe und gehört deshalb nicht ganz zur Familie, sondern nur halb. Er hat uns auch nie besucht, wenigstens nicht in der Zeit, an die ich mich hätte erinnern können. Ich wusste immer nur, dass er schon groß war und schnell Auto fahren konnte wie ein Rennfahrer. Nun war ich überrascht. Mir hatte niemand gesagt, dass mein Bruder kommen würde und dass wir erst das Abenteuer unseres Lebens meistern mussten, um uns gut zu verstehen.
Und das Abenteuer begann an diesem Tag.
Berti trug seinen Autoschlüssel in der Hand und wedelte so damit hin und her, dass der daran hängende Plastikaffe wild hin und her hüpfte. "Hallo, Anne", sagte er mit überraschend hoher Stimme. "Ich bin dein Bruder Berti. Erinnerst du dich noch an mich?"
Er lächelte mir zu und tausend Falten umtanzten seine Augen.
"Du bist nur mein Halbbruder", sagte ich zu ihm, obwohl ich wusste, dass das unhöflich war. Ich spürte, dass ich Lust hatte, jemandem wehzutun. Da kam mir mein Halbbruder gerade recht. Ich war gespannt, wie er reagieren würde. Doch er streckte mir nur eine Riesenhand entgegen und lächelte mich weiter an. Ohne es zu wollen, ergriff ich mit meiner kleinen Hand seinen Riesenpatscher und schüttelte ihn viel zu lange, als ständen wir unter Strom.
"Also gut, ich bin dein Halbbruder Berti", sagte er. "Das tut mir leid mit deiner Mutter. Es tut mir auch leid, dass ich zu spät gekommen bin."
Ich hörte leise lustige Musik und drehte mich um. Hinter der Friedhofsmauer, auf dem nicht asphaltierten Weg, stand sein Auto. Es war ein roter Schrott-VW-Bus mit einer schwarzen, später ausgewechselten Heckklappe. Mir fiel auf, dass die Reifen dampften. Die Musik kam aus dem Innern, Berti hatte wohl vergessen, das Radio auszumachen.
"Wenn dein Vater in der Klinik ist", sagte mein Halbbruder, "werde ich mich um dich kümmern."
Ich schaute Papa an. Er nickte. Die Sache schien klar zu sein. Die beiden mussten sich hinter meinem Rücken abgesprochen haben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Nicht nur dass mein Vater in eine Klinik musste, nun stand auch noch mein Halbbruder vor mir und wollte bei uns wohnen.
Ich war wütend. Ich wollte gerade schimpfen, als zwei Männer mich anrempelten und sich hinter uns stellten, als gehörten sie dazu. Ich kannte sie nicht, doch ich sollte sie bald besser kennen lernen, als mir lieb sein würde. Heute wunderte mich gar nichts mehr. Sollen doch alle kommen und gehen. Die Welt ist ein Taubenschlag und ich kann nicht fliegen. Ich schaute zu den beiden Männern. Der kleine Dicke von den beiden faltete die Hände, während der große Lange von ihnen sich dauernd umdrehte und zwei Einkaufstüten an sich drückte wie Babys.
Wir beteten ein Schlussgebet und sangen ein Lied, ich musste fast darüber lachen, wie laut und falsch mein Halbbruder singen konnte.
"Papa", flüsterte ich, aber mein Papa hörte mir nicht zu. Nun kamen auch noch Frau Niggemeier, unsere Ortspolizistin, und zwei Helferinnen zu uns herübergelaufen, schauten dem großen Langen in seine Einkaufstüten und liefen dann wieder weiter. Was war da los?
Papa riss mich aus meinen Gedanken. Er stolzierte plötzlich wie aufgedreht los und war nicht mehr zu halten. Er konnte nirgends lange verweilen, seitdem Mama gestorben war. Es war so, als wüsste er nicht mehr, wohin er gehörte. Berti und ich schauten uns an und liefen dann zu seinem Auto. Berti humpelte dabei mehr, als dass er lief, und stöhnte bei jedem Schritt. Ich schaute auf seine Schuhe und wunderte mich, dass man in diesen ausgetretenen Turnschuhen überhaupt noch laufen konnte. Ich sah ihn kopfschüttelnd an, aber er hatte sich schon stöhnend hinter das Steuer geklemmt. Berti startete den Motor. Er stieß von innen die Beifahrertür auf. Ich sprang auf den Nebensitz. Die Öllampe leuchtete auf.
Ich sagte: "Die Öllampe leuchtet auf. Du musst Öl nachfüllen."
Berti blinkte und fuhr los.
"Die Öllampe leuchtet immer auf", sagte er, "das ist völlig normal."
Wir fuhren hinter Papa her. Er ging ruhig und zielstrebig durch unser Dorf, ohne nach links oder rechts zu schauen. Ich ahnte, was er vorhatte. Er war auf dem Weg zum Gasthaus Scholz, wo die Beerdigung ihren Ausklang finden sollte. Ich atmete auf, da wollten wir auch hin. Ich schaute mich um. In Bertis Auto sah es aus wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer. Alles lag kreuz und quer auf einer Matratze, die den ganzen hinteren Heckbereich verstopfte. Zwei Einkaufstüten standen in der Ecke und waren mit einer Decke halb abgedeckt. Berti war ganz aufgeregt. Immer wieder sagte er: "Was hat er denn bloß? Was macht er denn bloß?" Er fuhr im Schritttempo und suchte den Parkplatz hinter dem Gasthaus.
Berti schnaufte dauernd und machte sich anscheinend Sorgen um meinen Papa, der ja auch sein Papa war. Zum Glück fanden wir sofort den Parkplatz.
Wir sahen durch die geöffnete Tür in den Festsaal, wo Papa mutterseelenallein an einem der Tische saß, die Frau Scholz für uns zusammengeschoben hatte. Ich wollte aussteigen, bekam aber die Tür nicht auf. Berti musste erst aussteigen, um die Beifahrertür von außen aufmachen zu können. Er röchelte dabei wie eine verkalkte Kaffeemaschine. Er hörte erst auf, schwer zu atmen, als wir im Festsaal waren und Papa uns zuwinkte. Hier war es nicht so heiß wie auf dem Friedhof. Frau Scholz hatte die Rollläden heruntergelassen und weitgeöffnete Türen sorgten für Durchzug. Ich saß neben Berti und hielt mir die Nase zu. Es roch. Berti roch. Er roch nach seiner alten Lederjacke und nach viel zu viel gerauchten Zigaretten.
"Ich habe immer an dich gedacht", sagte Berti plötzlich. Er hielt ein zerknittertes Foto in der Hand, auf dem ich mit Papa und Mama zu sehen war.
Papa nickte mir zu. Er saß uns gegenüber und trank einen Kaffee nach dem anderen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte er kein Maß mehr. Er ließ oft den Kopf hängen und wirkte klein und hilflos. Wenn er saß, stand er bald auf. Wenn er ging, suchte er wieder einen Platz. Ihm fehlte jeder Plan. Papa verschlang gerade das dritte Stückchen Ananastorte, dabei mochte er gar keine Ananastorte.
"Hauptsache, es schmeckt", sagte Frau Scholz, die Besitzerin des Gasthofes, goss meinem Vater noch einen Kaffee ein und füllte seinen Teller mit dem vierten Stückchen Ananastorte.
Inzwischen waren auch unser Priester, Herr Dinslaken, eine Abordnung der Feuerwehr und die anderen Trauernden eingetroffen. Sie verteilten sich in dem viel zu großen Saal an den viel zu langen Tischen. Doktor Kapuze, Papas Hausarzt, kam auf uns zu und setzte sich direkt neben ihn, als müsste er auf ihn aufpassen. Obwohl nun fast alle, die an der Beerdigung teilgenommen hatten, gekommen waren, sah es immer noch so aus, als ob viele fehlen würden. Mein Halbbruder Berti saß neben mir und drehte sich eine Zigarette. Er zündete sie an und machte einen tiefen Zug.
"Ich habe fast mit dem Rauchen aufgehört", sagte er und zog an seiner Zigarette.
Ich hustete übertrieben, als würde mich der Zigarettenqualm stören, und schaute meinem Vater nach, der wieder aufgestanden war und unruhig hin und her lief.
"Dafür dass du fast mit dem Rauchen aufgehört hast", sagte ich, "qualmst du ganz schön herum."
"Brumm, brumm, brumm", sagte mein Halbbruder, als wäre er ein Bär und ich hätte auf seinen Bauch gedrückt.
Nach dem Kuchen gab es Schnittchen. Als würde Frau Scholz noch mit weiteren Gästen rechnen, stellte sie alle Tische, auch die, an denen keiner saß, mit Riesenbergen Schnittchen voll. Wir mussten uns ranhalten. Berti aß eine Wurstschnitte nach der anderen und sagte mit vollem Mund: "Ich bin eigentlich Vegetarier, aber das Zeug muss ja weg."
Ich schüttelte den Kopf. Oh Mama, wie konntest du mich alleinlassen!
Plötzlich kam Frau Scholz in den Festsaal gestürzt und rief: "Herr Kleine? Wo sind Sie, Herr Kleine?" Hinter ihr stand Doktor Kapuze und schaute mich fragend an. Frau Scholz hatte ein Tablett mit dampfenden Klößen in der Hand, und alle wunderten sich, wer die noch essen sollte - bis wir schlagartig begriffen, dass mein Papa verschwunden war. Alles schaute plötzlich auf mich, als müsste ich es am besten wissen, wo mein Papa sich versteckt hatte. Aber ich bin die kleine Anne Kleine, ich weiß von nichts.
In Kapitel 2
wird erzählt, was sich vor der Beerdigung in der Stadt zutrug, was ein Tiger in einer Sparkasse sucht und wieso zwei Männer mit zwei Plastiktüten auf den Friedhof von Atteln flüchten.
Um die Mittagszeit standen zwei Gauner mit ihrem Auto vor der Kreissparkasse Atteln. Sie warteten auf eine günstige Gelegenheit, die Bank zu überfallen. Sie hatten die Bank seit Wochen überwacht und wussten, dass sie kurz nach der Mittagszeit am wenigsten besucht wurde. Die beiden schauten wie nebenbei auf die Uhr und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Als nur noch drei Kunden, ein Kind, zwei Mitarbeiter und der Kassierer in dem Gebäude waren, machten sie sich bereit. Auto-Meier schaute in den Rückspiegel und setzte seine Sonnenbrille auf. Brat-Kurt zog sich eine Hasenmaske über und entsicherte seine Pistole, die er schnell wieder in das Halfter unter seiner schwarzen Windjacke schob.
Auto-Meier knackte seine Finger aus, atmete tief durch und schaute erneut in den Rückspiegel. Die Luft war rein. Brat-Kurt schob ein wenig seine Hasenmaske hoch und stotterte: "Auf... auf... auf geht's."
Brat-Kurt stotterte ein wenig, wenn er aufgeregt war, und er war immer aufgeregt. Gauner wie Brat-Kurt und Co. saßen nicht ruhig in einer Ecke und drehten Däumchen. Sie liefen durch das Leben und zogen Ärger an, wie Frikadellen den Senf.
Auto-Meier nickte. Er ließ den Schlüssel stecken und öffnete die Fahrertür des geklauten Volvos. Brat-Kurt schob seine Hasenmaske wieder zurecht und stieg auf der Beifahrerseite aus. Sie betraten den Schalterraum.
Auto-Meier mischte sich unter die Kunden und sicherte den Rückweg. Er drehte der Überwachungskamera den Rücken zu und tat so, als füllte er eine Spendenüberweisung für UNICEF aus. Brat-Kurt ging sofort zur Geldausgabe und streckte dem Kassierer sein selbst gemaltes Schild entgegen. Obwohl die Bank Aircondition hatte, schwitzte er unter seiner Hasenmaske. Der Kassierer, Herr Brönner, trug einen Tigeranzug und hielt an diesem Tag alles für einen Scherz.
"Was meinen Sie denn mit 'Überschall'?", fragte er lachend. Brat-Kurt stutzte. Er schaute auf das Schild. Er hatte tatsächlich "Überschall", statt "Überfall" daraufgeschrieben.
"Ich mei... mei... meine natürlich Ü... Ü... Überfall", stammelte Brat-Kurt und ärgerte sich, dass er stottern musste. Er wollte der Polizei nicht gleich auf die Nase binden, dass er Brat-Kurt war und in den Polizeiakten stehen hatte, dass er stottern konnte wie ein Biber.
"Ü... Ü... Überfall", plapperte der Bankbeamte, ihm nach. "O, o, o, oh."
Brat-Kurt riss seine Pistole heraus und schoss die Überwachungskamera aus. Man sollte Brat-Kurt nie unterschätzen. Er hasste es, wenn man sein Stottern nachmachte. Der Kassierer begriff jetzt den Ernst der Lage.
Im Schalterraum entstand Unruhe. Ein Bankkunde schrie auf. Ein Mann warf sich auf den Boden, ein Kind weinte. Auto-Meier schlich sich aus der Bank. Er wollte schon mal das Fluchtauto starten. Der Banküberfall schien zu klappen. Sie würden bald reich sein.
"Ich habe verstanden", sagte der Schalterbeamte, Herr Brönner. "Ich war nur ein wenig überrascht."
Brat-Kurt steckte seine Pistole weg und schob zwei gefaltete Marktkauftüten durch den Glasschlitz. Er hatte extra im Marktkauf diese Tüten besorgt, um mit dem Geld unauffällig verschwinden zu können.
Herr Brönner faltete eine der Tüten auseinander und schaute sich Hilfe suchend um. Erst jetzt fielen Brat-Kurt die Girlanden und die Lampions im Schalterraum auf.
"Wa... wa... was ist denn hier los?", fragte er.
"Wir haben eine Kostümfeier und wollten gleich die Filiale schließen", sprach der Bankbeamte. "Wir feiern heute 30-jähriges Bestehen."
"Gra... gra... gratuliere", flüsterte Brat-Kurt.
"Danke", sagte der Bankbeamte. "Kann aber sein, dass wir heute Abend unser Feuerwerk wegen dieses Überfalls verschieben müssen."
"Tut... tut mir leid", seufzte Brat-Kurt.
Er schaute sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Bankbeamte, Herr Brönner, einen Tigeranzug trug. Der Beamte setzte einen Tigerkopf auf, um seine Verkleidung komplett zu zeigen. Brat-Kurt schaute auf den Tiger und kam sich unter seiner Hasenmaske wie das Opfer vor. Ein Hase hat doch keine Angst vor einem Tiger, oder? Verärgert hielt er seine Pistole hoch. Sofort nahm der Tiger seinen Kopf wieder ab.
"Wenn Sie morgen kommen würden", sagte Herr Brönner, "ginge alles viel reibungsloser."
Brat-Kurt sah nach draußen. Auto-Meier saß bereits im Fluchtauto und schlug ungeduldig auf das Lenkrad ein.
"Sch... Sch... Schluss mit dem Unsinn", sagte Brat-Kurt und nahm seine Hasenmaske ab. Er schwitzte darunter und bekam keine Luft mehr.
"Sie sehen ja aus wie ein Kaninchen", sagte eine Frau, die ihm direkt ins Gesicht starrte und auf seine zwei vorstehenden Zähne zeigte.
Na super, dachte Brat-Kurt, da kann ich ja gleich noch erzählen, dass ich Brat-Kurt heiße und in der Liliengasse 12 in Paderborn wohne. Dann muss die Polizei nur noch kommen und mich holen. "Die Zäh... Zähne", stotterte er, "sind nicht echt."
Brat-Kurt drehte sich wieder zur Geldausgabe um und schrie den Schalterbeamten an:
"Pa... pa... packen Sie alles ein, was wert... wertvoll ist", schrie er unruhig, "aber dalli!"
Herr Brönner schaute sich ratlos in seiner Glasbox um.
"Und zwar da... da... dalli, dalli!", wiederholte Brat-Kurt.
Herr Brönner überlegte nicht lange und packte als Erstes seinen aktuellen Jahreskalender in die Marktkauftüte, steckte hastig vier Parkscheiben dazu und holte aus einer Schachtel fünf Sparkassenkugelschreiber, um sie dem Räuber zu überlassen.
"He, Sie... Sie... Sie Scherzkeks", zischte Brat-Kurt böse, "ich will Ihr Geld."
"Natürlich", sagte Herr Brönner. "Natürlich, ich habe verstanden."
Sofort füllte er beide Tüten mit allen Geldscheinen aus Safe und Schalterschublade.
"Das werden 80000 Euro sein", murmelte der Bankbeamte, als wollte er darüber noch eine Quittung haben. Er begann auch noch, das Münzgeld in die Tüten zu kippen, als Brat-Kurt abwinkte.
"Das... das reicht", schrie er, "für so viel Geld muss... mu... mu... muss eine alte Frau lange stricken. Den... den... den Rest können Sie bei Ihrer Party auf den Kopf hauen."
"Danke", stammelte Herr Brönner, öffnete die Tür aus Panzerglas und stellte das Geld heraus.
Brat-Kurt nahm es an sich. Stolz schwellte sich seine Brust. Der Überfall war seine Idee gewesen. Immer und immer wieder hatte er Auto-Meier bekniet, diesen Coup mit ihm zu landen. Er hatte ihm viel Geld versprochen und ein sorgenfreies Leben auf Tahiti. Er hatte Recht behalten. Nun konnten sie dort leben in Saus und Braus.
"Wa... wa... wagen Sie es nicht, die Polizei anzurufen", schrie er, "sonst komme ich zurück!"Brat-Kurt stürmte aus der Bank und sprang in den Wagen. Er warf seine Hasenmaske auf die Rückbank und reckte den Daumen nach oben. Sie waren reich. Auto-Meier drehte den Zündschlüssel des geklauten Volvos, aber außer einem Seufzer war dem Wagen kein Ton zu entlocken. Auto-Meier fluchte. Der Schweiß lief ihm von Stirn und Nase.
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Autoren-Porträt von Erwin Grosche
Erwin Grosche, geb. 1955 in Anröchte bei Berge. Der Kleinkünstler, Schauspieler und Autor schreibt unter anderem Geschichten und Lieder für 'Die Sendung mit der Maus'. Erwin Grosche lebt mit seiner Familie in Paderborn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erwin Grosche
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2007, 1, 157 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 357013086X
- ISBN-13: 9783570130865
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