Atlas für verschollene Liebende
Atlas für verschollene Liebende von Nadeem Aslam
LESEPROBE
SCHMETTERLINGSEIERZUM FRÜHSTÜCK
Als er nachder Arbeit nach Hause geht, den Afternoon unter dem Arm, hört Shamas dasEcho seiner eigenen Schritte auf dem Schnee, als würde ihm jemand folgen.
Seit fasteiner Woche ist das Land im Wetterbericht mit Ketten aus Gänseblümchenüberzogen. Nachts gefriert das Kondenswasser an den Fenstern zu glitzerndenMustern aus Vogelfedern, Insektenflügeln und Blattgerippen, als befände sich injedem Haus ein Zauberwald voller Fabeln und Mythen, dessen funkelndes Laubgegen die Fenster drückt. Jede Straße ist zu einer Buchreihe in einem Regalgeworden.
Shamas hatkeine Schmerzen mehr in den Fingern, die er sich verletzte, als er am Flussuferim Schnee nach Halfpenny-Münzen suchte. Sie fühlen sich nicht mehr an, als hättenihn Wespen gestochen. Die Haut heilt schnell. Unter dem harten Schorf schimmertdie neue Haut wie Perlmutt. Blassrosa. Jugnu - der Schmetterlingskundler - sagteeinmal, dass es in der Natur keine rosa Schmetterlinge gebe und dass die rosaSchmetterlinge, die während des Konzerts der Rolling Stones im Juli 1969 imHydepark freigelassen wurden, in Wirklichkeit weiße gewesen seien, die manzuvor in rosa Farbe getaucht hatte.
Shamas hatkeine Ahnung, warum die Polizisten ihren Ermittlungen im Fall von Jugnus undChandas Verschwinden den Namen «Operation Elfenbein» gegeben haben.
DieBeamten, die morgens zu ihm gekommen waren, um ihn offiziell von denVerhaftungen zu unterrichten, sagten, dass die beiden Brüder getrenntfestgehalten und vernommen würden - um eventuelle Widersprüche in ihren Aussagendingfest zu machen. Seitdem war er zweimal auf dem Revier und hat zuerst mitdem Chefinspektor und dann mit dem Polizeichef gesprochen, die beide für denFall zuständig sind. Der Polizeichef meinte, das Fehlen der Leichen sei ein Stolperstein,das Team werde jedoch weiterhin dafür kämpfen, dass ein Schuldspruch erreichtwürde. Der Prozess solle im Dezember stattfinden. Es gab zahlreichePräzedenzfälle, in denen die Mörder geglaubt hatten, ihre Spuren verwischt zuhaben. Und dann waren sie doch vor Gericht gebracht worden. Schon 1884 hatte esFälle gegeben, in denen Gerichte bereit waren, trotz fehlender LeichenSchuldsprüche zu verhängen: Damals waren zwei Matrosen des Mordes für schuldigbefunden worden, weil sie Kabinenstewards aufgegessen hatten, als sie in einemoffenen Boot Hunderte von Meilen über das Meer trieben. Ein jüngerer Fallbetraf die Entführung einer wohlhabenden Frau, für die Lösegeld gefordert wurde,und obwohl sie nie wieder auftauchte, wurden zwei Brüder des Mordes angeklagt.Nach Ansicht des Gerichts war sie wahrscheinlich den Schweinen zum Fraß vorgeworfenworden.
Plötzlichversteht er, warum die Ermittlungen «Operation Elfenbein» genannt wurden: DiePolizei wusste, dass sie höchstwahrscheinlich Knochen würde aufsammeln müssen.
Sprachekann dem Entsetzen die Spitze nehmen, zum Beispiel wenn von tödlicher Spritzedie Rede ist statt von «Gift»; jemanden auf den elektrischen Stuhl zu schickenbedeutet, ihn «bei lebendigem Leib zu verbrennen», jemanden zu hängenbedeutet, ihn «zu erwürgen».
Gerüchteüber das vermisste Paar - er muss jetzt versuchen, sie als tot zu betrachten -gibt es viele (sie hätten sich in Pfaue verwandelt!), aber das sind die Fakten:Letzten Sommer reisten Chanda und Jugnu für vier Wochen nach Pakistan. Daswar in der letzten Juliwoche, und sie wurden im August zurückerwartet. Chanda,die Tochter eines Lebensmittelhändlers aus der Nachbarschaft, war im Mai gegenden Willen ihrer Familie zu Jugnu gezogen. Die beiden kehrten aus Pakistanzurück - Pässe und Gepäck wurden in ihrem Haus gefunden, und die Dokumentebelegten, dass sie eine Woche früher als geplant zurückgekommen waren - und wurdenirgendwann während der nächsten Stunden oder Tage ermordet. Weder Shamas nochKaukab bemerkten ihre Rückkehr, sie hatten keine Ahnung, dass sie sich inEngland aufhielten - gleich nebenan.
In Chandasund Jugnus Haus stehen zahlreiche Glaskästen mit Faltern und Schmetterlingen injeder nur erdenklichen Farbe, von den dunklen unauffälligen bis hin zu denschillernden, die visuelle Entsprechung zum volltönenden Gesang einerNachtigall; die langen Nadeln, auf denen sie aufgespießt sind, erinnern an denSchaft, der senkrecht durch ein hölzernes Karussellpferd führt.
Knopf- oderflaschenförmig, stumpfe Kegel oder stachlige, Seeigeln ähnliche Kugeln oder miteiner Wölbung, als sollten sie als Dach für eine winzige Moschee dienen:Schmetterlingseier werden manchmal in ordentlichen Gruppen wie Vasen im Hofeines Töpfers in die Rinde von Bäumen, manchmal so weit auseinander wie dieGeschmacksknospen auf einer menschlichen Zunge auf ein Blatt oder auch spiralförmigwie eine Wendeltreppe um einen Zweig gelegt. Es gibt sie in so vielen Farbenwie Kontaktlinsen, wie Wegwerffeuerzeuge, und sie sind ähnlich durchscheinend.Sie können, auf die gewählte Unterlage geklebt, offen daliegen; die Weibchen mancherArten bedecken ihre Eier aber auch mit Haaren von ihrem Hinterleib.
Und alsKaukab sich an einem strahlend heißen Sommermorgen darüber wunderte, dass ihredrei Kinder sich eifrig winzige Perlen von Händen und Armen leckten, packte sieblankes Entsetzen, als sie erfuhr, dass es sich um Schmetterlingseierhandelte. Argwöhnisch kniff sie die Augen zusammen und war am Ende ihrerGeduld, als Jugnu ihr allen Ernstes erzählte, sie brauche keine Angst zu haben,denn er habe sich vergewissert, dass die Eier harmlos seien. «Manche Schmetterlingseierenthalten giftige Chemikalien als Schutz gegen Raubtiere, besonders die Arten,die Eier in grellen Farben produzieren und sie in Häufchen legen ... » Solche Informationenwaren ihm zur zweiten Natur geworden, und häufig vergaß er, dass er bei anderennicht das gleiche Vorwissen voraussetzen konnte. «... und du musst dir auchkeine Sorgen machen, dass die Kinder eine Art gefährden, wenn sie die Eieressen. Die hier sind von Schmetterlingen, die ihre Eier im Flug abwerfen,Dickkopffalter und Edelfalter. Sie hatten sowieso keine Chance zu schlüpfen,mach dir also keine Sorgen ...»
Er hieltinne, weil er den Ausdruck im Gesicht seiner Schwägerin bemerkt hatte.
Eins derKinder sagte: «Sie sind auf uns gelandet, als wir draußen am See waren.»
Nach diesemMorgen versuchte Kaukab mehrmals, ihre Kinder davon abzuhalten, mit Jugnu inden Bergen Schmetterlinge und Falter sammeln zu gehen, aber ihr Wunsch erwiessich als zu weitmaschiges Netz. (..)
© 2005 byRowohlt Verlag GmbH
Übersetzung:Rosetta Stein
- Autor: Nadeem Aslam
- 2005, 2, 544 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Stein, Rosetta
- Übersetzer: Rosetta Stein
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498000721
- ISBN-13: 9783498000721
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