Auf der Suche nach Amerika
So ist es wirklich: Shortstorys, die verstehen lassen, was Amerikaner tatsächlich bewegt.
Auf der Suche nach Amerika vonCassini (Hg.)
LESEPROBE
Einleitung
(die zu der Sorte von Einleitungen gehört, die ausführlichauf die nachfolgenden Geschichten Bezug nimmt und daher besser hinterher gelesen werden sollte) 1995 wurde der amerikanische Autor DavidFoster Wallace in einem Interview gefragt, wie es ist, in Amerika zu leben.Dies war seine Antwort: Es hat etwas besonders Trauriges an sich, gar nicht sosehr wegen der physischen Bedingungen oder der wirtschaftlichen Situation oder wegensonst etwas, worüber in den Nachrichten gesprochen wird. Die Traurigkeit kommteher aus dem Bauch. Ich sehe sie in verschiedener Form bei mir und meinenFreunden. Sie manifestiert sich als eine Art Gefühl von Verlorenheit. Aber obdas ausschließlich unsere Generation betrifft, weiß ich wirklich nicht.
Der Anlass des Interviews war die Veröffentlichung seines1079-seitigen Monster-Romans Infinite Jest, Lieblingslektüre in Studentenwohnheimenund das schwerste Hardcover seiner Zeit. Wie eine Herausforderung stand es inden Bücherregalen der Szenegänger. Wer kein größeres Werk zu schreiben imStande war, konnte zumindest ausprobieren, wie weit er es aus dem Stand werfenkonnte. So oder so war Infinite Jest das Buch, mit dem man sich früher oderspäter auseinander setzen musste, genau wie vorherige Generationen sich mitGravity s Rainbow (Dt.: Die Enden der Parabel), Midnight s Children (Dt.:Mitternachtskinder) oder The Recognitions (Dt.: Die Fälschung der Welt)auseinander setzen mussten. Aber abgesehen von seinem Gewicht hatte InfiniteJest noch andere herausragende Eigenschaften. Es war formal experimentell und standin der seit einiger Zeit von Autoren wie John Barth oder Donald Barthelmewieder entdeckten Tradition des Fabulierens, es war gesellschaftlich auf denPunkt, »vernetzt« wie die Romane von Pynchon und DeLillo, es war abergleichzeitig auch emotional ergreifend, ja sogar melancholisch. Habe ich schonerwähnt, dass es außerdem komisch war? In Wallace Roman ging es, und diesblieb charakteristisch für sein Werk, um den aufmerksamen Blick auf dieverborgene, geschlagene und geschrumpfte spirituelle Existenz Amerikas und derAmerikaner. In diesem Land verbirgt sich, hinter dem professionellen Lächelnseiner Bewohner, eine Traurigkeit, die so tief in die Kultur eingedrungen ist,dass man sie beim Frühstück schmecken kann. Wir haben sie verinnerlicht, undwir können ihr nichts verkaufen, denn sie ist nicht wegen neuer Turnschuhe aufdem Markt. Sie ist der Ort, den die Kultur lieber meidet, es sei denn, sie ist gezwungen,sich dorthin zu begeben. Man darf in Amerika beinahe alles sein -unzufriedenoder unausgefüllt, unerkannt und unerwünscht, unausgeglichen oder unemotional,ungerecht entlohnt oder unbedeutend. Aber nicht unglücklich. Unglück weistsanft auf das Metaphysische, und wenn die spirituellen Bedürfnisse vomScience-Fiction-Markt nicht hinreichend abgedeckt werden, na dann: Houston, wirhaben ein Problem.
Und trotzdem bleibt diese Traurigkeit und existiert Seite anSeite mit einer hysterischen Beteuerung deines (ja, deines!) Glücks, das du ander materiellen Oberfläche findest. Wallace hat diese Traurigkeit erkannt: Undviele sind ihm gefolgt. Diese Sammlung präsentiert Autoren, die sichstilistisch oft stark von Wallace und auch voneinander unterscheiden, docheines ist ihnen gemeinsam: Ihre Texte verströmen diese gewisse Traurigkeit.Selbst das fast durchgängig präsente Lachen ist das Lachen, das Nabokov sogeliebt hat: das Gelächter im Dunkel.
Wie und warum kam es zu dieser Sammlung? Es war einLiebesdienst, doch nicht ich, sondern Marco Cassini hat die Geburtswehenerlitten. Wie man sich vielleicht denken kann, ist Marco ein bärtigerItaliener. Für einen Lektor ist er sehr jung, und überdies leitet er eineneigenen Verlag, minimum fax, in Rom. Zentrum aller verlegerischen Aktivitäten isteine kleine Wohnung, die er zusammen mit seiner Freundin Martina Testa bewohnt.Ich habe beide vor zwei Jahren auf einem Literaturfestival in Mantua kennengelernt. Während einer Lesung kämpfte ich mich durch eine Menge des Englischennicht mächtiger Italiener, und Marco und Martina saßen in McSweeney s-T-Shirtsgrinsend in der ersten Reihe. Es war in dieser kleinen mittelalterlichen Stadtein absurd unpassender Anblick - ich grinste zurück. Offenbar haben sie das alsein Zeichen von Sympathie gedeutet, jedenfalls schleiften sie mich nach derLesung in irgendeine Taverne, bestellten jede Menge Rotwein, und Marco zog eineSchachtel aus der Tasche, in der ein zerknittertes und verschwitztes Bandanavon David Foster Wallace lag. Marco erklärte mir, dass er es nie waschen würde.Ich muss gestehen: Ich war beeindruckt. Nachdem wir wie die Teenager unseregemeinsame Verehrung für den Autor beteuert hatten, wurden wir immerbetrunkener, während weitere Freunde von Marco dazukamen. Alle unterhieltensich angeregt über eine bunte Truppe junger amerikanischer Schriftsteller undwaren entzückt, dass die anderen ebenfalls von ihnen gehört hatten. Wir wurdennoch betrunkener. Ich fragte mich, wie Marco es schaffte, irgendwas zu verlegen- bei dem Alkoholkonsum. Dann gegen zwei Uhr morgens schrieb Marco den Vertrag fürmein nächstes Buch auf eine Papierserviette, die ich im Dusel unterschrieb. Biszum heutigen Tag erklärt er mir in seinen E-Mails, dass der Vertrag trotz derWeinflecken juristisch verbindlich sei. Wir treffen uns vor Gericht, schreibter. Nun, das werden wir sehen. Etwa eineinhalb Jahre später landete dievorliegende Sammlung auf dem Schreibtisch meiner Lektorin. Marco und Martinahatten die Geschichten zusammengestellt und bei minimum fax veröffentlicht,darunter Namen, die bekannt genug waren, um für eine angenehme Überraschung zusorgen, wenn man bedenkt, dass die Anthologie in einem so kleinen Verlagerschienen ist. Aber Marco ist sehr einfallsreich. An viele der Geschichten ister gekommen, weil er sich mit den Autoren anfreundete, sie mit E-Mails nervteund dann zuschlug, bevor die größeren italienischen Verlage (die lieber wartenwollten, um zu sehen, ob aus diesen amerikanischen Kids überhaupt etwas würde)begriffen, was ihnen entgangen war. Die Sammlung wuchs zu einer beeindruckendenMomentaufnahme schriftstellerischen Talents in Amerika (obwohl sie dieexistierende Vielfalt, vor allem die neue Welle subkultureller Stimmenkeineswegs erschöpfend darstellt. Dafür ist ein zweiter Band von Auf der Suchenach Amerika notwendig). Es war das erste Mal, dass ich all diese Autorenversammelt sah. Es traf mich unerwartet, so als hätte ein Verwandter mit Hilfedeines Adressbuches eine Überraschungsparty organisiert, mit lauter wunderbarenMenschen, die du kennst und die sich gegenseitig vielleicht nicht kennen.Darüber hinaus tummelten sich in dieser Sammlung weitere Schriftsteller (die inder Küche um den Kühlschrank lungerten oder auf der Treppe hockten), die ichnie zuvor gelesen hatte und bei denen ich eine heimliche Entdeckerfreudeempfand, obwohl ich mit ihrer Entdeckung überhaupt nichts zu tun hatte. Vorallem jedoch fand ich es aufregend, dass so viele Vertreter meinerliterarischen Generation (»literarische Generationen« verhalten sich zu»Generationen« wie Hundejahre zu Menschenjahren: Mit einer Generation sollteman eine Spanne von fünf Jahren bezeichnen, aber eine einzige literarischeGeneration geht heutzutage von 17 bis 39) auf dieser imaginierten Party warenund mit Enthusiasmus und Schwung schrieben. So etwas hebt die Stimmung, manverspürt die Lust, es selbst besser zu machen. Kurzum, es war eine fröhlicheVersammlung, und ich fühlte mich sehr geschmeichelt von der Bitte, drei Mal anmein Glas zu klopfen und diese einleitenden Worte an das Publikum zu richten.
Doch die Sammlung selbst, die Stimmen, die in meinem Kopfhängen blieben, formierten sich zu einem Chor der Melancholie. Ich hatte denEindruck, dass die Autoren ihren Lesern ein Amerika vorstellen, das von einem ganzanderen Geist geprägt ist als das der vorangegangenen Generation. Weit entferntvon dem unbegrenzten Amerika eines Bellow, dem männlich wütenden eines Rothoder dem lyrischen Amerika einer Morrison. Das Amerika dieser Geschichten istgedämpfter, die Figuren weniger hysterisch auf ihrer Bahn, uneins mit sichselbst, unsicher. Traurig.
Aber warum so traurig, Leute? Angesiedelt sind dieseGeschichten (genau wie ihre Autoren) in einem durch und durch privilegierten,gebildeten, glücklichen, reichen Milieu, zumeist in der weißen protestantischenOberschicht. Warum sind diese Autoren gebrannte Kinder, was genau ist daszugrunde liegende Trauma? Zwei Dinge scheinen übermächtig zu sein: die Angstvor dem Tod und die Angst vor dem Kommerz. Beides ist natürlich aufs Innigstemiteinander verbunden. In der Reklame gibt es den Tod nicht, als Branche sinddie Werbeleute eine veritable Anti-Todesliga, und diese Generation hat erlebt,wie der Kommerz bis in die Textur ihres Lebens gesickert ist und sich dorteingenistet hat. Inzwischen offenbart sich der Tod als jenes hässliche Ende derGeschichte, das sie sich nie ausgemalt haben. Die Furcht vor Krankheit, Unfällenoder Angriffen ist allgegenwärtig. Einige dieser Ängste sind neu oder tunwenigstens so (die Häufung apokalyptischer Massentodesphantasien in jüngerenamerikanischen Shortstorys kann kein Zufall sein), andere sind so alt wieAmerika selbst. In »Verständnistest« befragt Myla Goldberg ihre amerikanischenMitbürger über die tief sitzende amerikanische Angst, Opfer eines Verbrechenszu werden, das von einem Schwarzen begangen wurde. Es ist einMultiple-Choice-Test, deshalb sollte der Leser seinen Stift griffbereit halten.Für Judy Budnitz weiße Amerikaner der Mittelklasse (deren Lebenserwartungwahrscheinlich höher ist als die irgendeiner anderen Gruppe auf dem Planeten)ist der Tod etwas, was in jeder Erscheinungsform zu fürchten ist. Wir bekommensogar eine nützliche Liste morbider Möglichkeiten: »verrückte Unfälle,Dreschmaschinen, die durchdrehten, Menschen, die sich in riesigen Zahnrädernoder Fließbändern verfingen, wo ihnen die Gliedmaßen ausgerissen wurden, Händein Brotschneidemaschinen, wackelige Stege über Fässern mit Säure.Fahrstuhl-Fälle, Sprungbrett-Fälle, U-Bahn-Fälle,Ertrinken-in-der-Badewanne-Fälle, Stromschlag-durch-Mixer-Fälle. Und dann gab esnoch die, die einfach Schicksal genannt wurden.«
Wenn man dazu noch Sam Lipsytes Story »Der falsche Arm«betrachtet - in der die Krankheit namenlos bleibt, aber trotzdem so sicherkommt wie die Flut -, drängt sich der Eindruck auf, dass der Tod in die amerikanischeLiteratur zurückgekehrt ist, so wie er in das amerikanische Leben zurückgekehrtist. Es passiert nicht mehr einfach dort drüben, wo die Armen und Verzweifeltensind, sondern direkt hier, wo wir reich sind und keinen Gott haben, der unsbeschützt. Der Tod ist eine Art Affront gegen den American Way of Life. Er istdas Gegenteil von Optimismus. Egal was du machst, wie hart du arbeitest und wiegut du bist, du kannst ihm nicht entgehen. Er interessiert sich nicht für deineFreiheitsrechte. Er zwingt dich dorthin zurück, woher du gekommen bist. Derphysische Tod raubt dir deinen Körper und dein Bewusstsein, doch es gibt einen zweitenTod, der in diesen Geschichten noch leidenschaftlicher zum Thema wird: Es istder Tod der Authentizität. Es ist ein uraltes Thema der Postmoderne, aber fürviele Autoren in diesem Band ist das Problem noch immer vorhanden. Die Werbunggeistert durch die Storys wie eine Fleisch gewordene böse Kraft in der Welt,die den menschlichen Geist durch Reklamesprüche ersetzt. Bitte, nur einauthentischer Gedanke - das ist zur neuen pastoralen Pose des Westens geworden.Wo einst die Schriftsteller davon träumten, in Vergilsche Wälder mitplätschernden Bächlein zurückzukehren, wollen sie heute nur einenursprünglichen Satz schreiben, der noch nicht zum Verkauf von Klimaanlagen,Pepsi oder irgendwelchen Pillen benutzt wurde. In Jonathan Lethems»Zugangsphantasie« finden wir uns in einer grauen Zukunft wieder, in derMenschen Plaketten auf die Haut appliziert werden, die sie zu Reklameroboterndegradieren, sobald sie den Mund aufmachen. Ken Kalfus ersetzt Calvinosunsichtbare Städte durch unsichtbare Einkaufszentren, Konsumpaläste, riesigeprunkvolle Reklameplattformen, die in sich selbst funktionieren. A.|M. Homes erzähltvon der Verliebtheit eines Jungen in eine Barbiepuppe: »Ich war drauf und dran,mich auf eine Art zu verlieben, die nichts mit Liebe zu tun hatte.« - aberdafür umso mehr mit dem Produkt: »Ich ließ meine Zunge vor und zurück über dieSplitter gleiten, vor und zurück über die Worte copyright 1966 Mattel Inc.Malaysia , die auf ihren Rücken tätowiert waren.«
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Kristian Lutze, Stefan Lux
Autoren-Porträt von Zadie Smith
Zadie Smith ist der shooting star der britischenLiteraturszene. Mit knapp 25 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, Zähnezeigen, der wochenlang auf den Bestsellerlisten stand. Zadie Smith, 1975 inWillesden geboren, halb Jamaikanerin, halb Britin, lebt mit ihrer Mutter inWillesden Green, einer multikulturellen Gegend im Norden Londons. Mit demSchreiben begann sie während ihres Examens am King s College in Cambridge,"als Ausgleich zu dem langweiligen Lernen".
- Autor: Marco Cassini
- 2004, 318 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Hrsg. v. Marco Cassini u. Martina Testa. Aus d. Amerikan. v. Kristian Lutze u. Stefan Lux
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442542065
- ISBN-13: 9783442542062
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