Aufforderung zum Tanz
Eine Zweiergeschichte. Originalausgabe
Ein Mann - eine Frau: ein schwindelerregender TanzDie beiden Bestsellerautoren Christine Westermann und Jörg Thadeusz kannten sich kaum, bevor sie sich in das Abenteuer stürzten, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Was hat sie dazu getrieben? Eine riesige...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Aufforderung zum Tanz “
Klappentext zu „Aufforderung zum Tanz “
Ein Mann - eine Frau: ein schwindelerregender TanzDie beiden Bestsellerautoren Christine Westermann und Jörg Thadeusz kannten sich kaum, bevor sie sich in das Abenteuer stürzten, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Was hat sie dazu getrieben? Eine riesige Neugier aufeinander: Jeder will herausfinden, wie der andere - anderes Geschlecht, anderes Lebensalter - die großen und kleinen Themen des Lebens betrachtet. Christine Westermann und Jörg Thadeusz teilen mehr als eine Leidenschaft: Als Journalisten haben sie ihre Lust, Menschen und deren Geschichten kennenzulernen, zu ihrem Beruf gemacht. Beide zeigen sich in ihren Büchern als Meister der Beobachtung, die noch den alltäglichsten Situationen poetische und hochkomische Seiten abzugewinnen vermögen. Beide sind entwaffnend aufrichtig. Und hochgradig charmant. Ihr Briefwechsel ist eine Aufforderung zum Tanz, nur wer hier wen auffordert, ist noch nicht geklärt. Mit großer Anmut, unerwarteten Volten und einem nie versagenden Taktgefühl nähern sich Christine Westermann und Jörg Thadeusz ihren Themen: Liebe, Treue, Eifersucht, Älterwerden, Arbeit und Nichtstun. Sie erhitzen sich darüber, ob Carl Maria von Weber ein »Frauenversteher« war, und ob »Frauenversteher« nun ein Schimpfwort ist oder nicht. Oder philosophieren über den Sinn von Kosenamen, über jene, die die eigenen Eltern füreinander gebraucht haben, und jene, die einem selbst zugefallen sind. Über welches Thema die beiden auch schreiben, stets überraschen sie den Leser mit unerwarteten Ansichten und Schlussfolgerungen, mit Pirouetten oder einem rasanten Marsch übers Parkett.
Lese-Probe zu „Aufforderung zum Tanz “
Aufforderung zum Tanz von Christine Westermann und Jörg Thadeusz
Lieber Jörg,
Rechts, glaube ich. Rechts siehst Du fröhlicher aus als links. Vor mir liegt ein Foto von Dir. Über die eine Hälfte Deines Gesichts habe ich ein Blatt Papier gelegt. Ich sehe eine halbe Stirn. Die vormals dichten Haare dort haben sich wie auf ein stilles Kommando zurückgezogen. Ich überlege kurz, wie Du wohl mit Hut aussehen würdest.
Jedenfalls bist Du kein Baseballkappentyp, oder?
Ich empfehle ein Modell mit Fell. Trapper 2000, für den seriösen Herrn mit Hang zum Abenteuer. Pelzkranz mit Fuchsschwanz würde auch zu Deinen buschigen Augenbrauen passen. Jedenfalls zu der einen, die ich sehe. Sie hat ansteigende Tendenz, während sich das Augenlid eher nach unten orientiert. Dein Auge sieht mich nicht an, ich werde das Gefühl nicht los, es guckt absichtlich an mir vorbei. So als wollte es sagen: »Schau mich nur in Ruhe an, das kann ich gut aushalten. Aber Obacht, wenn ich zurückgucke!«
... mehr
Ich nehme mir Zeit, versuche ohne Erfolg, Deinen Blick in meine Richtung umzuleiten. Wollte ich Dir schmeicheln, würde ich sagen, Du hast ein Sternchen im Auge. Da ich noch nicht weiß, ob ich Dir schmeicheln möchte, bleibe ich neutral und sage, es ist ein heller Fleck. Keine Ahnung, wieso mir jetzt Leuchtturm einfällt. Ich stelle mir den Fleck wie das Lichtzeichen eines Leuchtturms vor, das sich in Deiner Pupille spiegelt. Man könnte Dir in ein Auge gucken und sich einbilden, irgendwann in einem sicheren Hafen anzukommen.
Das Blau Deines Auges ist einfach nur blau. Ich habe es lange angeguckt, aber mehr fällt mir nicht ein. Blau. Das ist besser als lauwarm. Neulich habe ich in einem Roman gelesen: »Seine Augen waren von einem lauwarmen Blau.« Ich finde, das ist so ziemlich das Dämlichste und Unerotischste, was man über eine Augenfarbe schreiben kann. Zumal das Lauwarm-Blauauge in der Geschichte einen heftigen Temperatursturz erlebt. Als der Begehrer nämlich auf Seite 112 die Dame seines Herzens ansieht, legt sich sein Blick auf sie »wie leichter Frost«, und wenn er ihn abwendet, hat sie das Gefühl, »als wäre ihre Haut mit einem Gitternetz überzogen«.
Wenn Du bei einem Buch schon mal bis Seite 112 vorgedrungen bist, liest Du dann unbeirrt weiter, auch wenn Dich ein lauwarmes Blau oder ein Gitternetz kurzzeitig aus der Kurve tragen? Das Gitternetzsyndrom will sich bei mir auch nach längerer Betrachtung Deines blauen Auges nicht einstellen, deshalb kümmere ich mich jetzt um Deine Nase. Schwierig zu beschreiben. Nasen sind nur imposant, wenn man sie am Stück sieht. Eine halbe Nase macht nichts her, was erstaunlich ist, wenn man weiß, was sie als Ganzes in einem Gesicht anrichten kann. Dein Kinn, jedenfalls der Teil, den das Papier frei gibt, sieht aus wie eine Babyfaust. Ein Kinn an sich finde ich nicht besonders aufregend, es sei denn, es ist im Begriff zu fliehen. Dein halbes Kinn sieht so aus, als fühlte es sich in Deinem halben Gesicht ganz wohl und wollte länger bleiben. Vielleicht, weil sich in seiner unmittelbaren Nähe genau jene Stelle befindet, von der die verborgene Fröhlichkeit ausgeht. Der Mund, an dessen Ende die kleine Kerbe sitzt. Wenn ich ihn mir länger anschaue – mir tränen schon die Augen –, bin ich mir sicher, dass von dort jene magische Bewegung ausgeht, die Dir die Freundlichkeit ins Gesicht zaubert. Vermutlich gibt es irgendwo einen Schalter, den man nur von »dimmen« auf »volle Power« stellen muss, und schon kommt Leuchten in Dein Gesicht. Auch auf die andere, die ernste Seite. Ich gebe zu, es ist viel Fantasie im Spiel, wenn man bedenkt, dass ich von Dir nur vier Zentimeter hochkant sehe.
Wenn Du mal eben aufschaust, wen siehst Du? Stehen Fotos auf Deinem Schreibtisch, auf der Vitrine? Hängen sie am Kühlschrank oder überm Bett? Hast Du überhaupt eine Vitrine? Sind es Deine Eltern? Bist Du es? Deine Freundin? Männer, Kinder, Tiere, Schiffe? Ein Fußballverein? Mit Fotos in Sichtweite bin ich bei der Arbeit am Schreibtisch schwer gefährdet. Mein Herz geht bei ihrem Anblick auf Reisen, und in der Vergangenheit angekommen, spürt es dann liebend gern noch mal nach, wie es war, wo es war. Den Schreibtisch habe ich deshalb vorsichtshalber zu einer erinnerungsfreien Zone erklärt. Von der Kastanie abgesehen. Die liegt seit letztem Herbst da. Das Jahr davor gab es auch eine. Die Sache mit der Kastanie ist seit bestimmt dreißig Jahren ein Ritual, eine Erinnerung, die nicht verblassen soll. Aber das ist eine andere Geschichte.
Außer der eingedellten Kastanie das Übliche. Papierkram, Bleistifte, Büroklammern, Unordnung und eine Flasche Mineralwasser. Grünes Glas. Ich muss sie nicht anfassen, um zu wissen, dass der Inhalt warm und abgestanden schmeckt. Ist bei grünen Mineralwasserflaschen immer so. Warum ich sie dennoch gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Eigentlich gehören grüne Wasserflaschen zum festen Inventar im Zimmer eines Krankenhauses. Wie der Zettel mit der Sprechstunde des Seelsorgers und das angelutschte Hustenbonbon. Das habe ich jedenfalls so als Bild im Kopf. Direkt neben der Flasche und der Kastanie auf meinem Schreibtisch liegt Dein Buch mit Deinem Foto und dem Papier, das die ernste, die linke Hälfte Deines Gesichts verdeckt. Den Trick mit dem Papier hat mir mal ein Fotograf gezeigt.
Funktioniert immer. Bei jedem Menschen. Bei mir ist es links. Links sehe ich, glaube ich, fröhlicher aus als rechts. Es ist erstaunlich, wie sich das Gesicht eines Menschen verändert, wenn man zwei Hälften aus ihm macht. Wenn ich jemanden noch nicht kenne, mache ich das manchmal: halbe-halbe.
Dich kenne ich noch nicht, aber das möchte ich ändern. Es reicht der Blick in Dein rechtes Auge, um mir da sicher zu sein. Ab jetzt sehe ich mit großer Vorfreude Deiner Antwort entgegen.
Viele Grüße von Christine
Eine sinfonische Miniatur, die »Christine« heißen dürfte …
Liebe Christine,
ich habe 94 Bilder von Dir zur Auswahl. Dabei habe ich noch nie mit Dir vor einer Sehenswürdigkeit gestanden und den schlimmen Satz gesagt: »Stell Dich mal dahin.« Wobei es heute beinahe liebenswürdig erscheint, wenn sich eine Gattin zinnsoldatig hinstellt, mit der sicheren Gewissheit, auf dem Schnappschuss nur als ein formloses Bündel Funktionskleidung vor einer riesig wirkenden Kathedrale zu erscheinen. Der Gatte in Beige – Du hast den Stadttouristen alter Schule bestimmt vor Augen – verzweifelt an den vielen Funktionen seiner Spiegelreflexkamera und kompensiert sein Scheitern mit Anherrschen: »Guck doch nicht immer so doof!«
Mittlerweile ein überholtes Klischee. Denn heute fotografieren sich immer alle. Werden zu grob gepixelten Fratzen in Handy-Displays.
Weil die Zeiten so modern sind, habe ich 94 Bilder von Dir. Ich habe Dich gegoogelt. Vor zehn Jahren hätte darunter jeder etwas Frivoles verstanden. Heute wissen viele, dass damit auch vorverlegtes Kennenlernen am Computer gemeint sein kann. Einfach den Namen in die Suchmaschine eingeben, und schon kommt einiges zutage. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde, dass man einen anderen Menschen nur heimlich googeln darf. So wie man nur heimlich in seinen Tagebüchern lesen oder ohne Erlaubnis durch seine Fotoalben schnüffeln darf. Beides total verboten, aber letztlich viel aufschlussreicher als die Computerrecherche.
Denn die Suchmaschine liegt jenseits nüchterner biografischer Fakten immer daneben. Die vielen Einträge machen nichts anderes als die Handy-Kameras. Sie liefern ein verpixeltes Bild, das eher unkenntlich macht. Über Dich verrät das Internet, dass Du in Deiner nächsten Show nicht mehr mit den Armen rudern möchtest, angeblich eine alte Häsin am WDR-Mikrofon bist und Organspenden gut findest. Auf den Bildern sind die Haare mal kurz und mal länger. Auf einem Foto brennt Dir ein helles Licht ins Gesicht, als hätte Dich die Polizei in San Francisco nach einer amtlich schwer genommenen Leichtfertigkeit erkennungsdienstlich behandelt.
Also vergessen wir die 94 Bilder und die manchmal regelrecht ärgerlichen Texte. Schließlich kann ich mir ein eigenes Christine-Bild auf die Festplatte im Kopf laden. Nehmen wir an, ich wäre musikbegabt, vielleicht Komponist, dann könnte ich nach unseren wenigen persönlichen Begegnungen eine sinfonische Miniatur abliefern, die »Christine« heißen dürfte.
Die Piccoloflöte würde den Anfang machen, so sachte, wie Dein Lächeln in einem Mundwinkel beginnt. Dann würde ich das Lachen heraufbeschwören, das sich harmonisch im ganzen Gesicht ausbreiten kann. Alle Streicher würden folgen, und wehe, sie halten keinen warmen Ton, genauso wie die braunen Augen den Angesehenen umschmeicheln. Hin und wieder würden die Hörner einen brummigen, verblüfften Akzent setzen, die musikalische Entsprechung des erstaunten Ausdrucks, den ich schon häufiger in Deinem Gesicht gesehen habe. Eben keine abgeklärte »alte Häsin«, sonst könnte ich ja auch die abgeklärten Trompeten arrogant schmettern lassen. Mit der Harfe wäre die Radio-Christine gemeint, die ich schon so oft gehört habe. Gekonnte Töne, ungefähr so, wie Du am Mikrofon die Worte zupfst. Den Mann an den Pauken und die Posaunisten müsste ich nach Hause schicken, weil ich mir das Laute bei Dir nicht vorstellen kann. Noch nicht. Wahrscheinlich bin ich noch zu sehr Fan und bewundere unkritisch Deine Samtigkeit. Wann wirst Du wohl posaunenlaut? Im Auto? Dann womöglich sogar auf Kurpfälzisch? In einer Ohrmuschel, die nördlich des Mains gewachsen ist, haben mannheimerische Sprachgeräusche allenfalls Naturvolk-Charme. Oder entfahren Dir laut Kraftausdrücke, wenn Du von dem Wasser aus der grünen Flasche trinkst, das Dir selbst zu Klinikbrühe verteicht ist? Doch, doch, auch auf meinem Schreibtisch kompostiert es. Zum Beispiel die Briefe des Berliner Polizeipräsidenten, die der Mann selbst nie gesehen hat. Die auch vom Sheriff von Nottingham kommen könnten. Weil ich heuchlerisch mit »Lieber Verkehrsteilnehmer« angesprochen werde, obwohl ich vor allem Geld hergeben soll, aber dalli. Der Karteikasten mit dem Visitenkartenchaos. Einst mit Überheblichkeit gekauft. Gäbe es an mir eine entsprechende technische Vorrichtung, hätte die Karteikastenverkäuferin auf der Videotexttafel lesen sollen: »Bewundern Sie mich, vor Ihnen steht ein zukünftiger Ordentlicher.« (…)Jörg
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
Das Blau Deines Auges ist einfach nur blau. Ich habe es lange angeguckt, aber mehr fällt mir nicht ein. Blau. Das ist besser als lauwarm. Neulich habe ich in einem Roman gelesen: »Seine Augen waren von einem lauwarmen Blau.« Ich finde, das ist so ziemlich das Dämlichste und Unerotischste, was man über eine Augenfarbe schreiben kann. Zumal das Lauwarm-Blauauge in der Geschichte einen heftigen Temperatursturz erlebt. Als der Begehrer nämlich auf Seite 112 die Dame seines Herzens ansieht, legt sich sein Blick auf sie »wie leichter Frost«, und wenn er ihn abwendet, hat sie das Gefühl, »als wäre ihre Haut mit einem Gitternetz überzogen«.
Wenn Du bei einem Buch schon mal bis Seite 112 vorgedrungen bist, liest Du dann unbeirrt weiter, auch wenn Dich ein lauwarmes Blau oder ein Gitternetz kurzzeitig aus der Kurve tragen? Das Gitternetzsyndrom will sich bei mir auch nach längerer Betrachtung Deines blauen Auges nicht einstellen, deshalb kümmere ich mich jetzt um Deine Nase. Schwierig zu beschreiben. Nasen sind nur imposant, wenn man sie am Stück sieht. Eine halbe Nase macht nichts her, was erstaunlich ist, wenn man weiß, was sie als Ganzes in einem Gesicht anrichten kann. Dein Kinn, jedenfalls der Teil, den das Papier frei gibt, sieht aus wie eine Babyfaust. Ein Kinn an sich finde ich nicht besonders aufregend, es sei denn, es ist im Begriff zu fliehen. Dein halbes Kinn sieht so aus, als fühlte es sich in Deinem halben Gesicht ganz wohl und wollte länger bleiben. Vielleicht, weil sich in seiner unmittelbaren Nähe genau jene Stelle befindet, von der die verborgene Fröhlichkeit ausgeht. Der Mund, an dessen Ende die kleine Kerbe sitzt. Wenn ich ihn mir länger anschaue – mir tränen schon die Augen –, bin ich mir sicher, dass von dort jene magische Bewegung ausgeht, die Dir die Freundlichkeit ins Gesicht zaubert. Vermutlich gibt es irgendwo einen Schalter, den man nur von »dimmen« auf »volle Power« stellen muss, und schon kommt Leuchten in Dein Gesicht. Auch auf die andere, die ernste Seite. Ich gebe zu, es ist viel Fantasie im Spiel, wenn man bedenkt, dass ich von Dir nur vier Zentimeter hochkant sehe.
Wenn Du mal eben aufschaust, wen siehst Du? Stehen Fotos auf Deinem Schreibtisch, auf der Vitrine? Hängen sie am Kühlschrank oder überm Bett? Hast Du überhaupt eine Vitrine? Sind es Deine Eltern? Bist Du es? Deine Freundin? Männer, Kinder, Tiere, Schiffe? Ein Fußballverein? Mit Fotos in Sichtweite bin ich bei der Arbeit am Schreibtisch schwer gefährdet. Mein Herz geht bei ihrem Anblick auf Reisen, und in der Vergangenheit angekommen, spürt es dann liebend gern noch mal nach, wie es war, wo es war. Den Schreibtisch habe ich deshalb vorsichtshalber zu einer erinnerungsfreien Zone erklärt. Von der Kastanie abgesehen. Die liegt seit letztem Herbst da. Das Jahr davor gab es auch eine. Die Sache mit der Kastanie ist seit bestimmt dreißig Jahren ein Ritual, eine Erinnerung, die nicht verblassen soll. Aber das ist eine andere Geschichte.
Außer der eingedellten Kastanie das Übliche. Papierkram, Bleistifte, Büroklammern, Unordnung und eine Flasche Mineralwasser. Grünes Glas. Ich muss sie nicht anfassen, um zu wissen, dass der Inhalt warm und abgestanden schmeckt. Ist bei grünen Mineralwasserflaschen immer so. Warum ich sie dennoch gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Eigentlich gehören grüne Wasserflaschen zum festen Inventar im Zimmer eines Krankenhauses. Wie der Zettel mit der Sprechstunde des Seelsorgers und das angelutschte Hustenbonbon. Das habe ich jedenfalls so als Bild im Kopf. Direkt neben der Flasche und der Kastanie auf meinem Schreibtisch liegt Dein Buch mit Deinem Foto und dem Papier, das die ernste, die linke Hälfte Deines Gesichts verdeckt. Den Trick mit dem Papier hat mir mal ein Fotograf gezeigt.
Funktioniert immer. Bei jedem Menschen. Bei mir ist es links. Links sehe ich, glaube ich, fröhlicher aus als rechts. Es ist erstaunlich, wie sich das Gesicht eines Menschen verändert, wenn man zwei Hälften aus ihm macht. Wenn ich jemanden noch nicht kenne, mache ich das manchmal: halbe-halbe.
Dich kenne ich noch nicht, aber das möchte ich ändern. Es reicht der Blick in Dein rechtes Auge, um mir da sicher zu sein. Ab jetzt sehe ich mit großer Vorfreude Deiner Antwort entgegen.
Viele Grüße von Christine
Eine sinfonische Miniatur, die »Christine« heißen dürfte …
Liebe Christine,
ich habe 94 Bilder von Dir zur Auswahl. Dabei habe ich noch nie mit Dir vor einer Sehenswürdigkeit gestanden und den schlimmen Satz gesagt: »Stell Dich mal dahin.« Wobei es heute beinahe liebenswürdig erscheint, wenn sich eine Gattin zinnsoldatig hinstellt, mit der sicheren Gewissheit, auf dem Schnappschuss nur als ein formloses Bündel Funktionskleidung vor einer riesig wirkenden Kathedrale zu erscheinen. Der Gatte in Beige – Du hast den Stadttouristen alter Schule bestimmt vor Augen – verzweifelt an den vielen Funktionen seiner Spiegelreflexkamera und kompensiert sein Scheitern mit Anherrschen: »Guck doch nicht immer so doof!«
Mittlerweile ein überholtes Klischee. Denn heute fotografieren sich immer alle. Werden zu grob gepixelten Fratzen in Handy-Displays.
Weil die Zeiten so modern sind, habe ich 94 Bilder von Dir. Ich habe Dich gegoogelt. Vor zehn Jahren hätte darunter jeder etwas Frivoles verstanden. Heute wissen viele, dass damit auch vorverlegtes Kennenlernen am Computer gemeint sein kann. Einfach den Namen in die Suchmaschine eingeben, und schon kommt einiges zutage. Ich weiß nicht, warum, aber ich finde, dass man einen anderen Menschen nur heimlich googeln darf. So wie man nur heimlich in seinen Tagebüchern lesen oder ohne Erlaubnis durch seine Fotoalben schnüffeln darf. Beides total verboten, aber letztlich viel aufschlussreicher als die Computerrecherche.
Denn die Suchmaschine liegt jenseits nüchterner biografischer Fakten immer daneben. Die vielen Einträge machen nichts anderes als die Handy-Kameras. Sie liefern ein verpixeltes Bild, das eher unkenntlich macht. Über Dich verrät das Internet, dass Du in Deiner nächsten Show nicht mehr mit den Armen rudern möchtest, angeblich eine alte Häsin am WDR-Mikrofon bist und Organspenden gut findest. Auf den Bildern sind die Haare mal kurz und mal länger. Auf einem Foto brennt Dir ein helles Licht ins Gesicht, als hätte Dich die Polizei in San Francisco nach einer amtlich schwer genommenen Leichtfertigkeit erkennungsdienstlich behandelt.
Also vergessen wir die 94 Bilder und die manchmal regelrecht ärgerlichen Texte. Schließlich kann ich mir ein eigenes Christine-Bild auf die Festplatte im Kopf laden. Nehmen wir an, ich wäre musikbegabt, vielleicht Komponist, dann könnte ich nach unseren wenigen persönlichen Begegnungen eine sinfonische Miniatur abliefern, die »Christine« heißen dürfte.
Die Piccoloflöte würde den Anfang machen, so sachte, wie Dein Lächeln in einem Mundwinkel beginnt. Dann würde ich das Lachen heraufbeschwören, das sich harmonisch im ganzen Gesicht ausbreiten kann. Alle Streicher würden folgen, und wehe, sie halten keinen warmen Ton, genauso wie die braunen Augen den Angesehenen umschmeicheln. Hin und wieder würden die Hörner einen brummigen, verblüfften Akzent setzen, die musikalische Entsprechung des erstaunten Ausdrucks, den ich schon häufiger in Deinem Gesicht gesehen habe. Eben keine abgeklärte »alte Häsin«, sonst könnte ich ja auch die abgeklärten Trompeten arrogant schmettern lassen. Mit der Harfe wäre die Radio-Christine gemeint, die ich schon so oft gehört habe. Gekonnte Töne, ungefähr so, wie Du am Mikrofon die Worte zupfst. Den Mann an den Pauken und die Posaunisten müsste ich nach Hause schicken, weil ich mir das Laute bei Dir nicht vorstellen kann. Noch nicht. Wahrscheinlich bin ich noch zu sehr Fan und bewundere unkritisch Deine Samtigkeit. Wann wirst Du wohl posaunenlaut? Im Auto? Dann womöglich sogar auf Kurpfälzisch? In einer Ohrmuschel, die nördlich des Mains gewachsen ist, haben mannheimerische Sprachgeräusche allenfalls Naturvolk-Charme. Oder entfahren Dir laut Kraftausdrücke, wenn Du von dem Wasser aus der grünen Flasche trinkst, das Dir selbst zu Klinikbrühe verteicht ist? Doch, doch, auch auf meinem Schreibtisch kompostiert es. Zum Beispiel die Briefe des Berliner Polizeipräsidenten, die der Mann selbst nie gesehen hat. Die auch vom Sheriff von Nottingham kommen könnten. Weil ich heuchlerisch mit »Lieber Verkehrsteilnehmer« angesprochen werde, obwohl ich vor allem Geld hergeben soll, aber dalli. Der Karteikasten mit dem Visitenkartenchaos. Einst mit Überheblichkeit gekauft. Gäbe es an mir eine entsprechende technische Vorrichtung, hätte die Karteikastenverkäuferin auf der Videotexttafel lesen sollen: »Bewundern Sie mich, vor Ihnen steht ein zukünftiger Ordentlicher.« (…)Jörg
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
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Autoren-Porträt von Christine Westermann, Jörg Thadeusz
Christine Westermann ist mit ihren Buchempfehlungen im Stern, ihren Sendungen im Hörfunk (Buchtipps im WDR) und als Kolumnistin des Buchjournals eine der bekanntesten Buchkritikerinnen. Sie war festes Mitglied in der Fernsehsendung »Das literarische Quartett«. Für ihre gemeinsam mit Götz Alsmann moderierte TV-Sendung »Zimmer frei« erhielt sie u.a. den Adolf-Grimme-Preis. Ihre Fernsehkarriere begann sie bei der »Drehscheibe« im ZDF, später moderierte sie die »Aktuelle Stunde«. Christine Westermann hat bislang fünf Bücher veröffentlicht, die allesamt Bestseller wurden. Sie liebt es, ihre Bücher auf Lesereisen vorzustellen. Wer sie noch nicht live erlebt hat, hat etwas versäumt.Jörg Thadeusz, Journalist, Moderator und Autor. Für seine Außenreportagen bei »Zimmer frei« erhielt er den Grimme-Preis. Er moderiert die politische Gesprächssendung »Thadeusz und die Beobachter« im rbb-Fernsehen. Bei WDR2 befragt er in seiner Abendsendung Menschen, die etwas zu sagen haben. Er ist wöchentlicher Kolumnist der Berliner Morgenpost. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen von ihm: Rette mich ein bisschen, 2003; Alles schön, 2004; Aufforderung zum Tanz (gemeinsam mit Christine Westermann), 2008; Die Sopranistin, 2011, sowie Die vereinigten Zutaten von Amerika, 2012 (gemeinsam mit Anna Engelke).
Bibliographische Angaben
- Autoren: Christine Westermann , Jörg Thadeusz
- 2018, 4. Aufl., 208 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462036777
- ISBN-13: 9783462036770
- Erscheinungsdatum: 22.09.2008
Rezension zu „Aufforderung zum Tanz “
»Westermann und Thadeusz zeigen sich als Meister der Beobachtung, die noch den alltäglichsten Situationen poetische und hochkomische Seiten abzugewinnen vermögen. [...] entwaffnend aufrichtig. Und hochgradig charmant.« seite-4.de
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