Ausgeliefert
Die erschütternde und aufrüttelnde Geschichte eines Kindes, das die Hölle von Missbrauch und Gewalt überlebt hat. Von allen allein gelassen.
»Ich beschreibe, was mir zugestoßen ist, weil ich damit vielleicht diejenigen unterstützen kann, die so leiden, wie ich es tat, und ich ihnen sagen will, dass sie etwas dagegen tun können. Auch wenn sie es mit einem Peiniger zu tun haben, der so gefährlich und anscheinend so unbesiegbar ist wie mein Stiefvater.«
Jane war vier Jahre alt, als ihre Leidensgeschichte begann. Tyrannisiert, missbraucht und sadistisch misshandelt von einem Mann, der berüchtigt war für seine Brutalität und Aggression: ihrem Stiefvater. Ohne dass Mutter, Brüder, Lehrer, Nachbarn oder Behörden es merken wollten. Als Jane endlich den Mut und die Kraft fand, sich gegen ihren Peiniger zu stellen, war sie 21 Jahre alt. Sie brach ihr lebenslanges Schweigen, trotz des Wissens, dass die Drohung ihres Stiefvaters, ihr und der Familie Gewalt anzutun, wenn sie ihr Geheimnis preisgab, keine leere Drohung war.
Jane Elliott hat ihre Geschichte veröffentlicht, weil sie aus eigener Erfahrung weiß, dass sich die Täter auf das Schweigen ihrer Opfer verlassen, die zu verängstigt und beschämt sind über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Sie erzählt in oft schockierender Ehrlichkeit, in der Hoffnung, dass es für die Täter schwerer wird, ihre Verbrechen zu begehen, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wächst. Ihr Buch will den Opfern Mut machen, sich zu wehren - und ist ein flammendes Plädoyer gegen das alltägliche Wegsehen!
Mit einem Vorwort vom Deutschen Kinderschutzbund und einem Nachwort von TERRE DES FEMMES!
Ausgeliefert von Jane Elliott
LESEPROBE
Danke, Jane Elliott, für diesenBericht!
Es ist kaum vorstellbar, welche Grausamkeiten in Familien, die Schutz undGeborgenheit bieten sollen, geschehen können. Kaum jemand kann ermessen, dasseinem Kind tagtäglich so schlimme Gewalttätigkeiten, so furchtbareErniedrigungen und so grausame Verletzungen an Seele und Leib zugefügt werden.Und erst recht fällt es schwer, sich vorzustellen, wie aus einem sogeschundenen Kind dennoch ein positiv denkender Mensch werden konnte.
Deshalb musste dieses Buch geschrieben werden. Jane Elliott ist dafür zudanken, weil sie ihren Lesern die Augen öffnet für das unsägliche Leid, dasmehr Kinder in ihren Familien erfahren, als man im Allgemeinen vermutet.
Wie kommt es dazu, dass ein Mannein Kind derart misshandelt?
Hinter Handlungen, die die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte einesKindes vollkommen missachten, verbirgt sich nicht selten eine schwerePersönlichkeitsstörung, d. h. der Täter ist psychisch krank. Derartige Menschensind auf Grund ihrer völligen Gefühlskälte meist nicht therapierbar. Das kannund darf aber keine Rechtfertigung sein.
Die Erfahrung zeigt, dass gewalttätige Handlungen gegenüber Kindern durchausauch bei so genannten normalen oder eher unauffälligen Familien vorkommen.
Ursachen für die Entgleisungen Kindern gegenüber sind meist ein Bündel vonunbewältigten Alltagsproblemen. Dazu zählen hohe Verschuldung undArbeitslosigkeit, Ehe- und Alkoholprobleme. Kommen zu viele ungelöste Problemezusammen und fehlt es an Unterstützung, reicht ein geringfügiger Anlass, um dieangestauten Aggressionen an Kindern gefährlich abzureagieren.
Bei entsprechender therapeutischer Behandlung bestehen aber bei den zuletztgenannten Gründen reelle Chancen, Veränderungen des Verhaltens herbeizuführen.
Welche Möglichkeiten zu helfenbestehen?
Es ist nicht leicht, schwer misshandelnde Eltern auf ihre Verhaltensweisenanzusprechen, da sie sich meist für ihre Art des Umgangs mit den eigenenKindern schämen. Deshalb lehnen sie jedes Gespräch darüber lieber von vornhereinab. Sie behaupten etwa, die blauen Flecken ihrer Kinder rührten von Unfällenund Stürzen her, und versuchen die Angelegenheit herunterzuspielen. Nachbarnoder Freunde akzeptieren sie selten als Gesprächspartner über ihre familiärenProbleme.
Die Geschichte von Jane Elliott macht deutlich, dass Kinder sich gerade unterden schlimmsten Umständen kaum äußern. Ihre berechtigte Angst vor neuerlichenStrafen hält sie davon ab, darüber zu reden. Dass sie trotz aller Leiden loyalzu ihren Eltern stehen, hat gewichtige Gründe: Kinder wollen "ihr Nestnicht beschmutzen", wollen auf ihre Familie stolz sein.
Wenn sie sich überhaupt öffnen, dann in der Regel einem Menschen gegenüber, demsie vertrauen. Lehrer, Kindergärtnerinnen, Erzieher oder andere Personen, dieständig mit dem Kind zu tun haben, können solche Vertrauenspersonen sein.
Sind Misshandlungen vermeidbar?
Jedes Mal, wenn das traurige Schicksal eines geschlagenen oder vernachlässigtenKindes mit Todesfolge bekannt wird, geht ein Aufschrei der Empörung durch dieBevölkerung. Diese schlimmen Ereignisse stellen gewiss nur die Spitze desEisbergs dar. Wie viele Kinder ihre Kindheit tatsächlich wie in einer Hölleverbringen, ist nicht bekannt. Das Ausmaß körperlicher Gewalt gegen Kinder inder Familie belegt eine Studie aus 2002 von Prof. Dr.
Kai-D. Bussmann, Universität Halle-Wittenberg. Hier geben 68,9 Prozent derbefragten Kinder bis 18 Jahren an, von ihren Eltern Ohrfeigen zu erhalten,hochgerechnet machen sogar 700 000 Kinder massive Gewalterfahrungen.
(Kinderzahl in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt: 15 236 657 lautstatistischem Bundesamt). Angaben zur Vernachlässigung von Kindern wurden nichterhoben bzw. nicht gesondert erfasst.
Die polizeiliche Kriminalstatistik (2003) weist 116 000 Kinder und Jugendlicheaus, die Opfer von gewalttätigen Angriffen und schweren Körperverletzungenwurden, wobei diese zu etwa 80 Prozent im Elternhaus und im Umfeld derVerwandtschaft stattgefunden haben.
Bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurden 31 941 Fälle zurAnzeige gebracht.
Von sexuellem Missbrauch und gewalttätigen Angriffen mit Todesfolge waren 295Kinder betroffen.
Es wird nicht in jedem Fall möglich sein, Gewalt gegen Kinder zu verhindern.
Diese Erkenntnis darf jedoch nicht zu Gleichgültigkeit und zum Wegsehenverleiten. Elternkurse, Krabbelgruppen, Familienzentren, Gesprächskreise undBeratungsstellen sind Einrichtungen und Initiativen, an die Eltern sichangstfrei und vertrauensvoll wenden können. Wenn Eltern vermehrt den Mut finden,sich beizeiten solchen Kreisen anzuschließen, werden sie im Gespräch erfahren,dass auch andere Schwierigkeiten haben und wie sie diese meistern.
Sie werden auch erkennen, wie entspannend diese Gespräche für sie sein können.Leider suchen wirklich gefährdete Familien derartige Kontakte bisher häufigviel zu spät.
Wer kann helfen?
Der in Deutschland bundesweit vertretene Kinderschutzbund sieht seit seinerGründung vor mehr als 50 Jahren seine wesentliche Aufgabe darin, diebestehenden Tabus bei Misshandlungen von Kindern aufzubrechen. Er bietetBeratungen und Therapien durch hoch qualifizierte Familientherapeuten,Psychologen, Sozialarbeiter und Pädagogen an.
Wer in seinem Umfeld einen Fall von Kindesmisshandlung vermutet, kann sichtelefonisch an den Kinderschutzbund wenden.
Weitere Ansprechpartner sind die KinderschutzZentren, zum Beispiel in Münchenmit der Tel.-Nr. 0 89-55 53 56, oder die Bundesarbeitsgemeinschaft derKinderschutz-Zentren in Köln.
Das Elterntelefon mit der bundesweit gebührenfreien Tel.-Nr. 0800-1 11 05 50bietet ebenfalls Rat und Hilfe an.
Allgemeine Fragen zum Thema beantworten die Geschäftsstelle des MünchnerKinderschutzBundes unter der Tel. 0 89-55 53 59 oder die vermittelndeBundesgeschäftsstelle in Hannover.
Grundsätzlich kann man bei allen genannten Stellen jede Beobachtungvertrauensvoll schildern. Erfahrene Mitarbeiter beraten und entscheiden, was zutun ist, oder ob der KinderschutzBund selbst tätig wird.
In besonders schwierigen Fällen von Misshandlungen und Vernachlässigungenkönnen Kinder aus München zur Klärung der familiären Situation in unseremKinderschutzHaus untergebracht werden. Zur Nachbehandlung und weiterentherapeutischen Begleitung, sobald das Kind wieder in die Familie integriertist, sind das KinderschutzZentrum und auch die Familienhilfe gute Partner.
Das KinderTageszentrum (KITZ) spielt als innovative Einrichtung in diesemZusammenhang eine wichtige, die Arbeit der anderen ergänzende Rolle. Dortverbringen 30 Kinder nicht nur ihren Tag, sondern es wird großer Wert auf gutenKontakt zu den Eltern gelegt. Die Mitarbeiterinnen des KinderTageszentrumserkennen Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung sofort und suchenrasch das Gespräch mit den Eltern, um helfend zu intervenieren.
Heidrun Kaspar Vorsitzende desKinderschutzBundes München e.V.
München, im Dezember 2005
KinderschutzBund München e.V.
Pettenkoferstr. 10a
80336 München
Tel.: 0 89/55 53 59
www.kinderschutzbund-muenchen.de
Wir freuen uns über jedeUnterstützung:
Spendenkonto Nr.: 7811705
Bank für Sozialwirtschaft, München
BLZ 700 205 00
Weitere Informationen zum Thema "Kinderschutz":
Deutscher KinderschutzBund Bundesverband e.V.
Tel.: 05 11/3 04 85-0
Hinüberstr. 8
30175 Hannover
www.kinderschutzbund.de
Bundesarbeitsgemeinschaft derKinderschutzZentren e.V.
Bonner Str. 147
50968 Köln
Tel.: 02 21/56 97 53
www.kinderschutz-zentren.org
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Die Geschichte einer Überlebenden
Wenn vom Bösen die Rede ist, fallen uns als Erstes Massenmörder wie dieRomanfigur Hannibal Lecter oder Diktatoren wie Adolf Hitler ein. Doch unseretatsächlichen Begegnungen mit dem Bösen sind meist wesentlich banaler: Da sindes brutale Klassenkameraden oder sadistische Lehrer, die ihren Opfern das Lebenzur Hölle machen, unfreundliche Pfleger in Altenheimen oder skrupellose Diebe,die sich an Alten und Schwachen vergreifen. Wenn wir mit dem Bösen in Berührungkommen, dann eher flüchtig oder indirekt, was es nicht weniger schrecklichmacht.
Dies ist jedoch die wahre Geschichte eines vierjährigen Mädchens, das einemgnadenlosen Sadisten in die Hände fiel. Siebzehn Jahre befand es sich in dessenGewalt, bis es ihm schließlich gelang zu fliehen und den Spieß umzudrehen. Esist eine Geschichte über Angst und unvorstellbare Misshandlungen, aber auchüber ungeheuer mutiges Handeln, das zur Verhaftung, Verurteilung undSicherheitsverwahrung des Peinigers führte.
Meist erfahren wir erst von Kindern wie Jane, wenn wir von ihrem Tod in derZeitung lesen. Dann fragen wir uns, wie es so weit kommen konnte, ohne dass dieAllgemeinheit oder zuständige Behörden auch nur das Geringste bemerkt haben.Wir versuchen uns vorzustellen, was da wohl schief gelaufen ist, vergessenjedoch, dass diese Kinder in einer Welt leben, die für jeden normalen Menschenunvorstellbar ist. Dies ist die Geschichte einer Überlebenden, die unshellhörig machen sollte.
Die Geschichte von Jane Elliott ist streckenweise fast unerträglich.
Trotzdem muss sie erzählt werden, weil sich die Täter meist auf das Schweigenihrer Opfer verlassen.
Würde offen über das geredet, was sich hinter verschlossenen Türen so allesabspielt, wären Qualen, wie Jane sie erleiden musste, wesentlich seltener.
Die Täter haben nämlich nur dann Erfolg, wenn andere zu verängstigt sind odersich zu sehr schämen, um über das zu reden, was ihnen angetan wurde.
Dadurch, dass Jane ihre Geschichte erzählt hat, macht sie es zukünftigenPeinigern ein wenig schwerer.
Um die wahre Identität von Jane und ihren Verbündeten im Kampf um Gerechtigkeitzu schützen, sind die Namen sämtlicher Akteure in diesem Buch geändert.
Ich wurde von der Opferschutzbeauftragten, einer älteren Dame, zurück in denGerichtssaal gebracht. Bisher hatte man strikt darauf geachtet, mich durch eineandere Tür rein- und rauszuführen als meinen Stiefvater Richard.
Irgendwie war stets dafür gesorgt worden, dass wir uns nicht begegneten, wasmir eine gewisse Sicherheit gab. Hinter meinen langen Haaren versteckt, hatteich ihn bisher noch nicht ansehen und mich an sein Gesicht erinnern müssen.Doch als ich jetzt mit gesenktem Kopf erneut den Saal betrat, stand direkt vormir ein Paar Schuhe, das mir den Weg versperrte. Ich blickte auf und in einGesicht, bei dessen Anblick mir vor Angst ganz schlecht wurde.
Die hellen Augen, die mich an eine Schlange erinnerten, und die roten Haarewaren genau wie früher, auch wenn er etwas stämmiger wirkte, als ich ihn inErinnerung hatte.
"Bringen Sie mich hier raus", zischte ich, während ich spürte, wiemich sein Bände sprechender Blick durchbohrte. "Bringen Sie mich hierraus, bringen Sie mich hier raus."
"So beruhigen Sie sich doch, um Himmels willen", sagte die Dame, diemein Gefühlsausbruch sichtlich irritierte. "Hier entlang!"
Sie führte mich in einen angrenzenden Raum mit Glastür. Er folgte uns, trataber nicht ein. Stattdessen blieb er vor der Glastür stehen und starrte micheinfach nur ausdruckslos an.
"Rufen Sie die Polizei!", schrie ich. "Rufen Sie diePolizei!"
"Machen Sie sich nicht lächerlich." So langsam verlor sie die Geduld."Vor wem haben Sie denn solche Angst? Vor dem da?" Sie zeigte auf dieunbewegliche Gestalt hinter der Scheibe mit den toten, starrenden Augen.
"Holen Sie Hilfe!", schrie ich, und sie begriff, dass ich mich nichtberuhigen würde. Sie lief zur Tür. "Gehen Sie nicht weg!", schrie ichund sah mich schon allein mit ihm in einem Raum. Die Frau geriet in Panik, weilihr die Situation immer mehr entglitt.
In diesem Moment trafen Marie und eine andere Polizeibeamtin ein. Als siesahen, dass ich mich in eine Ecke geflüchtet hatte und mit dem Gesicht zur Wandstand wie ein kleines Kind, kamen sie mir sofort zu Hilfe. Sie waren außer sichvor Wut und brachten mich in Sicherheit.
"Er wird mich umbringen", stöhnte ich, als Marie ihren Arm um michlegte.
"Ich bin so gut wie tot."
"Nein, das wird er nicht, Jane", beruhigte sie mich. "Er kannIhnen nichts mehr tun. Sie machen das großartig. Jetzt haben wir es baldgeschafft."
2
Frühe Kindheitserinnerungen lassensich nur schwer in eine chronologische Reihenfolge bringen und auch nicht aufKommando abrufen. Stattdessen verkriechen sie sich im hintersten Winkel meinesGedächtnisses. Manchmal sehe ich mich wieder als Drei- oder Vierjährige, weißjedoch nicht, warum ich an jenem Ort war oder was anschließend geschah. Doch abund zu kommen die verlorenen Erinnerungen überraschend zurück - und wären oftbesser verschüttet geblieben. Ich fürchte, dass es immer noch Schubladen gibt,zu denen mein Unterbewusstsein absichtlich den Schlüssel verloren hat: AusAngst, dass ich ihren Inhalt nicht ertragen könnte. Doch eines Tages werdensich auch diese Schubladen aufzwingen lassen. Noch scheinen sie zu warten, bisich das, was sie enthalten, verkraften kann. Ich freue mich nicht darauf, einenBlick hineinzuwerfen.
Es fällt mir schwer, die genaue Reihenfolge der einzelnen Ereignissezusammenzubringen. Ich weiß vielleicht noch, wie groß ich bei einer bestimmtenBegebenheit ungefähr gewesen bin, kann aber unmöglich sagen, ob ich damals vieroder sechs Jahre alt war. Ich kann mich zum Beispiel noch an Sachen erinnern,die regelmäßig geschahen, aber nicht daran, ob das ein Jahr oder drei Jahre soging, ob sie wöchentlich oder nur einmal im Monat passierten. Auch wenn dassicherlich keine große Rolle spielt, fällt es mir doch schwer, dieses Chaos zuordnen und meine ersten Lebensjahre so sachlich und wahrheitsgemäß wie möglichzu schildern. Denn alle anderen, die sich auch noch daran erinnern können,haben gute Gründe, nicht die Wahrheit zu sagen oder sie zumindest so zuverdrehen, dass sich ihr eigenes Verhalten rechtfertigen lässt.
Ich weiß noch, dass ich mit meinem Bruder im Kinderheim gelebt habe. Ich mussungefähr drei Jahre alt gewesen sein, als man uns von zu Hause wegholte. Er waranderthalb Jahre jünger als ich, also eigentlich noch ein Baby. Ich liebteJimmy über alles. Wenn unser Vater kam, um uns für ein gemeinsames Mittagessenaus dem Kinderheim zu holen, soll ich mich um Jimmy gekümmert und ihn gefütterthaben wie eine Mutter. Ich selbst kann mich an diese Ausflüge nicht mehrerinnern, weiß aber noch, wie sehr ich Jimmy vergötterte.
Was das Kinderheim betrifft, erinnere ich mich hauptsächlich an die braunenVitamintabletten, die man uns jeden Morgen in kleinen lila Bechern austeilte.Und daran, dass man uns zwang, Rosenkohl zu essen. Ich hasste jeden Bissendavon, während der Kohl auf meinem Teller von Minute zu Minute kälter und immerungenießbarer wurde.
Im Kinderheim arbeitete eine Frau, die mich nach unserem allabendlichen GlasMilch öfter irgendwohin mitnahm, wo wir allein waren. Sie legte dann immerihren Zeigefinger auf die Lippen, so als wäre das ein großes Geheimnis, ließmich Platz nehmen und kämmte mein langes Haar. Sie verbrachte Stunden damit, esauf Lockenwickler zu drehen, und gab mir für ein paar Minuten am Tag dasGefühl, wunderschön und etwas Besonderes zu sein. (Meine Haare waren so dunkelund fein, dass ich stets gefragt wurde, ob ich Inderin oder Pakistanerin sei.)Wenn sie fertig war, gab mir die Frau einen Handspiegel, in dem ich michbetrachten und ihr Werk bewundern konnte. Für mich war es so etwas wie einZauberspiegel.
Das meiste, was ich über meine frühe Kindheit und den Grund für unserenHeimaufenthalt weiß, habe ich von meiner Mutter. Die redete nur zu gern mitanderen Leuten über mich, so als wäre ich gar nicht da. Während sie mit den Nachbarnplauderte, saß ich brav in einer Ecke und wartete, was sie mir wohl alsNächstes auftragen würde. Mittendrin fiel ihr dann wieder ein, dass es michauch noch gab, woraufhin sie mich ermahnte: "Erzähl ihm bloß nicht, dassich dir das gesagt habe." Mein Stiefvater mochte es gar nicht, wenn überdie Vergangenheit geredet wurde.
Als ich Mitte zwanzig war, machte ich Dad ausfindig. Er hat mir von sich ausdas eine oder andere erzählt, aber ich bedränge ihn nur ungern mit meinenFragen. Anscheinend hatte Dad damals ein kleines Alkoholproblem, das Mum nochverschlimmerte, indem sie sich mit anderen Kerlen herumtrieb und ihm auch sonstdas Leben zur Hölle machte. Er hatte uns bereits verlassen, bevor wir insKinderheim gekommen waren. Damals hatte Mum begonnen, sich mit Richard, demWiderling, wie ich ihn nenne, zu treffen. Vielleicht wohnte er auch schon beiuns, obwohl er damals noch sehr jung gewesen sein muss - gerade mal sechzehnoder siebzehn. Er ist nämlich nur vierzehn Jahre älter als ich.
Jimmy und ich kamen von einer Pflegefamilie zur nächsten. Die erste musswirklich nett gewesen sein, auch wenn ich mich kaum noch an sie erinnern kann.Die zweite war weniger sympathisch. Auf mich wirkte sie irgendwie böse. Dochvielleicht war sie auch nur auf eine Art streng, die wir nicht gewohnt waren.Wir durften niemals miteinander tuscheln und nur sprechen, wenn wir dazuaufgefordert wurden. Als sie mich einmal dabei erwischten, wie ich Jimmy etwaszuflüsterte, klebten sie mir den Mund mit einem Klebeband zu, das vorher einPaar neue Socken zusammengehalten hatte. Ich musste die ganze Nacht mitzugeklebtem Mund oben auf der Treppe sitzen, während alle anderen zu Bettgingen.
Obwohl es mir in dieser Pflegefamilie nicht gerade gut ging, wollte ich aufkeinen Fall zurück nach Hause, ohne dass ich hätte sagen können, warum.
"Ich freu mich schon drauf, wieder nach Hause zu kommen", sagte ichMum bei jedem Treffen, ohne es jedoch wirklich zu meinen.
Wenn wir auf Besuch nach Hause durften, herrschte dort immer so einebeängstigende Atmosphäre, auch wenn in den paar Stunden nie irgendetwasUnangenehmes passierte. Ich verhielt mich so unauffällig wie möglich, um denneuen Mann im Haus nicht zu verärgern. Doch Jimmy kannte keine derartigenHemmungen. Sobald man uns zu Hause abgesetzt hatte, schrie er wie am Spieß, soverängstigt war er. Ich spürte, dass das Richard wütend machte, was mich nurnoch mehr einschüchterte. Aber egal, was ich tat - ich konnte Jimmy nichtberuhigen, bis uns die Sozialarbeiter wieder abholten. Wir saßen während dergesamten Besuchszeit einfach nur auf dem Sofa, während er schrie und ichversuchte, ihn zu trösten. Richards Wut und die Verzweiflung meiner Mutternahmen immer bedrohlichere Formen an, während alle darauf warteten, dass diequalvolle Besuchszeit endlich vorüber wäre.
Jimmy hatte eine große Narbe an der Stirn, die ihm bis ins Erwachsenenaltergeblieben ist. Es hieß, er sei gegen den Couchtisch gefallen, bevor wir insHeim kamen. Damals glaubte ich diese Geschichte noch, aber heute muss ichsagen, dass die Narbe dafür viel zu groß war. Jimmy war damals noch sehr klein,kann also nicht besonders tief gefallen sein. Mittlerweile frage ich mich, obihm nicht etwas sehr viel Schlimmeres zugestoßen ist, was auch der eigentlicheGrund war, warum wir überhaupt ins Kinderheim kamen und warum erjedes Malsolche Angst davor hatte, nach Hause zurückzukehren.
© Verlagsgruppe RandomHouse
Übersetzung: Christiane Burkhardt
- Autor: Jane Elliott
- 2006, 1, 235 Seiten, Maße: 13,8 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Christiane Burkhardt
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764502177
- ISBN-13: 9783764502171
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