Die Priesterin von Avalon / Avalon-Saga Bd.5
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In einer Vision erblickt sie das Gesicht des Römers Constantius: der Mann, den sie lieben wird.
Die Priesterin von Avalon von Marion ZimmerBradley
LESEPROBE
Bei Sonnenuntergang hatte vom Meer her der Windaufgefrischt. Zu dieser Jahreszeit flämmten dieBauern ihre Stoppelfelder ab, doch die Brise hatte den Qualm, der den Himmelverschleierte, fortgeweht. Nun zog die Milchstraße ihre leuchtend weiße Spurüber den Himmel. Der Merlin von Britannien saß auf dem Wächterstein hoch obenauf dem heiligen Hügel, dem Tor, den Blick fest auf die Sterne gerichtet.Obwohl ihn die Himmelspracht gefangen nahm, schenkte er ihr nicht seineungeteilte Aufmerksamkeit. Er horchte angespannt, um auch noch das leisesteGeräusch aus der Hütte am Berghang unter sich zu erhaschen.
Seit Tagesanbruch lag dort die Hohepriesterin in den Wehen. Es war Riansfünftes Kind, und die Geburt der anderen Kinder war leicht gewesen. Eigentlichdurfte es also nicht so lange dauern. Die Hebammen hüteten ihre Geheimnisse,doch als er sich bei Sonnenuntergang auf seine Nachtwache vorbereitete, hatteer die Sorge in ihren Augen gelesen. König Coeliusvon Camulodunum, der wegen seiner überfluteten Feldermit Rian das Große Ritual vollzogen hatte, war einstattlicher Mann mit hellem Haar und dem für die Belgen-Stämmeim Osten Britanniens typischen stämmigen Körperbau. Rianwar eine kleine, dunkelhaarige Frau aus dem Volk der Feen, der ersten Bewohnerdieser Hügel.
Es wäre nicht verwunderlich, wenn das von Coelius gezeugte Kind zu groß für eine leichte Geburt wäre.Als Rian feststellte, dass sie von Coelius schwanger war, hatten einige der älterenPriesterinnen ihr dringend geraten, das Kind nicht auszutragen. Doch damit wäreder Zauber für das Land unwirksam geworden, und Riansagte, sie habe der Göttin nun schon so lange gedient und glaube an IHREAbsichten.
Welchen Sinn mochte die Geburt dieses Kindeshaben? Der Merlin ließ seinen Blick über den Himmel schweifen und versuchte,die in den Sternen stehenden Geheimnisse zu ergründen. Die Sonne stand geradeim Zeichen der Jungfrau, und der abnehmende Mond, der auf sie zulief, war andiesem Morgen am Himmel sichtbar gewesen. Jetzt verbarg er sein Gesicht und überließdie Nacht der Sternenpracht.
Der alte Mann duckte sich in die dicken Faltenseines grauen Mantels und spürte die Kälte der Herbstnacht in den Knochen. Erhatte immer geglaubt, Rian sei dazu ausersehen, ihmdie Augen zu schließen und die Lieder bei seinem Begräbnis zu singen. Dochwährend er dem Lauf des Großen Wagens über den Himmel folgte und nichts hörte,wusste er, dass er nicht vor Kälte zitterte, sondern vor Furcht.
Langsam wie grasende Schafe zogen die Sterneüber das Himmelszelt. Im Südwesten leuchtete Saturn im Zeichen der Waage.Stunden vergingen, und die Willenskraft der Gebärenden ließ allmählich nach.Jetzt drang hin und wieder ein Schmerzenslaut aus der Hütte. Doch erst in derstillen Stunde, während die Sterne verblassten, ließ ein neues Geräusch denMerlin mit pochendem Herzen auffahren - das zarte, aufbegehrende Wimmern einesNeugeborenen.
Im Osten färbte der heraufziehende Tag denHimmel bereits hell, doch direkt über dem alten Mann funkelten noch die Sterne.Einer alten Gewohnheit folgend, richtete er den Blick nach oben. Mars, Jupiterund Venus standen in günstiger Konjunktion. Da er seit seiner Kindheit in denLehren der Druiden unterwiesen worden war, prägte er sich die Stellung derSterne ein. Dann stand er auf, verzog das Gesicht, als die steifen Gelenkeprotestierten, und ging langsam den Berg hinab.
Das Kind hatte zu schreien aufgehört, doch alsder Merlin sich der Geburtshütte näherte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl,denn er hörte jemanden weinen. Frauen traten zur Seite, als er den schwerenVorhang zurückschob, der im Eingang hing. Fr war der einzige Mann, der dasRecht hatte, hier einzutreten.
Cigfolla, eine der jüngerenPriesterinnen, saß mit einem gewickelten Bündel auf den Armen in der Ecke undsummte leise. Der Blick des Merlin glitt an ihr vorbeizu der Frau auf dem Bett und blieb dort haften, denn Elan, deren Schönheitstets in ihren anmutigen Bewegungen zum Ausdruck gekommen war, regte sichnicht. Die dunklen Haare lagen in Strähnen auf dem Kissen; die eckigenGesichtszüge nahmen bereits die unverwechselbare Leere an, die den Tod vomSchlaf unterscheidet.
»Wie . . . « Er machte eine kleine, hilfloseGeste und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken. Er wusste nicht, ob Rian sein leibliches Kind war, doch sie war ihm wie eineTochter gewesen.
»Es war ihr Herz«, sagte Ganeda.Ihre Ähnlichkeit mit der Frau auf dem Bett trat beinahe schmerzhaft deutlichhervor, wenngleich Rians Ausdruck meist so sanftgewesen war, dass es stets leicht fiel, die beiden Schwestern zu unterscheiden.»Sie hat zu lange in den Wehen gelegen. Das Kind war groß, und ihr Herzversagte bei der letzten Anstrengung, es schließlich aus dem Leib zu stoßen.«
Der Merlin trat ans Bett und schaute auf dieTote. Dann beugte er sich vor und drückte das Segenszeichen auf die kalteStirn.
Ich habe zu lauge gelebt, dachte er wie betäubt.Riau hätte die Sterberiten für 'nichvollziehen müssen.
Fr hörte, wie Ganedahinter ihm Luft holte. »Sag an, Druide, welches Schicksal prophezeien dieSterne dem Mädchen, das in dieser Stunde geboren wurde?<'
Der alte Mann drehte sich um. Ganeda schaute ihn an, mit Augen, die vor Wut undunvergossenen Tränen glänzten. Sie hat das Recht, danach zu fragen, dachte erbitter. Ganeda war zugunsten ihrer jüngeren Schwesterübergangen worden, als die vorherige Hohepriesterinstarb. Er nahm an, dass die Wahl jetzt auf sie fallen würde.
Dann spürte er, wie sich sein Geist erhob, und anwortete auf ihre Herausforderung.
»Also sprechen die Sterne ... « Seine Stimmezitterte nur wenig. »Das Kind, das zur Herbstwende geboren wurde, zu demZeitpunkt, da die Nacht der Morgendämmerung wich, wird an der Wende desJahrhunderts stehen, an dem Tor zwischen zwei Welten. Die Zeit des Widders istvorüber, jetzt sollen die Fische herrschen. Der Mond verbirgt sein Gesichtdiese Jungfrau soll den Mond verbergen, den sie auf der Stirn trägt, und erstin hohem Alter wird sie ihre wahre Macht erlangen. Hinter ihr liegt der Weg,der in die Dunkelheit und deren Geheimnisse führt, vor ihr leuchtet das grelleLicht des Tages.
Mars ist im Zeichen des Löwen, aber Krieg wirdsie nicht erschüttern, steht er doch unter dem Stern des Königtums. Für diesesKind wird Liebe mit Herrschertum einhergehen, denn Jupiter drängt zur Venus. Ihrgemeinsames Strahlen wird die Welt erleuchten. In dieser Nacht kommen alle aufdie Jungfrau zu, die ihre wahre Königin sein wird. Viele werden sich vor ihrverneigen, doch ihre eigentliche Hoheit wird verborgen bleiben. Alle werden siepreisen, doch nur wenige werden ihren wahren Namen kennen. Saturn steht jetztin der Waage - ihre schwierigsten Aufgaben werden darin bestehen, dasGleichgewicht zu halten zwischen der alten Weisheit und der neuen. Mercurius indes ist verborgen. Ich sehe für dieses Mädchenviele Wanderungen und viele Missverständnisse voraus, doch führen am Ende alleWege hin zur Freude und zu ihrem wahren Zuhause.«
Die Priesterinnen um ihn herum murmelten: »Erprophezeit Größe - sie wird die Herrin vom See, wie ihre Mutter vor ihr!«
Der Merlin runzelte die Stirn. Die Sterne hattenihm ein Leben voller Zauber und Macht gezeigt, aber er hatte schon oft dieSterne für Priesterinnen gelesen, und die Konstellationen, die ihr Lebenvoraussagten, passten nicht zu denen, die er jetzt sah. Ihm schien, dass diesemKind bestimmt war, einen Weg zu gehen, den noch keine Priesterin von Avalon je zuvor beschritten hatte.
»Ist das Kind gesund und wohlgestaltet?«
»Es ist vollkommen, Herr.«Cigfolla erhob sich und drückte das gewickelte Kindfest an die Brust.
»Wirst du ihr eine Amme suchen?«Er wusste, dass im Augenblick keine der Frauen auf Avalonein Kind nährte.
»Wir können sie ins Dorf zu den Bewohnern am Seegeben<>, antwortete Ganeda. »Dort ist immereine Frau mit einem Neugeborenen. Wenn sie entwöhnt ist, werde ich sie zu ihremVater schicken.«
Cigfolla legte beschützend dieArme um ihr Bündel, doch die Aura der Macht, welche die Hohepriesterinumgab, senkte sich bereits auf Ganeda, und wenn diejüngere Frau Einwände hatte, so äußerte sie diese nicht.
»Bist du sicher, dass es weise ist?« Dank seines Amtes konnte sich der Merlin die Frageerlauben. «Muss sie nicht in Avalon ausgebildetwerden, um sie auf ihre Bestimmung vorzubereiten?«
»Was die Götter verfügt haben, werden siegeschehen lassen, was immer wir auch tun«, antwortete Ganeda.«Aber es wird lange dauern, bis ich ihr ins Gesicht schauen kann, ohne meinetote Schwester vor mir zu sehen.«
Der Merlin runzelte die Stirn, denn für ihnhatte es immer den Anschein gehabt, dass zwischen Ganedaund Rian nur wenig Zuneigung herrschte. Dochvielleicht ergab es einen Sinn - wenn Ganeda sichschuldig fühlte, ihre Schwester beneidet zu haben, wäre das Kind stets eineschmerzvolle Mahnung.
»Sollte das Mädchen Begabung zeigen, wenn es zurFrau heranreift, kann es vielleicht zurückkehren«, fuhr Ganedaunwillig fort.
Wäre er jünger gewesen, hätte der Merlinversucht, sie zu beeinflussen, doch er hatte die Stunde seines Todes in denSternen gelesen, und er wusste, dass er nicht mehr hier wellen würde, um daskleine Mädchen zu beschützen, sollte Ganeda ihm übelwollen. Vielleicht war es besser, wenn es bei seinem Vater lebte, solange esnoch klein war.
»Zeig mir das Kind.«
Cigfolla erhob sich, trat vorund schlug einen Zipfel der Decke zurück.
Der Merlin betrachtete das Gesicht des Kindes,das, einer Rosenknospe gleich, noch in sich geschlossen war. Für einNeugeborenes war das Kind groß und stämmig gebaut wie sein Vater. Kein Wunder,dass seine Mutter so erbittert hatte kämpfen müssen, um es zur Welt zu bringen.
»Wer bist du, Kleine?«,murmelte er. »Bist du ein so großes Opfer wert?«
»Ehe sie starb ... sagte ... die Herrin, essollte Eilan heißen«, bemerkte Cigfolla.
»Eilan ... «,wiederholte der Merlin, und als hätte das Kind ihn verstanden, schlug es dieAugen auf. Sie waren noch vom verschleierten Grau aller Neugeborenen überzogen,hatten jedoch einen ernsten Ausdruck, der viel älter war. »Aha ... es ist nichtdas erste Mal für dich«, sagte er und grüßte sie wie ein Reisender, derunterwegs einen alten Freund trifft und für ein kurzes Kopfnicken innehält, ehebeide ihre getrennten Wege fortsetzen. Schlagartig wurde er sich bewusst, wiesehr er es bedauerte, nicht miterleben zu können, wie dieses Kind aufwuchs.
»Willokommen in derHeimat, meine Kleine. Willkommen auf der Welt.«
Die Augenbrauen der Neugeborenen zogen sich kurzzusammen. Dann huschte ein Lächeln über die winzigen Lippen.
Aus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
© Wolfgang KrügerVerlag
Autoren-Porträt von Marion Zimmer Bradley
MarionZimmer Bradley, 1930 in Albany im Bundesstaat New York geboren, hat als Autorinvon Die Nebel von Avalon, Die Wälder vonAlbion und Die Herrin von Avalon Weltruhmerlangt. In über fünfzehnjähriger Arbeit schuf sie einen modernenUnterhaltungsklassiker, ein Geschichtspanorama, Lieblingslektüre fürGenerationen von Lesern. Diese Romane wurden auch beim deutschen Publikum einüberwältigender Erfolg. Marion Zimmer Bradley starb am 25. September 1999 inihrem kalifornischen Wohnort Berkeley.
- Autor: Marion Zimmer Bradley
- 2013, 491 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Balkenhol, Marion
- Übersetzer: Marion Balkenhol
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596153042
- ISBN-13: 9783596153046
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