Ballroom Blitz
Ballroom Blitz von Jessica Adams
LESEPROBE
An denHerausgeber
NWW Magazin
8A Wardour Street
London W16XZ
Montag, den8. Januar 1979
Sehrgeehrte Damen und Herren,
ich bin sicherkein Maßstab, aber hier sind die zehn Songs, die
mein Lebenverändert haben.
Himmel, duklingst wie eine Idiotin, streich s durch und fang
noch malvon vorn an.
Sehrgeehrte Damen und Herren,
hier diezehn Songs, die mein Leben verändert haben.
1. »Ballroom Blitz« - The Sweet
Natürlich begann der Song damit, dass Brian Steve, Andy undMick fragt, ob sie bereit sind. Worauf die Antworten je nach Stimmung - »Aha«,»Yeah!« und »O.K.« - unterschiedlich aus- fielen. Steve war Steve Priest, derzu Fotosessions gern mit voller indianischer Kriegsbemalung und gefiedertemKopfschmuck auftauchte. Andy war Andy Scott, der Schmetterlingshaarklammern undsilberne Plateaustiefel trug und zwei clownartige rote Ringe unter den Augenhatte. Mick war Mick Tucker, dessen offene Wildlederweste den Blick auf seineBrustwarzen freigab. Und der Sänger war Brian Connolly, der einen schönerenblonden Pagenkopf hatte als alle Mädchen, die ich kannte. Seine Stimme klang soübertrieben hoch, dass mein Vater jedes Mal, wenn sie The Sweet spielten, mitverschränkten Armen zum Radio hinüberstampfte und schwer durch die Nase atmete.»Bist du nicht ein bisschen zu alt für diesen Kram, Linda?« Wahrscheinlich warich das. Deshalb traute ich mich auch nicht, in den Plattenladen von Withingdeanzu gehen und die blöde Scheibe dort zu kaufen. Aber ich musste sie unbedingthaben. Im Spätsommer 1973 waren nur wenige Dinge für mich wirklich wichtig: diebraunen Plateaustiefel aus Wildleder, eine flache Tweedmütze, mit der ich wiemein tuberkulosegeplagter Großvater während der Weltwirtschaftskrise aussah -und diese Platte. Die hervorragendste, dümmste, auf wunderbarste Weise süchtigmachende, platteste Single dieses oder jedes anderen Jahres. Schwer zu sagen,wie Brian Connolly tatsächlich klingt, wenn ich mir den Song jetzt anhöre. Wieeine hysterische Hausfrau, die gerade einen abgetrennten Kopf in der Badewannegefunden hat? Ein spaciger Roboter, den man aus Versehen an einElektrizitätswerk angeschlossen hat? Ein Geisteskranker, der gleichzeitig diePersönlichkeiten von Kenneth Williams, Liberace, Frankie Howerd und Danny LaRue angenommen und dann zu viel Poppers konsumiert hat? Auf »Ballroom Blitz«klingt Brian Connolly aufgeregt, panisch, den Tränen nah, kurz davor, sich zuübergeben, stockschwul und vollkommen durchgeknallt, und das alles auf einmal.Ich meine, wie oft kann ein erwachsener Mann schnell hintereinander »Yeah!«rufen, bis ihm die Puste ausgeht? Natürlich konnte ich mit Anfang zwanzig kaumin einen Plattenladen marschieren und die Single in aller Öffentlichkeitkaufen. Also tat ich das einzig Vernünftige: Ich klaute sie. Es gibt nur eingroßes Kaufhaus bei uns in der Nähe, das Hillage s in Brighton. Im Erdgeschosskann man seiner Mutter Parfüm zum Geburtstag kaufen: Tweed, Caleche, Cachet(duftet bei jeder Frau anders!). Im Untergeschoss bekommt man Kochtöpfe undFonduesets, im Obergeschoss Damenmäntel in Prinzessin-Anne- undPrinzessin-Margaret-Farben. Neben dem Kaufhaus liegt ein L-förmiger Raum, mitdem die Inhaber nie etwas anzufangen wussten. 1973 kam jedoch jemand auf dieIdee, die Wände mit Glitter zu besprühen, Regenbogenaufkleber an dieSchaufenster zu pappen und das Ganze »Rave At Hillage s« zu nennen. Bei Rave AtHillage s konnte man enge Wildlederhalsbänder mit Äpfeln drauf und breiteJeansschlapphüte kaufen. Man konnte sogar auf riesigen Kordkissen herumsitzenund sich über die wichtigen Dinge des Lebens unterhalten, zum Beispiel darüber,was man gegen Spliss tat und wie man Radio Luxemburg reinbekam (»Stell 208 auf derMittelwelle ein, am rechten Ende der Skala.«). Nirgendwo sonst in Brightonbekam man einen Häkelponcho aus lilafarbener Nylonwolle, eine witzigeAfroperücke à la Jackson 5 oder einen Stimmungsring. Man durfte dort rauchenund essen (viele Leute schlenderten mit einem Schinkensandwich von derImbissbude gegenüber herein), und es kursierte sogar das Gerücht, man könntedort knutschen. In alten Zeiten vergnügte sich die Jugend von Brighton sicherdamit, mit faulen Kohlköpfen nach Queen Victoria zu werfen oder einem Autogrammvon Rudyard Kipling nachzujagen, aber in meiner Teenagerzeit musste man aneinem verregneten Samstag einfach im Rave abhängen. Im Rave At Hillage s gab eseinen besonderen Ladentisch mit lauter seltsamen Artikeln:Swingers-Strumpfhosen, knallgrünen Timex-Uhren und Tonbandgeräten von Philips(alle probierten sie einmal aus, indem sie Sachen wie »Verzieh dich!« sagten,aufnahmen und dann abspielten, um ihre Freunde zu überraschen). Auf der Thekelagen Easy Waist Jeans von Lee Cooper mit verdeckter Knopfleiste und Schlag unddaneben ein Strohkörbchen mit falschen Wimpern von Eyelure. An der Rückwandstand das Plattenregal. Hier gab es jede einzelne Single aus den Top 20 - vonMud über T. Rex bis hin zu The Sweet. Da die Verkäuferinnen des Rave diemeiste Zeit damit beschäftigt waren, sich gegenseitig von den Kordkissen zuschubsen und auszulachen, schien es mir ein Kinderspiel zu sein, mir eine»Ballroom Blitz«-Single vorn unter die Bomberjacke zu schieben und damithinauszuspazieren, ohne dass es jemand mitbekam. Hatte ich Erfahrungen imLadendiebstahl? Und ob. Ich hatte früher schon im Hillage s geklaut, quasi inNotzeiten. Zuerst einen marineblauen Clog aus der Auslage der Schuhabteilung(man soll ja klein anfangen). Dann arbeitete ich mich zu einem Paar roterKunststoffkirschen hoch (sie hätten 39 Pence gekostet), die man sich an den Hutstecken konnte. Ein Bekannter hatte mir mal erzählt, dass große Kaufhäuser wieHillage s absichtlich die Preise raufsetzten, weil sie sich gegen Leute wie michversichern mussten. Das ließ mein Vergehen weniger schlimm erscheinen. Sosteigerte ich mich von einem Clog und zwei Plastikkirschen zu einemabwischbaren Snoopy-Memo- board, das ich mir unter den Pullover schob, undeiner Perlenkette für meine Mutter. Natürlich wurde ich erwischt. Von David. Sohaben wir uns kennen gelernt. Ich klaute eine »Ballroom-Blitz«-Single, währender als Teilzeitwachmann auf einem Hocker am Eingang saß. »Entschuldigen Sie,Miss.« »Was ist denn?« Geh weiter, Linda, geh einfach weiter. Doch erverriegelte bereits die Tür und scheuchte dabei eine alte Dame mit Schirm fort,die gerade eintreten wollte. »Bitte öffnen Sie den Reißverschluss Ihrer Jacke,Miss.« »Was? Wieso?« Poch, poch, poch. Seltsam, dass das Herz schon zu klopfen anfangenkann, bevor das Gehirn begriffen hat, was überhaupt los ist. »Machen Sieeinfach die Jacke auf und geben Sie die Ware zurück.« »Ich hab nichts.« »Dannhaben Sie sicher nichts dagegen, einen Moment mitzukommen? « Die Verkäuferinnenin der Ecke kreischten noch immer vor Lachen und stießen sich gegenseitig vonden Kordsitzkissen. David war ein super Typ. So klassifizierte meine FreundinHazel alle Männer. Lockiges braunes Haar bedeutete super Typ, Kotelettenbedeuteten super Typ und ein Fair-Isle-Pullunder mit V-Ausschnitt, wie ihn RodStewart und Paul McCartney trugen, bedeutete erst recht ein super Typ. Alldiese Merkmale hatte David, als wir uns auf einen Drink nach der Arbeit trafen- nach meiner Festnahme. Sein Brusthaar war hundert Prozent Steve McQueen, auchwenn er auf dem Rückweg von der Theke Bier auf das Hemd schüttete. Ein paarTage später waren wir zusammen, und das sind wir auch heute noch, in unserergemeinsamen Wohnung in Brighton. Wenn »Ballroom Blitz« im Radio gespielt wird,stelle ich es aber ab. Mein Dad hatte Recht, was den Anfang angeht. Er lässteinen den Drang verspüren, wirklich sehr, sehr schwer durch die Nase zu atmen.
© UllsteinBuchverlage
Übersetzung:Stefanie Mierswa
- Autor: Jessica Adams
- 2005, 383 Seiten, Maße: 11,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mierswa, Stefanie
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548262759
- ISBN-13: 9783548262758
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