Benares oder Eine Erziehung des Herzens
Roman
-Die Vergangenheit lebt weiter, in den Menschen ebenso wie in den Städten. Ich brauche nur auf diesen Winter zurückzuschauen, um zu erkennen, wie schwer es ist loszulassen.-
Der Winter, an den sich der junge Samar erinnert, beginnt für ihn mit einer...
Der Winter, an den sich der junge Samar erinnert, beginnt für ihn mit einer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Benares oder Eine Erziehung des Herzens “
-Die Vergangenheit lebt weiter, in den Menschen ebenso wie in den Städten. Ich brauche nur auf diesen Winter zurückzuschauen, um zu erkennen, wie schwer es ist loszulassen.-
Der Winter, an den sich der junge Samar erinnert, beginnt für ihn mit einer schicksalhaften Begegnung in einem der zahllosen Tempel der heiligen Stadt Benares. Gerade erst aus der Universitätsstadt Allahabad eingetroffen und auf der Suche nach einer Unterkunft, lernt er den alten Musiker Panditji kennen, einen gebrechlichen, liebenswürdigen Mann, der mit einem Strauß verwelkter Ringelblumen zum Gebet gekommen ist. Panditji bietet ihm ein winziges Zimmer in seinem Haus direkt an den Ufern des Ganges an. Seinen Vermieter wird Samar nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekommen, weil der alte Mann seine Tage im Opiumnebel unter einer dicken Schicht Wolldecken zu verbringen pflegt und nur abends aus seiner Höhle kommt, um ausländischen Studenten Sitarunterricht zu geben, aber dafür ist da Samars Zimmernachbarin, die Engländerin Miss West, mit der er die Aussicht auf den Fluss, die verschwommenen Kuppeln und Minarette, die halb verfallenen Paläste und die säulengeschmückten Pavillons teilt und die den jungen Mann bald unter ihre Fittiche nimmt. Eigentlich ist Samar nach Benares gekommen, um nach dem Studium den kaum ersehnten, aber unausweichlichen Antritt einer Stelle im Staatsdienst in irgendeiner langweiligen Provinzstadt noch ein wenig hinauszuzögern. Seine Familie gehört der hohen Kaste der Brahmanen an, ist aber verarmt, und so sind Samars Aussichten nach dem Tod der Mutter und dem Rückzug des Vaters in ein Ashram nicht gerade rosig. Seine einzige Leidenschaft gilt der Literatur, vor allem den Romanen von Gustave Flaubert und anderen westlichen Klassikern, doch aus seinem Plan, sich vor allem der Lektüre zu widmen, wird nichts, denn das -richtige- Leben, das der scheue Student bislang nur aus Büchern kannte, treibt in diesen Wintertagen für ihn die ersten Knospen.
Der Winter, an den sich der junge Samar erinnert, beginnt für ihn mit einer schicksalhaften Begegnung in einem der zahllosen Tempel der heiligen Stadt Benares. Gerade erst aus der Universitätsstadt Allahabad eingetroffen und auf der Suche nach einer Unterkunft, lernt er den alten Musiker Panditji kennen, einen gebrechlichen, liebenswürdigen Mann, der mit einem Strauß verwelkter Ringelblumen zum Gebet gekommen ist. Panditji bietet ihm ein winziges Zimmer in seinem Haus direkt an den Ufern des Ganges an. Seinen Vermieter wird Samar nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekommen, weil der alte Mann seine Tage im Opiumnebel unter einer dicken Schicht Wolldecken zu verbringen pflegt und nur abends aus seiner Höhle kommt, um ausländischen Studenten Sitarunterricht zu geben, aber dafür ist da Samars Zimmernachbarin, die Engländerin Miss West, mit der er die Aussicht auf den Fluss, die verschwommenen Kuppeln und Minarette, die halb verfallenen Paläste und die säulengeschmückten Pavillons teilt und die den jungen Mann bald unter ihre Fittiche nimmt. Eigentlich ist Samar nach Benares gekommen, um nach dem Studium den kaum ersehnten, aber unausweichlichen Antritt einer Stelle im Staatsdienst in irgendeiner langweiligen Provinzstadt noch ein wenig hinauszuzögern. Seine Familie gehört der hohen Kaste der Brahmanen an, ist aber verarmt, und so sind Samars Aussichten nach dem Tod der Mutter und dem Rückzug des Vaters in ein Ashram nicht gerade rosig. Seine einzige Leidenschaft gilt der Literatur, vor allem den Romanen von Gustave Flaubert und anderen westlichen Klassikern, doch aus seinem Plan, sich vor allem der Lektüre zu widmen, wird nichts, denn das -richtige- Leben, das der scheue Student bislang nur aus Büchern kannte, treibt in diesen Wintertagen für ihn die ersten Knospen.
Klappentext zu „Benares oder Eine Erziehung des Herzens “
"Die Vergangenheit lebt weiter, in den Menschen ebenso wie in den Städten. Ich brauche nur auf diesen Winter zurückzuschauen, um zu erkennen, wie schwer es ist loszulassen." Der Winter, an den sich der junge Samar erinnert, beginnt für ihn mit einer schicksalhaften Begegnung in einem der zahllosen Tempel der heiligen Stadt Benares. Gerade erst aus der Universitätsstadt Allahabad eingetroffen und auf der Suche nach einer Unterkunft, lernt er den alten Musiker Panditji kennen, einen gebrechlichen, liebenswürdigen Mann, der mit einem Strauß verwelkter Ringelblumen zum Gebet gekommen ist. Panditji bietet ihm ein winziges Zimmer in seinem Haus direkt an den Ufern des Ganges an. Seinen Vermieter wird Samar nicht mehr allzu oft zu Gesicht bekommen, weil der alte Mann seine Tage im Opiumnebel unter einer dicken Schicht Wolldecken zu verbringen pflegt und nur abends aus seiner Höhle kommt, um ausländischen Studenten Sitarunterricht zu geben, aber dafür ist da Samars Zimmernachbarin, di e Engländerin Miss West, mit der er die Aussicht auf den Fluss, die verschwommenen Kuppeln und Minarette, die halb verfallenen Paläste und die säulengeschmückten Pavillons teilt und die den jungen Mann bald unter ihre Fittiche nimmt. Eigentlich ist Samar nach Benares gekommen, um nach dem Studium den kaum ersehnten, aber unausweichlichen Antritt einer Stelle im Staatsdienst in irgendeiner langweiligen Provinzstadt noch ein wenig hinauszuzögern. Seine Familie gehört der hohen Kaste der Brahmanen an, ist aber verarmt, und so sind Samars Aussichten nach dem Tod der Mutter und dem Rückzug des Vaters in ein Ashram nicht gerade rosig. Seine einzige Leidenschaft gilt der Literatur, vor allem den Romanen von Gustave Flaubert und anderen westlichen Klassikern, doch aus seinem Plan, sich vor allem der Lektüre zu widmen, wird nichts, denn das "richtige" Leben, das der scheue Student bislang nur aus Büchern kannte, treibt in diesen Wintertagen für ihn die ersten Knospen.Bei einer Party, die Mis s West
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aus Freude über ein paar Tage klaren Wetters in der ansonsten dunstverhangenen Stadt gibt, lernt Samar ihre jungen Freunde kennen: Anand, einen talentierten Sitarspieler; den Amerikaner Mark, der die Kunst des Ayurveda studiert; seine stupsnasige Freundin Debbie, eine Möchtegern-Buddhistin mit Heimweh; und die schöne Französin Catherine, Anands Freundin - eine schillernde Truppe auf der Suche nach Erleuchtung, bei deren lebhaften Disputen Samar zu Beginn nur stumm dabeisitzen und zuhören kann, aber mehr und mehr zu einem geschätzten Gegenüber wird...
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Lese-Probe zu „Benares oder Eine Erziehung des Herzens “
Als ich im strengen Winter 1989 nach Benares kam, wohnte ich in einem heruntergekommenen alten Haus am Fluss. Solche Häuser findet man heutzutage kaum noch. Heute säumen billige guest houses für japanische Touristen und deutsche Konditoreien das Flussufer; am Bahnhof und am Flughafen warten die Schlepper, um den Neuankömmling zu den modernen Glas-Beton-Kästen in den jüngeren Vierteln der Stadt zu führen. Der neue, wohlhabende indische Mittelstand ist endlich nach Benares vorgedrungen. Aus dem heiligsten aller Wallfahrtsorte, zu dem die Hindus seit Jahrtausenden pilgern, um aus dem Kreislauf der Wiedergeburten befreit zu werden, ist eine laute, geschäftige Kleinstadt geworden.Das ist der Lauf der Welt; wohl kaum jemand wird über solche Veränderungen wirklich traurig sein. Nach hinduistischer Auffassung ist Benares, das während der Jahrhunderte muslimischer und britischer Herrschaft so oft in Trümmer gelegt und wieder aufgebaut wurde, der Wohnort von Shiva, dem Gott immer währender Schöpfung und Zerstörung. Die Welt erneuert sich ständig; und unter diesem Aspekt betrachtet erscheinen Bedauern und Nostalgie gleichermaßen müßig.
Aber die Vergangenheit lebt weiter, in den Menschen ebenso wie in den Städten. Ich brauche nur auf diesen Winter in Benares zurückzuschauen, um zu erkennen, wie schwer es ist, loszulassen.
Es war reiner Zufall, dass ich den pujari in dem Tempel am Fluss genau in dem Moment nach einer billigen Unterkunft fragte, in dem Panditji hereinkam, mit einem Strauß zerdrückter, welker Ringelblumen als Opfergabe in der Hand. Panditji, ein winziger, gebrechlicher, liebenswürdiger alter Musiker, hörte unser Gespräch mit. Er sah in mir einen in Not geratenen Mit-Brahmanen und sagte, er könne mir helfen. Mit seinen viel zu großen Gummisandalen, die geräuschvoll auf das Kopfsteinpflaster schlugen, begleitete er mich dann vorbei an großäugigen Kühen und zahllosen kleinen Schreinen, die dem Affengott Hanuman geweiht waren, durch enge, gewundene Gassen zu
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diesem Haus. Über zwei genau gleiche Galerien, die im Erdgeschoss und im ersten Stock rund um den Innenhof liefen und in mehrere düstere, kahle Räume führten, stiegen wir eine steile Treppe zu einem winzigen möblierten Zimmer auf dem Dach hinauf. Mit weißen, runzeligen Händen fummelte Panditji an dem gewaltigen Vorhängeschloss und dem noch gewaltigeren Riegel herum, und schließlich öffnete sich die Tür. Ich sah Sonnenlicht, das durch ein kleines, vergittertes Fenster mit Aussicht auf den Innenhof eines Tempels hereinströmte, weiß getünchte Wände, ein Feldbett aus blanken Holzbrettern, einen Schreibtisch und einen Korbstuhl mit steiler Lehne, Staubflusen auf dem rauen Steinboden. Das Zimmer, sagte Panditji, könne ich für nur hundertfünfzig Rupien im Monat haben: "Indische Miete", meinte er, Mahlzeiten ausgenommen.
Merkwürdigerweise sprach ich danach fast nie mehr mit Panditji. Er verbrachte den Tag im Opiumnebel unter einer Schicht grober Wolldecken. Abends wurde er immerhin wach genug, um Studenten aus Amerika und Europa Sitar-Unterricht zu erteilen - mit ihren langen Haaren, ihren Batikhemden, ihren hohlwangigen stoppelbärtigen Gesichtern und den tief liegenden Augen sahen sie alle gleich aus. Hin und wieder beobachtete ich ihn, wie er, angetan mit dhoti und weißer Gandhi-Mütze, vom Süßwarenladen an der Ecke einen Eimer Milch zum Haus trug: Die Haut seiner entblößten, knochigen Beine war schlaff und verschrumpelt, und der heilige Faden baumelte unter der Wollweste hervor. Wir nickten einander zu, wechselten jedoch nie mehr als ein paar Worte. Als Mieter hatte ich von nun an ausschließlich mit seiner arthritischen Frau Mrs. Pandey zu tun, die mit Shyam, dem Faktotum der Familie, in einem der kahlen dunklen Räume im ersten Stock wohnte; sie hatte schon vor langer Zeit jeglichen Kontakt mit ihrem Mann abgebrochen und behauptete, sie sei seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr unten gewesen. Die zwei kleinen möblierten Zimmer auf dem Dach waren beide vermietet, und ich teilte mir die Aussicht auf den Fluss, die weite sandige Fläche dahinter und die brütende Stadt im Norden, die verschwommenen Kuppeln und Minarette, die halb verfallenen Paläste und die säulengeschmückten Pavillons mit Miss West.
Miss West (wie sie von den Ladenbesitzern der Umgebung genannt wurde - erst Wochen später erfuhr ich, dass sie mit Vornamen Diana hieß) war Engländerin, mittleren Alters und, soweit ich beurteilen kann, wohlhabend - vermutlich zahlte sie die "ausländische" Miete für ihr Zimmer. Die Erkenntnis, dass Miss West mit ihrer reinen, hohen Stirn, den haselnussbraunen Augen, dem schlanken Hals und den glatten blonden, inzwischen grau melierten Haaren einst sehr schön gewesen war, kam mir erst später, als ich mit den Physiognomien weißer Europäer besser vertraut war. Ihre Anwesenheit in Benares, in einem winzigen Zimmer auf dem Dach, wo sie anscheinend den ganzen Tag nichts anderes tat als zu lesen und klassische abendländische Musik zu hören, war mir ein Rätsel. Ich dachte, es habe vielleicht mit irgendeinem großen Kummer in ihrer Vergangenheit zu tun, was angesichts der Tatsache, dass ich sie überhaupt nicht kannte, ein vermessenes Urteil war. Doch gewiss war dieser Eindruck - bestätigt, wie mir schien, durch die abgeklärte Melancholie, die sie verbreitete, wenn sie auf dem Dach saß, einen Pashmina-Schal um die Schultern, und stundenlang auf den Fluss starrte - auch bedingt durch die Stimmung, in der ich jene ersten paar außergewöhnlich kalten Tage in Benares erlebte. Dichte Nebelschwaden stiegen vom Fluss auf und hüllten die Stadt in Grau, die sonst hektischen Badeghats waren menschenleer, und von einem unsichtbaren Transistorradio irgendwo in der Nachbarschaft drangen traurig-süße Lieder aus alten Filmen schwach und undeutlich zu mir herüber, während ich unter mehreren Decken in meinem feuchtkalten Zimmer lag und versuchte, Die Welt als Wille und Vorstellung zu lesen.
Es war ein mächtiges Werk, eines von der Art, die erst reizvoll werden, wenn man die Muße hat, sie zu lesen. So viele lange Stunden der Weisheit und des Wissens kann man damit verbringen! Genau aus diesem Grund hatte es mich nach drei Jahren in der nahe gelegenen Provinzstadt Allahabad, wo ich an der heruntergekommenen alten Universität studiert hatte, nach Benares verschlagen. In Benares wollte ich lesen und abgesehen davon so wenig wie möglich tun. Die Stadt, ihr ehrwürdiges Alter, ihre speziellen Vergnügungen lockten mich wenig.
Das Wetter beschwor eine melancholische Stimmung in mir herauf. Es ließ mich an einen früheren Aufenthalt in Benares denken; siebzehn war ich gewesen und mit meinem Vater hergekommen, der mich hastig aus Allahabad herbeigerufen hatte, damit ich gemeinsam mit ihm den Bestattungsritus für meine Mutter vollzog. So kam es, dass mein erster Eindruck von Benares übertönt gewesen war von einem dumpfen Gefühl von Trauer und Verlust. Der dichte Nebel über dem Fluss, auf den wir in frühmorgendlicher Kälte hinausruderten, um die Asche meiner Mutter auszustreuen; der Priester mit dem geschorenen Kopf, der mit dröhnender Stimme Sanskrit-Mantras rezitierte und über den Rosenblättern, die auf dem aschegetrübten Wasser schaukelten, Räucherstäbchen schwenkte; das Geläute der Glocken und Tönen der Conchmuscheln in den Tempeln, das sich einstimmig über die große Masse der Stadt erhob - das waren meine bizarren, beinahe traumhaften Erinnerungen an jenen ersten Besuch, die mir in meiner Anfangszeit in Benares immer wieder in den Sinn kamen.
Ich las also Die Welt als Wille und Vorstellung, langsam, ohne viel zu begreifen. Trotzdem gab ich nicht auf. In den achteckigen kleinen Nischen der weiß getünchten Wände meines Zimmers, wo bei meiner Ankunft zinnobergesprenkelte Statuen von Krishna und Vishnu gestanden hatten, warteten weitere gewaltige Werke auf mich; und oft hob ich mitten in der Lektüre den Blick, ließ ihn über ihre dicken, vielfarbigen Rücken wandern und ärgerte mich über mein langsames Vorankommen und den großen Abstand, der mich von den anderen Büchern trennte.
Dann hoben sich die Nebelschwaden, und es folgte eine Reihe wolkenloser Tage. Der Fluss glitzerte und funkelte in der Nachmittagssonne, bunte Drachen schwebten durch den klaren blauen Himmel. An den Badeghats erschienen Kinder und zeichneten mit Kreide ihre Himmel-und-Hölle-Kästchen auf die unebenen Pflastersteine. Dürre Drogenhändler lungerten in den Vorhallen der Tempel herum, wo sich Schachspieler über ramponierte Bretter beugten. Den ganzen Tag hindurch zogen Pilger sich an und aus, wie ein gemächlich sich drehendes Kaleidoskop aus indischen Farben: die Südinder in ihren purpurfarbenen Kanjeevaram-Seidensaris, die Besucher aus Rajasthan mit den gelben und karmesinroten Stoffbahnen ihrer aufgerollten Turbane, die bengalischen Witwen in schlichter weißer Baumwolle. Abends leuchteten die Scheiterhaufen im fernen Norden der Stadt wie Glühwürmchen in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Ich legte Schopenhauer beiseite und wandte mich Turgenjews Frühlingswogen zu. Miss West, die das erste der geblümten Sommerkleider anzog, in denen ich sie mit der Zeit erleben sollte, sagte zu mir: "Was für ein großartiges Wetter! Das müssen wir feiern, wir müssen eine Party geben."
Diese plötzliche Vertraulichkeit verwirrte mich. War ich in diesem "wir" eingeschlossen? Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich höchstens ein paar Worte mit ihr gewechselt. Einer der ersten Sätze, die sie an mich gerichtet hatte, lautete: "Wo haben Sie denn ein so bezauberndes Englisch gelernt?" Eine Bemerkung, von der ich nicht wusste, was ich mit ihr anfangen sollte: War sie herablassend oder als Kompliment gemeint? Und dann, eines sonnigen Morgens auf dem Dach, als sie auf ihrem durchhängenden charpoy lag, die Beine teils entblößt, auf eine Weise, die mir unanständig erschien, die weiße Haut betont von den ovalen Gläsern ihrer Sonnenbrille, während eine geheimnisvolle, betörende Musik aus ihrem Zimmer drang - Beethovens Erzherzog-Trio, wie ich später erfuhr -, hatte sie mich nach meinen Studienjahren in Allahabad gefragt. "Wissen Sie, dass Rudyard Kipling für eine Zeitung geschrieben hat, die in Allahabad erscheint - wie sprechen Sie das aus?", sagte sie. "Aber erzählen Sie doch: Hat es Ihnen dort gefallen? Und warum haben Sie sich ausgerechnet Allahabad ausgesucht?" Sie sprach mit einer scharfen Nachdrücklichkeit, in kurzen, raschen Sätzen: Ein Tonfall, der vom Gesprächspartner eine ähnliche Präzision und Knappheit zu verlangen schien.
Doch es gab nicht viel, was ich ihr erzählen konnte. So etwas lässt sich nicht erklären. Als mein Vater mir nach dem Tod meiner Mutter eröffnet hatte, er werde in einen ashram in Pondicherry ziehen, hatte er auch nichts erklären müssen. Sein Entschluss folgte einem alten Übergangsritus: dem mit Beginn des Alters erfolgenden Rückzug aus der aktiven Welt ins eigene Ich. Bei uns begriff man instinktiv diese althergebrachten Verpflichtungen, hinterfragte sie selten und verlangte nie eine Erklärung. Auch als es für mich nach einer mittelmäßigen Schulbildung in einer Reihe nichts sagender Kleinstadtschulen in allen möglichen Gegenden Indiens Zeit für die Universität war, war das so gewesen: Drei Generationen aus der Familie meiner Mutter hatten an der Universität von Allahabad, einer Schwesterstadt von Benares, studiert; und deshalb ging auch ich nach Allahabad.
Auf den ersten Blick war es keine schlechte Wahl gewesen. Gegründet 1887, hatte die Universität einst als "Oxford des Morgenlandes" gegolten. Wer sein Fortkommen im Kolonialsystem suchte, war damals mit einem Abschluss in Allahabad gut bedient. Doch unbemerkt von jenen, die noch immer auf ihren alten Ruhm setzten, hatte die Universität seit dem Beginn der Unabhängigkeit einen steilen Niedergang erlitten. Hinter der noch immer beeindruckenden Fassade, überragt von neuviktorianischen Kuppeln und Türmen, herrschte Anarchie. Die Semesterordnung war außer Kraft gesetzt: Prüfungen, die im April stattfinden sollten, wurden eher im Dezember abgehalten - wenn überhaupt. Alle lagen sich in den Haaren, jeder kämpfte gegen jeden: Studenten gegen Studenten, Dozenten gegen Dozenten, Dozenten gegen Studenten, Studenten gegen die Verwaltung, Dozenten gegen die Verwaltung, Studenten gegen die Polizei. Häufig waren die Konflikte in gewalttätige Auseinandersetzungen ausgeartet. Auf der Straße schossen Studenten sich gegenseitig mit selbst gebastelten Revolvern nieder. Spätnachts wurde man aus dem Schlaf gerissen, weil irgendwo in der Nähe eine Bombe explodierte. Die Einzelheiten erfuhr man am anderen Morgen aus der Kriminalchronik der Lokalzeitungen: politische Rivalität, Überfall aus dem Hinterhalt, Tod noch am Ort des Verbrechens, Einleitung der Ermittlungen, bislang keine Verhaftungen.
Miss West war schon über das wenige, was ich ihr erzählte, entsetzt: "Wie außerordentlich!", rief sie aus. "Wie absolut schrecklich! Sie müssen aber sehr tapfer gewesen sein, dass Sie das alles überstanden haben!" Dann fügte sie in gemäßigterem Tonfall hinzu: "Wissen Sie, ich war nie auf einer Universität. Mein Vater stammte aus einer Generation, in der auf die Bildung der Töchter keinen Wert gelegt wurde."
Das kam mir merkwürdig vor. Vorurteile gegenüber weiblicher Bildung waren ein Kennzeichen armer Gesellschaften; mit England hätte ich sie nie in Verbindung gebracht. Vielleicht war es eher so gewesen, dass ihr Vater sich ein Universitätsstudium der Tochter nicht leisten konnte? Ich war mir nicht sicher, doch ich fand, es stand mir nicht zu, Fragen dieser Art zu stellen. Und dann sprach sie von der Party, was mich noch mehr verwirrte.
Ich war neunzehn, aber eine "Party" hatte ich nie erlebt. Das Wort selbst ließ mich an lärmende, halb nackte Nachtschwärmer denken; es beschwor jene Art eitler Frivolität und fragwürdiger Moral herauf, die zu missbilligen man mir beigebracht hatte. Mein Bild von Miss West veränderte sich; jetzt sah ich sie als Partyveranstalterin.
Zugleich aber wurde ich in ihre Vorbereitungen einbezogen; ich besorgte die Willkommensgirlanden für die Musiker, die nach dem Essen auftreten sollten, wie Miss West sagte; ich ging zum Basar und begutachtete die verschiedenen Sorten bengalischer Süßigkeiten, die dort angeboten wurden; und ich überwand sogar meinen angeborenen Widerwillen gegen Rausch- und Aufputschmittel aller Art und beschaffte das mit Cannabis versetzte thandai, das in Benares bei solchen Gelegenheiten unverzichtbar war.
Miss West grübelte über ihrer Gästeliste. Nach fünf Jahren in der Stadt kannte sie eine Menge Leute, lud aber schließlich nur eine Hand voll ein. "Ich kann sie unmöglich alle hier unterbringen. Hier ist es ja wirklich entsetzlich beengt", sagte sie und klopfte mit dem Bleistift auf die gekritzelten Namen. "Und Mrs. Pandey hätte vielleicht etwas dagegen, wenn so viele Leute in ihrem Haus aus- und eingehen."In der Tat betrachteten Mrs. Pandey und ihr Faktotum Shyam unsere Vorbereitungen mit scheelem Blick. Vor einem Messingteller voll fein gehackter Tomaten, Ingwer und Knoblauch hockten sie nebeneinander auf niedrigen Holzschemeln, hoben die Köpfe und gaben gemurmelte Kommentare ab, wenn Leute die Treppen hinauf- und hinunterstiegen und aufgerollte dhurries und Polster brachten. Die allgemeine Richtung dieser Kommentare - von denen ich manche mitbekam - gab zu verstehen, dass Miss Wests Party ein armseliger Abklatsch vergleichbarer Ereignisse in ihrer eigenen Vergangenheit sei. An einem Abend vor der Party, als ich wie jeden zweiten Tag zu ihnen zum Essen ging - um mit gekreuzten Beinen in ihrer dunklen, rußigen, fensterlosen Küche auf dem Boden zu sitzen und unbehaglich den Rauch des chulha-Feuers einzuatmen, über dem Shyam mit einer Eisenzange chapatis drehte, die sich langsam blähten -, sprach Mrs. Pandey spitzzüngig von der Pracht der musikalischen Soirées, die der Maharaja von Benares einst zu veranstalten pflegte. Ihr Vater, ein berühmter Sitar-Spieler, sagte sie, sei ein gefeierter Gast bei solchen Versammlungen gewesen. "Und was war mit Panditji?", erkundigte ich mich nach ihrem Ehemann, der unten lebte. Sie musterte mich verächtlich. Was soll mit ihm gewesen sein, schien sie zu sagen, und ich merkte bald, dass dies ein leidiges Thema für sie war: wie ihre Ehe mit einem Hunger leidenden Musiker die illustren Verbindungen ihrer Familie unwiederbringlich untergraben hatte, ihre Hochzeit mit diesem Panditji, der als Student, als er zum ersten Mal das herrschaftliche Haus ihres Vaters betrat, nichts weiter besessen habe, behauptete Mrs. Pandey, als die Kleider an seinem unterernährten Körper.
Merkwürdigerweise sprach ich danach fast nie mehr mit Panditji. Er verbrachte den Tag im Opiumnebel unter einer Schicht grober Wolldecken. Abends wurde er immerhin wach genug, um Studenten aus Amerika und Europa Sitar-Unterricht zu erteilen - mit ihren langen Haaren, ihren Batikhemden, ihren hohlwangigen stoppelbärtigen Gesichtern und den tief liegenden Augen sahen sie alle gleich aus. Hin und wieder beobachtete ich ihn, wie er, angetan mit dhoti und weißer Gandhi-Mütze, vom Süßwarenladen an der Ecke einen Eimer Milch zum Haus trug: Die Haut seiner entblößten, knochigen Beine war schlaff und verschrumpelt, und der heilige Faden baumelte unter der Wollweste hervor. Wir nickten einander zu, wechselten jedoch nie mehr als ein paar Worte. Als Mieter hatte ich von nun an ausschließlich mit seiner arthritischen Frau Mrs. Pandey zu tun, die mit Shyam, dem Faktotum der Familie, in einem der kahlen dunklen Räume im ersten Stock wohnte; sie hatte schon vor langer Zeit jeglichen Kontakt mit ihrem Mann abgebrochen und behauptete, sie sei seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr unten gewesen. Die zwei kleinen möblierten Zimmer auf dem Dach waren beide vermietet, und ich teilte mir die Aussicht auf den Fluss, die weite sandige Fläche dahinter und die brütende Stadt im Norden, die verschwommenen Kuppeln und Minarette, die halb verfallenen Paläste und die säulengeschmückten Pavillons mit Miss West.
Miss West (wie sie von den Ladenbesitzern der Umgebung genannt wurde - erst Wochen später erfuhr ich, dass sie mit Vornamen Diana hieß) war Engländerin, mittleren Alters und, soweit ich beurteilen kann, wohlhabend - vermutlich zahlte sie die "ausländische" Miete für ihr Zimmer. Die Erkenntnis, dass Miss West mit ihrer reinen, hohen Stirn, den haselnussbraunen Augen, dem schlanken Hals und den glatten blonden, inzwischen grau melierten Haaren einst sehr schön gewesen war, kam mir erst später, als ich mit den Physiognomien weißer Europäer besser vertraut war. Ihre Anwesenheit in Benares, in einem winzigen Zimmer auf dem Dach, wo sie anscheinend den ganzen Tag nichts anderes tat als zu lesen und klassische abendländische Musik zu hören, war mir ein Rätsel. Ich dachte, es habe vielleicht mit irgendeinem großen Kummer in ihrer Vergangenheit zu tun, was angesichts der Tatsache, dass ich sie überhaupt nicht kannte, ein vermessenes Urteil war. Doch gewiss war dieser Eindruck - bestätigt, wie mir schien, durch die abgeklärte Melancholie, die sie verbreitete, wenn sie auf dem Dach saß, einen Pashmina-Schal um die Schultern, und stundenlang auf den Fluss starrte - auch bedingt durch die Stimmung, in der ich jene ersten paar außergewöhnlich kalten Tage in Benares erlebte. Dichte Nebelschwaden stiegen vom Fluss auf und hüllten die Stadt in Grau, die sonst hektischen Badeghats waren menschenleer, und von einem unsichtbaren Transistorradio irgendwo in der Nachbarschaft drangen traurig-süße Lieder aus alten Filmen schwach und undeutlich zu mir herüber, während ich unter mehreren Decken in meinem feuchtkalten Zimmer lag und versuchte, Die Welt als Wille und Vorstellung zu lesen.
Es war ein mächtiges Werk, eines von der Art, die erst reizvoll werden, wenn man die Muße hat, sie zu lesen. So viele lange Stunden der Weisheit und des Wissens kann man damit verbringen! Genau aus diesem Grund hatte es mich nach drei Jahren in der nahe gelegenen Provinzstadt Allahabad, wo ich an der heruntergekommenen alten Universität studiert hatte, nach Benares verschlagen. In Benares wollte ich lesen und abgesehen davon so wenig wie möglich tun. Die Stadt, ihr ehrwürdiges Alter, ihre speziellen Vergnügungen lockten mich wenig.
Das Wetter beschwor eine melancholische Stimmung in mir herauf. Es ließ mich an einen früheren Aufenthalt in Benares denken; siebzehn war ich gewesen und mit meinem Vater hergekommen, der mich hastig aus Allahabad herbeigerufen hatte, damit ich gemeinsam mit ihm den Bestattungsritus für meine Mutter vollzog. So kam es, dass mein erster Eindruck von Benares übertönt gewesen war von einem dumpfen Gefühl von Trauer und Verlust. Der dichte Nebel über dem Fluss, auf den wir in frühmorgendlicher Kälte hinausruderten, um die Asche meiner Mutter auszustreuen; der Priester mit dem geschorenen Kopf, der mit dröhnender Stimme Sanskrit-Mantras rezitierte und über den Rosenblättern, die auf dem aschegetrübten Wasser schaukelten, Räucherstäbchen schwenkte; das Geläute der Glocken und Tönen der Conchmuscheln in den Tempeln, das sich einstimmig über die große Masse der Stadt erhob - das waren meine bizarren, beinahe traumhaften Erinnerungen an jenen ersten Besuch, die mir in meiner Anfangszeit in Benares immer wieder in den Sinn kamen.
Ich las also Die Welt als Wille und Vorstellung, langsam, ohne viel zu begreifen. Trotzdem gab ich nicht auf. In den achteckigen kleinen Nischen der weiß getünchten Wände meines Zimmers, wo bei meiner Ankunft zinnobergesprenkelte Statuen von Krishna und Vishnu gestanden hatten, warteten weitere gewaltige Werke auf mich; und oft hob ich mitten in der Lektüre den Blick, ließ ihn über ihre dicken, vielfarbigen Rücken wandern und ärgerte mich über mein langsames Vorankommen und den großen Abstand, der mich von den anderen Büchern trennte.
Dann hoben sich die Nebelschwaden, und es folgte eine Reihe wolkenloser Tage. Der Fluss glitzerte und funkelte in der Nachmittagssonne, bunte Drachen schwebten durch den klaren blauen Himmel. An den Badeghats erschienen Kinder und zeichneten mit Kreide ihre Himmel-und-Hölle-Kästchen auf die unebenen Pflastersteine. Dürre Drogenhändler lungerten in den Vorhallen der Tempel herum, wo sich Schachspieler über ramponierte Bretter beugten. Den ganzen Tag hindurch zogen Pilger sich an und aus, wie ein gemächlich sich drehendes Kaleidoskop aus indischen Farben: die Südinder in ihren purpurfarbenen Kanjeevaram-Seidensaris, die Besucher aus Rajasthan mit den gelben und karmesinroten Stoffbahnen ihrer aufgerollten Turbane, die bengalischen Witwen in schlichter weißer Baumwolle. Abends leuchteten die Scheiterhaufen im fernen Norden der Stadt wie Glühwürmchen in der hereinbrechenden Dunkelheit.
Ich legte Schopenhauer beiseite und wandte mich Turgenjews Frühlingswogen zu. Miss West, die das erste der geblümten Sommerkleider anzog, in denen ich sie mit der Zeit erleben sollte, sagte zu mir: "Was für ein großartiges Wetter! Das müssen wir feiern, wir müssen eine Party geben."
Diese plötzliche Vertraulichkeit verwirrte mich. War ich in diesem "wir" eingeschlossen? Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich höchstens ein paar Worte mit ihr gewechselt. Einer der ersten Sätze, die sie an mich gerichtet hatte, lautete: "Wo haben Sie denn ein so bezauberndes Englisch gelernt?" Eine Bemerkung, von der ich nicht wusste, was ich mit ihr anfangen sollte: War sie herablassend oder als Kompliment gemeint? Und dann, eines sonnigen Morgens auf dem Dach, als sie auf ihrem durchhängenden charpoy lag, die Beine teils entblößt, auf eine Weise, die mir unanständig erschien, die weiße Haut betont von den ovalen Gläsern ihrer Sonnenbrille, während eine geheimnisvolle, betörende Musik aus ihrem Zimmer drang - Beethovens Erzherzog-Trio, wie ich später erfuhr -, hatte sie mich nach meinen Studienjahren in Allahabad gefragt. "Wissen Sie, dass Rudyard Kipling für eine Zeitung geschrieben hat, die in Allahabad erscheint - wie sprechen Sie das aus?", sagte sie. "Aber erzählen Sie doch: Hat es Ihnen dort gefallen? Und warum haben Sie sich ausgerechnet Allahabad ausgesucht?" Sie sprach mit einer scharfen Nachdrücklichkeit, in kurzen, raschen Sätzen: Ein Tonfall, der vom Gesprächspartner eine ähnliche Präzision und Knappheit zu verlangen schien.
Doch es gab nicht viel, was ich ihr erzählen konnte. So etwas lässt sich nicht erklären. Als mein Vater mir nach dem Tod meiner Mutter eröffnet hatte, er werde in einen ashram in Pondicherry ziehen, hatte er auch nichts erklären müssen. Sein Entschluss folgte einem alten Übergangsritus: dem mit Beginn des Alters erfolgenden Rückzug aus der aktiven Welt ins eigene Ich. Bei uns begriff man instinktiv diese althergebrachten Verpflichtungen, hinterfragte sie selten und verlangte nie eine Erklärung. Auch als es für mich nach einer mittelmäßigen Schulbildung in einer Reihe nichts sagender Kleinstadtschulen in allen möglichen Gegenden Indiens Zeit für die Universität war, war das so gewesen: Drei Generationen aus der Familie meiner Mutter hatten an der Universität von Allahabad, einer Schwesterstadt von Benares, studiert; und deshalb ging auch ich nach Allahabad.
Auf den ersten Blick war es keine schlechte Wahl gewesen. Gegründet 1887, hatte die Universität einst als "Oxford des Morgenlandes" gegolten. Wer sein Fortkommen im Kolonialsystem suchte, war damals mit einem Abschluss in Allahabad gut bedient. Doch unbemerkt von jenen, die noch immer auf ihren alten Ruhm setzten, hatte die Universität seit dem Beginn der Unabhängigkeit einen steilen Niedergang erlitten. Hinter der noch immer beeindruckenden Fassade, überragt von neuviktorianischen Kuppeln und Türmen, herrschte Anarchie. Die Semesterordnung war außer Kraft gesetzt: Prüfungen, die im April stattfinden sollten, wurden eher im Dezember abgehalten - wenn überhaupt. Alle lagen sich in den Haaren, jeder kämpfte gegen jeden: Studenten gegen Studenten, Dozenten gegen Dozenten, Dozenten gegen Studenten, Studenten gegen die Verwaltung, Dozenten gegen die Verwaltung, Studenten gegen die Polizei. Häufig waren die Konflikte in gewalttätige Auseinandersetzungen ausgeartet. Auf der Straße schossen Studenten sich gegenseitig mit selbst gebastelten Revolvern nieder. Spätnachts wurde man aus dem Schlaf gerissen, weil irgendwo in der Nähe eine Bombe explodierte. Die Einzelheiten erfuhr man am anderen Morgen aus der Kriminalchronik der Lokalzeitungen: politische Rivalität, Überfall aus dem Hinterhalt, Tod noch am Ort des Verbrechens, Einleitung der Ermittlungen, bislang keine Verhaftungen.
Miss West war schon über das wenige, was ich ihr erzählte, entsetzt: "Wie außerordentlich!", rief sie aus. "Wie absolut schrecklich! Sie müssen aber sehr tapfer gewesen sein, dass Sie das alles überstanden haben!" Dann fügte sie in gemäßigterem Tonfall hinzu: "Wissen Sie, ich war nie auf einer Universität. Mein Vater stammte aus einer Generation, in der auf die Bildung der Töchter keinen Wert gelegt wurde."
Das kam mir merkwürdig vor. Vorurteile gegenüber weiblicher Bildung waren ein Kennzeichen armer Gesellschaften; mit England hätte ich sie nie in Verbindung gebracht. Vielleicht war es eher so gewesen, dass ihr Vater sich ein Universitätsstudium der Tochter nicht leisten konnte? Ich war mir nicht sicher, doch ich fand, es stand mir nicht zu, Fragen dieser Art zu stellen. Und dann sprach sie von der Party, was mich noch mehr verwirrte.
Ich war neunzehn, aber eine "Party" hatte ich nie erlebt. Das Wort selbst ließ mich an lärmende, halb nackte Nachtschwärmer denken; es beschwor jene Art eitler Frivolität und fragwürdiger Moral herauf, die zu missbilligen man mir beigebracht hatte. Mein Bild von Miss West veränderte sich; jetzt sah ich sie als Partyveranstalterin.
Zugleich aber wurde ich in ihre Vorbereitungen einbezogen; ich besorgte die Willkommensgirlanden für die Musiker, die nach dem Essen auftreten sollten, wie Miss West sagte; ich ging zum Basar und begutachtete die verschiedenen Sorten bengalischer Süßigkeiten, die dort angeboten wurden; und ich überwand sogar meinen angeborenen Widerwillen gegen Rausch- und Aufputschmittel aller Art und beschaffte das mit Cannabis versetzte thandai, das in Benares bei solchen Gelegenheiten unverzichtbar war.
Miss West grübelte über ihrer Gästeliste. Nach fünf Jahren in der Stadt kannte sie eine Menge Leute, lud aber schließlich nur eine Hand voll ein. "Ich kann sie unmöglich alle hier unterbringen. Hier ist es ja wirklich entsetzlich beengt", sagte sie und klopfte mit dem Bleistift auf die gekritzelten Namen. "Und Mrs. Pandey hätte vielleicht etwas dagegen, wenn so viele Leute in ihrem Haus aus- und eingehen."In der Tat betrachteten Mrs. Pandey und ihr Faktotum Shyam unsere Vorbereitungen mit scheelem Blick. Vor einem Messingteller voll fein gehackter Tomaten, Ingwer und Knoblauch hockten sie nebeneinander auf niedrigen Holzschemeln, hoben die Köpfe und gaben gemurmelte Kommentare ab, wenn Leute die Treppen hinauf- und hinunterstiegen und aufgerollte dhurries und Polster brachten. Die allgemeine Richtung dieser Kommentare - von denen ich manche mitbekam - gab zu verstehen, dass Miss Wests Party ein armseliger Abklatsch vergleichbarer Ereignisse in ihrer eigenen Vergangenheit sei. An einem Abend vor der Party, als ich wie jeden zweiten Tag zu ihnen zum Essen ging - um mit gekreuzten Beinen in ihrer dunklen, rußigen, fensterlosen Küche auf dem Boden zu sitzen und unbehaglich den Rauch des chulha-Feuers einzuatmen, über dem Shyam mit einer Eisenzange chapatis drehte, die sich langsam blähten -, sprach Mrs. Pandey spitzzüngig von der Pracht der musikalischen Soirées, die der Maharaja von Benares einst zu veranstalten pflegte. Ihr Vater, ein berühmter Sitar-Spieler, sagte sie, sei ein gefeierter Gast bei solchen Versammlungen gewesen. "Und was war mit Panditji?", erkundigte ich mich nach ihrem Ehemann, der unten lebte. Sie musterte mich verächtlich. Was soll mit ihm gewesen sein, schien sie zu sagen, und ich merkte bald, dass dies ein leidiges Thema für sie war: wie ihre Ehe mit einem Hunger leidenden Musiker die illustren Verbindungen ihrer Familie unwiederbringlich untergraben hatte, ihre Hochzeit mit diesem Panditji, der als Student, als er zum ersten Mal das herrschaftliche Haus ihres Vaters betrat, nichts weiter besessen habe, behauptete Mrs. Pandey, als die Kleider an seinem unterernährten Körper.
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Autoren-Porträt von Pankaj Mishra
Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, lebt in London und am Rand des Himalaya. Er schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für den "New York Review of Books" und für den "New Yorker" über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. 2014 wurde Pankaj Mishra mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pankaj Mishra
- 2001, 1, 287 Seiten, Maße: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schaden, Barbara
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896671332
- ISBN-13: 9783896671332
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