Berlin - Saigon
Berlin - Saigon: über 15.000 km mit der Eisenbahn. Die weiteste Reise auf Schienen, die von der Hauptstadt aus möglich ist.
Dirk Sager hat ein Abenteuer erlebt, das ihn durch sieben Länder und zwei Kontinente führte: grandiose Landschaften und...
Berlin - Saigon: über 15.000 km mit der Eisenbahn. Die weiteste Reise auf Schienen, die von der Hauptstadt aus möglich ist.
Dirk Sager hat ein Abenteuer erlebt, das ihn durch sieben Länder und zwei Kontinente führte: grandiose Landschaften und historische Orte, die Faszination Asiens und die Schönheit des Ostens.
Berlin - Saigon von DirkSager
LESEPROBE
Endstation Wolga: Saratow
Zwei Wochen sind vergangen, seitdemwir Berlin verlassen haben. Oft haben wir die Züge gewechselt. In Tambow treffen wir wieder auf den Zug Berlin-Saratow,der am Montag jeder Woche das letzte Stück seines Weges an die Wolga fährt.Frühe Morgenstunden sind für die Abreise nicht sehr beliebt. Aber es sind dieschönsten Stunden des Tages, wenn die rot glühende Wintersonne über denHorizont steigt und einen Pastellschleier über Felder und Bäume legt. Zwei Tageund zwei Nächte ist der Zug seit seiner Abfahrt in Berlin unterwegs. 1993 wurdeer in den Fahrplan aufgenommen, um den Wolgadeutschen eine Reisemöglichkeitanzubieten: denen, die ausreisen in die Bundesrepublik, denen, diezurückfahren, um die alte Heimat wieder zu besuchen, nicht etwa aussentimentaler Sehnsucht, sondern weil viele von ihnen dort Angehörigezurücklassen mussten, denen die Heimkehr nach Deutschland nicht gewährt wurde.
Es ist eine Tragödie, die kein Endenimmt. In fast allen Abteilen sitzen alte Leute. Die meisten blicken stumm aufdie vorbeigleitende Schneelandschaft. In ihreGesichter haben sich tiefe Furchen gegraben. Jeder von ihnen ist gezeichnetvon den Torturen und Entbehrungen eines grausamen Jahrhunderts. Und jeder von ihnenweiß davon zu erzählen. Am eindrücklichsten die Frauen, während die Männerstumm aus dem Fenster schauen. Eine erzählt, dass sie als Kind erlebte, wieGroßvater, Vater und Bruder erschossen wurden. Das war lange vor derDeportation der Wolgadeutschen nach Kasachstan und Sibirien, die Stalin nachdem Überfall Hitlers 1941 anordnete. Ihr Leidensweg hatte schon viel früherbegonnen, als mit der Zwangskollektivierung in den Hungersnöten im Süden dasgroße Sterben begann. Bei Kriegsbeginn folgte die Verfrachtung in Güterwagen indie Steppe, wo sie anfangs in Erdlöchern lebten, weil nicht einmal Barackenbereitgestellt wurden. Wer arbeiten konnte, wurde für die «Armee der Arbeit»rekrutiert: Zwangsarbeit in Straflagern, von denen aus sie zum Holzfällen oderin die Bergwerke geführt wurden. Nach dem Krieg nahmen die Verfolgungen keinEnde. Sie, die ganz unschuldig waren an der Entstehung Hitler-Deutschlands,wurden «Faschisten» genannt und erniedrigt, wo immer sich Gelegenheit ergab.Die deutsche Sprache war ihnen verboten. In ihre alten Dörfer durften sie nichtzurückkehren. «Alles haben wir überstanden», sagt die alte Frau, und stilleTränen rinnen über ihr Gesicht, «alles. Und nun bin ich von meinen Kinderngetrennt. Immer ist Schmerz in meinem Leben gewesen. So wird es bleiben, bis ichmeine Augen schließe.» Kein Vorwurf klingt aus ihren Worten, sondern einetieftraurige Ergebenheit gegenüber dem großen Rad der Geschichte, dashinwegrollte über die Schicksale der kleinen Menschen.
Auf dem Bahnhof in Saratow fallen sie sich in die Arme, die Ankommenden unddie Familienangehörigen, die zur Begrüßung gekommen sind. Russische unddeutsche Wortfetzen vermischen sich in der Freude des Wiedersehens. Nur diealte Frau, die wir im Zug trafen, steht alleine neben einem Berg von Koffern.«Darin sind Sachen für die Enkelkinder. Aber keiner ist gekommen», sagt sie.«Vielleicht haben sie mein Telegramm nicht bekommen.» Es könnte wohl sein,dass sogar das Postwesen noch gegen sie ist.
So wie in einem Küstenort, wo mangleich nach der Ankunft den Schritt zunächst zum Meer lenkt, um die Weite zusehen und die Luft des Meeres aufzunehmen, so begibt man sich in Saratow ans Ufer der Wolga. Der Blick auf die andere Seiteerscheint wie der Blick nach Asien. Denn auf dem anderen Ufer beginnt dieSteppe, die grenzenlose Ebene, die sich bis zu den Bergen des Tianshan erstreckt. Die Wolga, viel besungen als RusslandsSchicksalsstrom, war lange Zeit Grenze zwischen dem Siedlungsraum der Russen undden kämpferischen Nomaden der Steppen. Zwei oder drei Kilometer sind es bis aufdie andere Seite. Und noch vor achtzig Jahren sehnten die Anwohner den Winterherbei, weil sie das andere Ufer über das Eis schnell mit dem Pferdeschlittenerreichen konnten und nicht auf ein Boot angewiesen waren.
Die von Schnee verhüllte Eisdeckegibt dem Strom eine elegante Leichtigkeit und verschleiert die Wucht desbreiten Gewässers. Wie kleine schwarze Punkte heben sich die Fischer ab, diefern des Ufers ihre Löcher ins Eis gebohrt haben, um die Angel auszuwerfen. IhrBild gehört zum russischen Winter wie das in Tambowgekostete Getränk zum Wohlergehen, weshalb die Männer auf dem Eis meist beideAttribute winterlichen Lebens zu verbinden wissen. Über den Eisfischern schwingtsich heute in weitem Bogen eine Brücke ans andere Ufer. Dorthin fahren wir zueinem kleinen Abstecher, um nur zwei von vielen Welten der Wolgadeutschen zubesuchen. Katharina die Große hatte 1762 und 1763 in zwei ManifestenSiedler aus Deutschland eingeladen, weil sie die Grenze zur asiatischen Steppesichern wollte. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten dort 400000 Deutsche in ansehnlichemWohlstand, wie die Städte noch heute ahnen lassen.
Wir haben einen Begleiter gefunden,dem es sehr daran gelegen ist, mit uns in die kleine Stadt Marx zu fahren.Irgendwo in der Reihe seiner Ahnen hat auch er deutsche Vorfahren, weshalb erseine russische Umwelt mit ketzerischen Ideen überhäuft. Alexander Kamajew wohnt in der Stadt Engels, unweit von Saratow am anderen Wolgaufer. Aber seine hochfliegendenPläne zielen auf Marx, das sechzig Kilometer flussaufwärts liegt. Dort lebtenseine Vorfahren. Er fährt eine von diesen großrädrigen,dunklen Limousinen mit getönten Fenstern, die im gegenwärtigen Russland Statussymboldes erfolgreichen Geschäftsmannes sind. Die Berufsbezeichnung ist sehr neutralgewählt. Alexander verdient sein Geld in einem Bereich, den Puristen zum«Milieu» rechnen würden. Sein Stammhaus ist ein bunt illuminiertes Casino.Daneben betreibt er ein paar Restaurants. Während der Autofahrt wird er etwaskonkreter mit seiner Familiengeschichte. Seine deutschen Vorfahren seien allebei Kriegsbeginn deportiert worden, nur seine Großmutter nicht. Ihr Mann warbeim Geheimdienst NKWD angestellt. Das bewahrte sie vor dem Schicksal ihrersieben Geschwister. «Meine Tante Frieda», sagt er, «ist sogar bis nach Dikson verschleppt worden. So war das Leben.» Dikson ist ein kleine Siedlung ander Karasee, weit nördlich des Polarkreises. Alexanderspricht Russisch, weil in seinem Familienzweig nie Deutsch gesprochen wurde.Aber die Sache der Wolgadeutschen hat ihn gefangen genommen, die Suche nacheiner Vergangenheit, die ausgelöscht wurde. Er erzählt, dass er schon einmalPrag besucht habe. «Wissen Sie, was mich beeindruckt hat?», fragt er. «Esstehen dort 124 katholische Kirchen. Man hat sie nicht abgerissen, obwohl auchdort der Sozialismus herrschte. Sie haben ihre Geschichte bewahrt.» Und dannfügt er hinzu: «Es tut mir leid um dieses Land. Es tut mir leid, wie man mitunseren Wurzeln umgegangen ist, und was hier überhaupt geschah.»
In Marx steuert Alexander insZentrum der kleinen Stadt. Zweigeschossige Kaufmannshäuser stehen auf beidenSeiten der Straße. Die meisten von ihnen sind frisch gestrichen. Auch diegroße, alle Häuser überragende Kirche, ein mächtiger klassizistischer Bau, den dieatheistischen Lokalmatadoren um seinen Turm gebracht haben, ist weiß getüncht.Es ist, als führe man durch eine deutsche Kleinstadt in einer Zeit, in der esNeonreklame und großflächige Reklameschilder noch nicht gab. Vor einemumzäunten kleinen Platz hält er an und führt uns zu einem leerenDenkmalssockel. Dort erzählt er von seinem Plan. Er will das Denkmal fürKatharina die Große wieder errichten, das die deutschen Siedler aus Dankbarkeitgebaut hatten und das nach dem Überfall Hitlers von der Regierung eingeschmolzenwurde. Es muss ein eindrucksvolles Monument gewesen sein, für das die Bürgerder Stadt gesammelt hatten: eine viereinhalb Meter hohe Bronzestatue, von einemPetersburger Künstler gestaltet. Auch heute sind die Behörden seinem Projektnicht gewogen. Aber Alexander sagt: «Wir werden es trotzdem schaffen.»
Man darf seine Worte nichtunterschätzen. Sie sind nicht leicht dahergesagt. Er hat in der Stadt, diewieder St. Petersburg heißt, Nachforschungen angestellt, und sogar ein altesModell des Denkmals aus der Werkstatt des Bildhauers aufgestöbert. Alexanderführt uns dicht an den leeren Sockel heran. Dort hat irgendjemand in den letztenJahren eine Plakette angebracht, auf der von der Geschichte des Denkmalsberichtet wird. Dort steht auch der Satz, dass die dankbaren Nachfahren dafürsorgen werden, dass irgendwann Katharina wieder auf die Stadt schauen soll.Alexander erzählt, wie er das erste Mal diese Plakette gesehen hat. «Ich fühltemich direkt betroffen. Fühlen Sie sich nicht auch angesprochen? Sehen Sie! Soging es mir auch.» In Alexanders Adern fließt offensichtlich auch ein großer Anteilrussischen Blutes, weshalb die Grenze zwischen Plan und Vision fließend ist. Ersagt ganz konkret: «Dieser Zaun hier muss natürlich weg. Und der Bierkioskverschwindet auch.» Aber er will viel mehr.
Die Stadt soll auch wieder ihrenalten Namen bekommen, den ihr die Kommunisten genommen haben. Sie soll wieder Jekaterinenstadt heißen. Gäste sollen hierher kommen ausDeutschland und anderen Ländern und sich am Anblick einer gepflegten alten deutschenStadt in Russland erfreuen können. So viel Vision ist den heutigen Bewohnernschon unheimlich. Zwar sind die Zeiten vorüber, in denen die deutschen Wurzelnder Region geleugnet wurden. Im Gegenteil - es erscheinen Bücher, in denen dieLeidensgeschichten aufgezeichnet sind. Aber eine Wiederbelebung dieserTraditionen ist ihnen suspekt.
Die russische Regierung tat sichschwer, als nach dem Ende der Sowjetunion die Wolgadeutschen aus den Gebietenihrer Verbannung zurückfluteten. Die einen wollten sogleich in dieBundesrepublik weiterziehen. Aber andere wollten in Russland bleiben. Und eslag auch im nüchtern kalkulierten Interesse der Bundesrepublik, nicht plötzlichzwei Millionen in der Geschichte verlorene Deutsche aufnehmen zu müssen. Zurückin die alten Dörfer und Städte konnten sie nicht ziehen. Dort lebten inzwischenRussen und schrieben unfreundliche Parolen an die Hauswände, die auf dieRückkehrer nicht sehr einladend wirken konnten. «Faschisten raus» war noch dieharmloseste. ( )
© Rowohlt Verlag
- Autor: Dirk Sager
- 2007, 1, 320 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345601
- ISBN-13: 9783871345609
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