Birthday
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Birthday -The Ring 0 von Kôji Suzuki
LESEPROBE
November1990
Noch bevor sie das Bewusstseinwieder erlangte, hatte sich
der Ausblick auf den Himmel über ihrin ihre Netzhaut gebrannt.
Doch was war das für ein Ausblick?Ihr Blickfeld
war stark eingegrenzt, da sieausgestreckt auf dem Boden
lag. Alles, was sie sah, war einrechteckiger Ausschnitt des
Himmels. Bis auf diesen länglichenStreifen Himmel war
alles dunkel und undeutlich. Imersten Moment wusste sie
nicht, was sie mit diesem Bildanfangen sollte. Sie begriff
nicht, wo sie sich befand.
Die Grenze zwischen Traum undRealität war verschwommen,
wie man es manchmal nach demErwachen
aus tiefstem Schlaf erlebt.
Links und rechts von ihr ragtenBetonmauern auf, und
auch unter ihrem Rücken spürte siedas harte Material.
Wäre der Himmelsausschnitt über ihrrund gewesen, hätte
sie darauf getippt, auf dem Grundeines Brunnens zu liegen,
doch durch die rechteckige Form kamsie zu dem Schluss,
dass sie sich in einem mehrere Metertiefen Schacht befinden
musste.
Das Sonnenlicht fiel nicht direkt inden Schacht. Die
kühle, klare Luft ließ sie vermuten,dass es früher Morgen
war. Ab und zu hörte sie das seltsameindringliche Krächzen
einer Krähe, die sich offenbar ganzin ihrer Nähe befand.
Doch sie war nicht zu sehen, keinFlügelschlag drang an ihr
Ohr, nur das heisere »Krah-Krah« hallte im engen Schacht
wider.
Als sie schon dachte, das Krächzensei verstummt, nahm
das Nebelhorn eines Schiffes dessenPlatz ein und erfüllte
den engen Raum. Offensichtlich wardas Meer nicht weit,
denn leichter Salzgeruch drang inihre Nase. Langsam begann
sie zu begreifen, wo sie sichbefand. Auf dem Dach
irgendeines Gebäudes am TokioterHafen
Sie reckte den Kopf nach oben underkannte, dass zwei
verrostete Rohre quer über ihremKopf verliefen. Die bedrückend
nahen Betonmauern ließen ihr kaumgenug Platz,
um Schultern oder Arme zu bewegen.Aus dem rissigen
Baustoff ragte dornenartig einStahlstift hervor, der einen
schmerzhaft spitzen Eindruck machte,was den ohnehin
schon spärlichen Raum noch beengterwirken ließ. So blieb
sie auf dem Rücken liegen und hieltArme und Beine kerzengerade
ausgestreckt.
Mit steif gehaltenem Körper hob sieden Kopf an und versuchte
zu erkennen, was hinter ihren Beinenlag. War es eine
Sinnestäuschung oder flatterte dereben noch so stabil
wirkende Stahlstift im Luftzug? Sie kniffdie Augen zusammen,
und tatsächlich, das war gar keinStahlstift, sondern
ein schmaler Stoffstreifen, wie erzum Binden eines Sommerkimonos
verwendet wurde. Woran war er nurbefestigt?
Das Ende umflatterte ihre Beinesanft.
Wie der Faden einer Spinne Die blitzartige Erinnerung an
den Horrorroman »Spinnfäden«versetzte sie in tiefe Panik
und ließ ihren ganzen Körperverkrampfen.
Wie war sie nur hierher geraten? Siekonnte sich nicht entsinnen.
Ihre Erinnerung war bruchstückhaftwie eine zersplitterte
Fliese. So sehr sie sich auchbemühte, die Erinnerungssplitter
ließen sich nicht zu einemsinnvollen Ganzen
zusammensetzen. Sie hatte keineAhnung, was geschehen
war. Wo bin ich? Warum bin ichhier?
Lautlos sagte sie sich ihren Namenvor. Mai Takano. Das
war ihr Name, da war sie sichsicher. Doch irgendetwas
schien nicht zu stimmen. Sie wurdedas Gefühl nicht los,
etwas Fremdes habe von ihrem KörperBesitz ergriffen.
Schon die ganze Zeit hatte sie denEindruck, nicht sie selbst
zu sein.
Sie fuhr fort, sich die Eckdaten deseigenen Lebens vor
Augen zu führen. Alter, Adresse,Lebenslauf Alles, woran
sie sich erinnern konnte. 22Jahre alt, Studentin der Literaturwissenschaft,
angestrebte Promotion derPhilosophie.
Ein heftiges Stechen in ihrem Beinriss sie aus den Gedanken.
Schon beim Aufwachen hatte siebemerkt, dass ihr
Knöchel schmerzte. Vorsichtig hobsie den Kopf und sah
nach unten. Was war das? Sie konnteihre Füße nicht sehen!
Zunächst war ihr nicht klar, was ihrdie Sicht versperrte. Sie
kniff die Augen zusammen. Als sieerkannte, dass es ihr
eigener Bauch war, der ihr im Wegwar, riss sie die Augen
entsetzt auf.
Ihr Bauch war unter dem weiten Rockund der sportlichen
Jacke dick angeschwollen. Sie vergaßihr schmerzendes
Bein und versuchte vorsichtig, dieHände auf die gewölbte
Kugel zu legen. Sie spürte, dassnicht irgendetwas unter
ihrer Jacke steckte, sondern dassihre Finger direkt ihren
Bauch berührten. Die Haut warangespannt und schien von
innen heraus angehoben zu werden.Soweit sie sich erinnern
konnte, war sie immer schlankgewesen, mit kleinen Brüsten
und einer auffallend schmalenTaille, die ihr ganzer Stolz
gewesen war.
In diesem Augenblick verspürte siejedoch weder Angst
noch Enttäuschung. Als sie sich vomersten Schreck erholt
hatte, streichelte sie ihren Bauchvorsichtig mit beiden
Händen, wie um ihn behutsam zuschützen. Sie konnte
sich ihren Zustand nicht erklären.Was sollte sie empfinden?
Sachlich und gelassen ließ sie ihrenBlick über den eigenen
Körper wandern. In ihrem Herzenherrschte absolute Leere,
sie war zu keinem Gedanken fähig.Wie durch die Augen
einer Fremden betrachtete sie ihrenangeschwollenen Leib
immer wieder. Wie sie es auch drehteund wendete, das war
der Bauch einer Hochschwangeren. DasWort »schwanger«
hallte in ihrem Kopf wider.
Dieses Wort ließ in MaisUnterbewusstsein Erinnerungsfetzen
und Assoziationen aufsteigen.Allmählich begann sie
zu begreifen, warum sie hier war.Alles hatte mit diesem Videoband
angefangen
Sie hatte es sich trotz ihrerdüsteren Vorahnung angesehen.
Das war der Fehler gewesen.
Die Erinnerung an das Einlegen derKassette in den
Videorekorder und das Drücken der Play-Taste war plötzlich
wieder so real, dass Mai sogarglaubte, die Taste unter
ihrem Finger zu spüren. ( )
© Wilhelm Heyne Verlag
Übersetzung: Alexandra Klepper
- Autor: Koji Suzuki
- 2006, 205 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Klepper, Alexandra
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453431324
- ISBN-13: 9783453431324
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