Bis an das Ende der Nacht
Christopher Coake erzählt von Menschen in extremen Situationen. Von Menschen, die einen geliebten Angehörigen verlieren oder zu verlieren drohen, von Menschen, die selbst vom Tod bedroht sind, von Menschen, die sich plötzlich scheinbar unlösbaren Aufgaben gegenüber sehen. Sieben Geschichten, die einen nicht nur beim Lesen, sondern auch lange danach nicht mehr loslassen. Selten schrieb jemand eindringlicher, spannender, bewegender über die Liebe, den Tod und das Leben.
Eine neue literarische Stimme aus Amerika, die auf Anhieb international für Furore sorgte.
"Ein staunenswertes literarisches Debüt. Seine sieben Geschichten sind alle vom selben existenziellen und literarischen Kaliber: gnadenlos hart und abgründig wahr. Weil sie offenbaren, dass die Welt nicht das ist, was wir hoffen oder meinen, sondern das, was keiner wissen oder sich vorstellen kann - bis er es selbst schmerzhaft erfährt. Wer am Ende des Buches nicht ein Coake-Fan geworden ist, dem ist nicht zu helfen." - Spiegel
"Der junge Amerikaner schreibt über unerfüllte Liebe, jähen Tod und tiefe Freundschaft, über Träume, Unsicherheiten und Glauben. Und das mit einer sensiblen Inbrunst und in einer so klaren ehrlichen Sprache, dass man beim Lesen mancher Passagen Ehrfurcht bekommt vor dieser Erzählgabe." - AP
"Christopher Coake beschreibt Menschen, die auf dem schmalen Grat zwischen Alltag und Katastrophe balancieren, und er tut es in einer täuschend sanften, lakonischen Prosa. (...) Coakes Geschichten sind streng gebaut und zeugen von einer scharfen, ökonomischen Intelligenz, sie lassen sich auf das Wagnis ein, das Unerklärliche menschlicher Regungen zu bescheiben. In ihrer virtuosen Mischung aus Entsetzen und Anteilnahme kommen sie dem Geheimnis unserer Existenz ein Stückchen näher." - Spiegel
Bisan das Ende der Nacht von Christopher Coake
LESEPROBE
Bisan das Ende der Nacht
EINESUITE
I.Fallhöhe
Ericund Kristen sind auf unvertrautem Terrain. Sie kennen
sicherst wenige Wochen, aber für sie steht fest, dass es Liebe
ist,die große, glühende Liebe.
Unddiese Liebe, dieses unverhoffte Geschenk, ist so schnell
übersie gekommen, mit solcher Intensität! Und genau im rechten
Moment.Sie sind jung - Eric ist vierundzwanzig, Kristen
zweiundzwanzig-, aber beide hatten sie, als sie sich kennengelernt
haben,eine lange, krisengebeutelte Beziehung hinter sich.
Kristenhatte sich frisch von ihrem Freund getrennt, mit dem
sievier Jahre zusammen war. Und Erics Scheidung - nach drei
JahrenEhe - ist erst diese Woche rechtskräftig geworden.
Umdas zu feiern, haben sie sich ein Hotelzimmer im Stadtzentrum
genommenund ein ganzes Wochenende hindurch
kaumeinen Fuß nach draußen gesetzt. Und es sind die letzten
Stundenihrer letzten Nacht dort, und sie haben sich gerade
ebengeliebt. Jetzt flüstern sie sanft und süß im Dunkeln. Erinnerungen,
Geheimnisse,alles. Dieser Sturzbach aus Worten
berauschtsie ebenso sehr wie der warme, feuchte Körper des
anderenunter der Decke. Alles, was sie jetzt sagen und tun,
scheintihnen mit Bedeutung behaftet, mit einer großen, intimen
Symbolik,die sie feierlich stimmt, weil sie für ihr Zusammensein
mitseinen sämtlichen Versprechungen steht.
Kristenwispert: Erzähl mir was. Ganz egal was. Einfach irgendwas,
wasdir wichtig ist.
Sagmir, was du wissen willst, sagt Eric. Du darfst alles wissen.
Ichhabe keine Geheimnisse vor dir.
Irgendwas,was nur du mir erzählen könntest. Was dich
ganzund gar ausmacht.
Egalwas?
Wasdir am lebhaftesten in Erinnerung ist. Und dann bin ich
dran.
Ericschweigt, aber sie spürt seine Hand warm und flach an
ihremBauch. Seine Finger biegen sich zusammen und wieder
auf.
Naja, bei mir ist es was Schlimmes, sagt er.
Beimir was Schönes, sagt sie.
Kristenhat vor, ihm zu erzählen, wie es war, als sie ihn das
ersteMal gesehen hat - vielleicht nicht die schwerwiegendste
ihrerErinnerungen; die wäre der Tod ihrer Mutter, den sie bisher
nurandeutungsweise erwähnt hat und an den sie nur ungern
denkt.Aber was im Moment den ersten Platz in ihrem
Gedächtniseinnimmt, das ist Eric, vor nicht mal einem Monat,
alssie beide an der Kinokasse anstanden: der breite Keil
seinesRückens und das langsame Lächeln auf seinem Gesicht,
dieseUnschlüssigkeit, mit der er so sichtbar kämpfte, während
erihre Blicke erwiderte. Er ging allein ins Kino; sie auch. Sie
sahihn, und er lächelte sie an, schaute immer wieder her, rang
mitseiner Schüchternheit, und sie wusste - wusste es ganz einfach
-,dass aus ihnen ein Paar werden würde. Das will sie ihm
sagen.Kristen hatte ihn angesprochen - so kühn war sie noch
niegewesen -, und nach ein paar stockenden ersten Sätzen
hattensie beide über sich selbst lachen müssen, über die Offenkundigkeit
ihrerHemmungen und Wünsche und die
Freudean ihrer eigenen Beherztheit, und dann hatten sie sich
nebeneinandergesetzt. Und sie hat Recht behalten. Es ist ein
Paaraus ihnen geworden. Jetzt sind sie hier, zusammen.
Siewill ihm sagen, dass es für sie keine Sekunde des Zweifelns
gab.
Beimir ist es was richtig Schlimmes, sagt Eric. Ich weiß
nicht,ob das jetzt so gut passt.
Erzähl smir. Es ist gut, dass du den Anfang machst. Fangen
wirmit dem Schlimmen an, dann können wir mit dem Schönen
aufhören.
Bistdu sicher?
Ichglaube, wir können mit allem fertig werden, sagt sie. Mit
absolutallem. Glaubst du nicht?
Erverschiebt sein Gewicht ein bisschen, küsst sie auf die trockenen
Lippenund bringt dann den Mund an ihr Ohr.
Ichwar sieben, als es passiert ist. Meine Familie war in einen
Naturparkim Süden von Indiana gefahren, und in diesem
Parkgab es ein paar ziemlich steile Schluchten und Felswände.
MeinVater und meine Mutter waren dabei, und meine kleine
Schwesterund unser - mein - Hund. Er hieß Gale; so hatte ich
ihngenannt, weil er schnell war wie der Wind. Ich war stolz
aufden Namen, ich fand es einen grandiosen Einfall von mir.
Galewar ein Mischling, ein Schäferhundmischling, ungefähr
zweiJahre alt, aber wir hatten ihn schon als Welpen bekommen.
Ichhatte ihn aufgezogen. Er hat nachts bei mir geschlafen.
Ichhab ihn über alles geliebt. Er war einer von diesen
Hunden,die richtig gute Spielkameraden sind, weißt du - er
hatimmer schon auf mich gewartet, wenn ich aus dem Bus gestiegen
bin,und aufgepasst, dass andere Kinder mir nichts tun.
Immermit Feuereifer bei der Sache, wie Hunde eben sind.
Erhatte so einen Ball, ein Quietschding aus Gummi, das war
seinLieblingsspielzeug. Den hatten wir im Park auch dabei.
GegenMittag ist mein Vater mit uns zu einer Picknickwiese
gefahrenund hat an einem von den Grillplätzen Feuer gemacht.
MeineMutter und meine Schwester sind im Fluss rumgewatet.
Ichund Gale sind einen Hang raufgelaufen und in
denWald rein, spielen. Ich warf den Ball, und er raste ihm
nach,und wir liefen immer tiefer in den Wald, weg vom Weg,
undGale wurde immer wilder und aufgedrehter, und er hat
sichseinen Ball geschnappt und ist damit losgefetzt, mitten
durchsUnterholz, und ich musste schauen, dass ich hinterherkam.
Esging die ganze Zeit bergauf, und irgendwann hatte ich
ihmden Ball doch abgejagt. Wir waren inzwischen so weit
oben,dass wir am Rand einer Felswand hoch über dem Fluss
standen.Also fing ich an - keine Ahnung, warum, ich hab mir
nichtsdabei gedacht -, den Ball in Richtung Kante zu werfen.
Ichhab damit nichts bezweckt - nichts Böses, meine ich -, ich
wollteeinfach nur sehen, wie schnell er ist. Ich war stolz auf
ihn.Er preschte jedesmal los und erwischte den Ball weit vor
derKante, und ich dachte wohl einfach, er hat genauso den
Durchblickwie ich.
Dannwarf ich noch ein bisschen fester, und der Ball sprang
biszur Kante vor, und ich merkte, dass ich mich verschätzt
hatte,dass der Ball über die Kante fallen würde; Gale war zu
weitweg, um ihn noch zu kriegen. Aber er raste trotzdem los.
DerBall rollte über den Rand, und Gale bremste nicht - er war
zuaufgedreht, ich hatte ihn zu sehr aufgestachelt. Ich brüllte
Nein,damit er anhielt, aber er bremste erst scharf vor der
Kante.Da begriff er plötzlich, wo er war, und er schlitterte
überdie kahle Erde, sein Körper stellte sich quer, und dann
rutschteer mit den Hinterpfoten über den Felsrand, und da
hinger, nur die Vorderbeine noch auf festem Boden, und versuchte
sichüber den Rand hochzustrampeln.
Ichrannte zu ihm, und als ich an der Kante stand, sah ich,
wietief es hinunterging. Vielleicht dreißig Meter, ich weiß es
nicht.Schrecklich tief jedenfalls. Ich sah es alles wie auf einer
Photographie,und ich sehe es immer noch vor mir. Die Wand
waraus altem, dunklem, mürbem Kalkstein, ganz mit Moos
undRanken überwachsen, ich rieche den Geruch noch, nass
wieumgegrabene Erde, und ganz unten war eine dunkle,
schattigeBöschung mit ein paar glitschig aussehenden abge-
storbenenBäumen darauf, um die altes fauliges Laub lag. Die
Hangkantebröckelte, überall loses Geröll, und als ich hinuntersah,
wurdemir schwummerig. Und statt Gale beim Halsband
zupacken, hab ich hab ich einfach nur runtergestarrt,
weißtdu, ich stand da wie gelähmt und starrte in den
Abgrund.
Abernur eine Sekunde lang, eine halbe Sekunde. Mehr kann
esnicht gewesen sein. Gale strampelte wie wild - scharrte an
derFelswand, kratzte mit den Vorderpfoten im Geröll. Er
hattees fast über die Kante geschafft, da verlor er wieder den
Haltund rutschte weg. Er sah mich an, die Augen ganz weit
aufgerissen,und er machte so ein so ein hüstelndes Geräusch.
Undda kniete ich mich endlich hin und kroch zu ihm
undwollte ihn am Halsband fassen, aber ein Stück Fels unter
ihmmuss nachgegeben haben, denn genau in dem Moment
fieler. Er hat er hat aufgejault. Als er begriff, was mit ihm
passiert.
Ichhatte mich über den Rand gelehnt, um sein Halsband zu
packen,und ich konnte sehen, wie er fiel. Seine Pfoten tapsten,
alswürde er immer noch am Fels Halt suchen, dabei flog er
durchdie Luft. Ein- oder zweimal drehte er sich um sich selbst.
Aufhalber Höhe schlug er an einen Felsvorsprung, und ich
glaube,das war der tödliche Aufprall, denn danach flog er
zwarweiter, aber ohne sich noch zu bewegen. Und beim Aufschlagen
kamso ein Ton aus ihm heraus, ganz kurz und
scharf.Wie ein Schrei, der mittendrin abbricht.
Erlandete an dem Knick, wo die Steilwand in einen Hang
überging,und rutschte weiter, als ob er aus Gummi wäre. Die
nassenalten Blätter schoben sich vor ihm zusammen und
bremstenihn ab. Er machte eine Spur im Laub, und darunter
warglänzender, feuchter Stein. Es sah aus, als würde eine
Hautabgezogen. Ich schaute ganz schnell weg von Gale, nachdem
erzu rutschen aufgehört hatte. Selbst von so weit oben
konnteich sehen, dass seine Lefzen hochgezogen waren.
Ichkauerte auf allen vieren dort an der Felskante und starrte
hinunter.Mir wurde schwindlig - ich kann bis heute nicht
indie Tiefe schauen. Die ganze Felswand neigte sich vor, als
wolltesie mich über den Rand kippen - ein bisschen so, als ob
dieWelt ein Rad wäre, das vorwärtsrollt. Ich dachte - ich
glaubtezu sehen, wie die Ranken sich von der Wand lösten.
Ichwollte schreien, das weiß ich noch, aber mein Hals war wie
zugeschnürt.
Undich ich wäre beinah gesprungen. Hinter ihm hergesprungen.
Ichkann es nicht erklären, nicht richtig jedenfalls. Ich
meine,natürlich war ich todunglücklich - ich war sieben, und
ichliebte diesen Hund wie nur irgendwen von meiner Familie.
Aberdas war es nicht allein. Ich wollte auch sterben. Das, was
ichgetan hatte, war so fürchterlich, dass mir nichts anderes
übrigblieb.Das wusste ich. Erst sieben Jahre alt, und ich wusste
schon,was es heißt, sterben zu wollen.
Aber es war mehr als das. Es ging nicht nur ums Sterbenwollen.
Esging ums Sterbenmüssen. Wir sind damals zur Kirche
gegangen,meine Familie und ich, und es war nicht nur das
Gefühl,dass ich Unrecht getan hatte - mir kam es vor, als
bäumtedie ganze Welt sich auf, als wollte Gott, dass ich
sterbe,weil ich etwas so Schlimmes getan hatte, dass ER mich
nurnoch in den Abgrund fegen konnte, meinem armen Hund
hinterher.
Eswar, als hätte ich keinerlei eigenen Willen mehr. Meine
Händeschrammten über die Kiesel, und immerzu sah ich Gale
vormir, seine Beine, die in der Luft ruderten, so wie auch
meinegleich rudern würden. Sobald ich meinen Widerstand
aufgabund losließ.
Kristenschweigt lange Zeit. Dann sagt sie: Du bist nicht gefallen.
Nein.
Washast du -?
Michflach auf den Boden gelegt. Die Backe an die Erde gedrückt
unddie Augen zugemacht und irgendwelche Grasbüschel
zupacken bekommen und mich mit aller Macht daran
festgekrallt.Und irgendwann ließ der Schwindel nach. Als
meineStimme mir dann wieder halbwegs gehorcht hat, habe
ichgeschrien, bis meine Eltern kamen.
Und dann?
EineWoche lang hab ich nur geheult, und ich hatte Alpträume
ich hab heute noch Alpträume. Immer wieder befördert
meinHirn mich zurück an die Stelle, und wir spielen das
Ganzenoch mal von vorn durch.
Erseufzt, ein langer, tiefer Seufzer, und sagt: Nur dass ich am
Schlussmeistens falle.
Siewendet sich ihm zu und schlingt die Arme um ihn. Er
spürtihre Wange an seiner nackten Brust. Die Wange ist
feucht.Sie hält ihn ganz fest.
Jetztdu, sagt er nach einer Weile. Jetzt das Schöne.
Sieumschlingt ihn fester.
Kommschon, sagt er, erzähl.
Erdrückt die Nase in ihr Haar, das nach Erdbeeren und
Schweißriecht. Er schließt die Augen und versucht ihr Gesicht
zusehen, aber ein Teil von ihm ist noch weit weg. Er sieht den
Fels,grau und nass.
Bitte,sagt er. Bitte erzähl.
© Goldmann Verlag
Übersetzung: Sabine Roth
- Autor: Christopher Coake
- 2006, 1, 319 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Sabine Roth
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442311098
- ISBN-13: 9783442311095
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