Bis hierher, bis heute
Roman
Ein Familientreffen nach langer Zeit. Anlässlich der Beerdigung von Constanza kommen ihr Exmann Rodolfo, ihre Tochter Martina und ihre Enkel im gemeinsamen Haus am Meer erstmals wieder zusammen. Rodolfo ist vor zwanzig Jahren nach Buenos Aires...
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Produktinformationen zu „Bis hierher, bis heute “
Ein Familientreffen nach langer Zeit. Anlässlich der Beerdigung von Constanza kommen ihr Exmann Rodolfo, ihre Tochter Martina und ihre Enkel im gemeinsamen Haus am Meer erstmals wieder zusammen. Rodolfo ist vor zwanzig Jahren nach Buenos Aires geflüchtet - nach einem schrecklichen Ereignis, über das bis heute geschwiegen wird. Nun spürt er, dass auch seine Tage gezählt sind, und beschließt, endlich das Geheimnis zu lüften, das ihrer aller Leben bestimmt hat. Eine Geschichte der verborgenen Gefühle und das Porträt einer Familie, die nach Jahren der Trennung und des Schweigens wieder zusammenfindet.
Klappentext zu „Bis hierher, bis heute “
Ein Familientreffen nach langer Zeit. Anlässlich der Beerdigung von Constanza kommen ihr Exmann Rodolfo, ihre Tochter Martina und ihre Enkel im gemeinsamen Haus am Meer erstmals wieder zusammen. Rodolfo ist vor zwanzig Jahren nach Buenos Aires geflüchtet - nach einem schrecklichen Ereignis, über das bis heute geschwiegen wird. Nun spürt er, dass auch seine Tage gezählt sind, und beschließt, endlich das Geheimnis zu lüften, das ihrer aller Leben bestimmt hat. Eine Geschichte der verborgenen Gefühle und das Porträt einer Familie, die nach Jahren der Trennung und des Schweigens wieder zusammenfindet.
Ein Familientreffen nach langer Zeit. Anlässlich der Beerdigung von Constanza kommen ihr Exmann Rodolfo, ihre Tochter Martina und ihre Enkel im gemeinsamen Haus am Meer erstmals wieder zusammen. Rodolfo ist vor zwanzig Jahren nach Buenos Aires geflüchtet - nach einem schrecklichen Ereignis, über das bis heute geschwiegen wird. Nun spürt er, dass auch seine Tage gezählt sind, und beschließt, endlich das Geheimnis zu lüften, das ihrer aller Leben bestimmt hat. Eine Geschichte der verborgenen Gefühle und das Porträt einer Familie, die nach Jahren der Trennung und des Schweigens wieder zusammenfindet.
Lese-Probe zu „Bis hierher, bis heute “
Bis hierher, bis heute von Alejandro Palomas ... mehr
»Und dir, wie geht's dir, meine Kleine?« Meine Kleine. Wenn mich Papa »meine Kleine« nennt, werde ich zum Kind, und es kommen Empfindungen hoch, wie es oft geschieht, seit wir eins waren, er und ich, mein Gewicht auf seinen Knien, wenn er mir Geschichten erzählte, die ich nicht verstand. Es war egal. Ich spürte die Knochen seiner Beine unter den meinen und seinen Arm um meine Taille, während mich seine Stimme einhüllte wie Zellophanpapier. Dann war alles gut. Fragen. Papa fragt und ich weiß, dass es von Herzen kommt, obwohl ich auch weiß, dass zwischen uns beiden die Antworten abgewogen werden müssen, denn wir haben noch nicht gelernt, richtig damit umzugehen. Es gab eine Zeit, als Fragen Antworten bekamen, als das Lachen aufrichtig war und alles seinen natürlichen Lauf nahm. Aber das war vor dem Unfall. Alles war vor und nach dem Unfall, wie die beiden Seiten einer in die Luft geworfenen Münze, die nie herabzufallen scheint und, wenn sie endlich herabfällt, auf der Kante landet. Der Himmel und das Meer. Oben und unten. Ein Leben im Positiv und das andere im Negativ. Fernando und ich. Verónica und Lucas. Papa und Mama. Nein, seit langem können wir nicht mit Antworten umgehen. Nicht mit den ehrlichen. »Die Wahrheit?« Er lächelt. »Natürlich.« Ich bin erschöpft, das ist eine Wahrheit. Erschöpft von den letzten Jahren, in denen ich Mama in diesem großen Landhaus pflegte, wir beide allein, unter uns mit ihrem Schweigen, ihrer Hinfälligkeit und ihren Ausbrüchen von angestauter Wut. Erschöpft von Marianne, die gekommen war, um mir im Haus und in der Küche zu helfen, und die sich allmählich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen, und viel zu viel Raum einnahm. Ich bin erschöpft, ja. Und außerdem schmerzt mein Handgelenk. Es macht mir Sorgen, dass es trotz der Wochen, die bereits vergangen sind, nicht gut zusammenwächst, dass meine Hand immer wieder anschwillt wie der raue Handschuh, mit dem ich Mama gewaschen habe. Das ist eine Wahrheit. Es gibt noch andere. »Mir geht's gut.« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Lügnerin.« Wir sehen uns an. Wenn ich lächle, werde ich emotional, werde ich die Tränen nicht zurückhalten können. Ich bin zu schwach. »Ich bin erschöpft. Ich habe seit zwei Tagen nicht geschlafen, bin herumgewetzt wegen der ganzen Formalitäten, vom Krankenhaus zum Bestatter ... Du weißt schon, Bürokratie.« Er sagt nichts, doch sein Arm liegt noch auf meiner Schulter. »Und traurig. Ich bin auch traurig. Ich werde Mama vermissen.« Er sieht mich an und lächelt. Es ist nicht das Lächeln des Künstlers. Nicht das Lächeln, das Rodolfo Hoffman, seit ich denken kann, seinem Publikum schenkt. Es ist das des Vaters. Das habe ich schon lange nicht mehr gesehen, und es trifft mich unvorbereitet. »Das spricht sehr für dich.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er schon. Er senkt die Stimme und auch den Blick. »Deine Mutter war keine einfache Frau.« Das ist wahr, Mama war keine einfache Frau, aber ihr Leben war es auch nicht. Vor allem, seit sie Fernando verloren hatte und ihre perfekte Welt einer perfekten Mutter in sich zusammengestürzt war.
»Das hat sie auch von dir behauptet.« Papa lacht herzlich auf, was die Ruhe des Gartens zerstört. Das Lachen eines gesunden Kindes. Ansteckend. »Schlaues Mädchen, deine Mutter.« »Nein, Papa. Kann sein, dass Mama vieles war, aber schlau, was man so schlau nennt ...«, erwidere ich leicht unmutig. »Wozu sollen wir uns was vormachen.« »Sag nicht so was.« Seine Antwort überrascht mich, aber ich sage es ihm nicht. Es ist nicht nötig. »Überrascht?« »Ist doch egal.« »Mir nicht.« »Ich mag es nicht, wenn du sie verteidigst, Papa. Du nicht.« »Warum?« »Weil ich nicht glaube, dass sie es getan hätte, wäre sie an deiner Stelle. Und sie hat es nie getan.« Nein. Mama hat nie ein gutes Wort über Papa verloren. Anfangs erwähnte sie ihn noch öfters, aber nie direkt. »Dein Vater«, sagte sie, ohne mich anzublicken. Und sie sagte es vorwurfsvoll zu mir, weil es sonst niemanden mehr gab, als wäre ich schuld daran, dass Papa getan hatte, was er tat. Mit der Zeit veränderte sich ihre Ausdrucksweise, der Ton aber nicht, und eines Tages fand sie, es sei genug, dass dieses »dein Vater« ausgedient hätte. Dann spann sie feiner, und aus »Papa«, das durch meine Schuld verbliebene Bindeglied, wurde ein unbestimmtes »dieser Mann«. »Du triffst also diesen Mann«, seufzte sie mit resignierter Miene, wenn sie sah, wie ich mich für die kurze Fahrt zu meinem jährlichen Treffen mit ihm in die Klinik fertigmachte. »Dieser Mann verdient uns nicht. Er hat uns nie verdient«, schloss sie mürrisch. Es kam der Augenblick, von dem an sie ihn gar nicht mehr erwähnte. Sie verbannte die Erinnerung an Papa und begrub sie in irgendeiner Kammer ihres Gedächtnisses, wie sie es mit so vielen anderen Dingen getan hatte. Sie riss ihn sich heraus und lebte ohne ihn. Bis zu ihrem Tod. »Ich gebe ihr nicht die Schuld«, murmelt Papa neben mir. In seiner weißen Gestalt fangen sich die Lichtstrahlen, die der Tag am Himmel hinterlassen hat. Ich sehe sein Gesicht nicht. »Es ist zu spät dafür, mein Kind.« Es ist zu spät, sagt er, und obwohl ich weiß, dass er das auf sich selbst bezieht, hallt seine Botschaft in mir und in meinem Kopf wider. Das denke ich auch schon lange. So viele Jahre hier, an Mama geklammert wie Efeu an einen stacheligen Baum. So lange Zeit auf eine Veränderung bei ihr wartend, die mir eine Tür öffnen würde zu dem, was sie ausgeschlossen hatte, fixiert auf ihren Schmerz und darauf, dass sie eines Tages aufstehen würde und Lust zu irgendetwas hätte, das nicht Wut auf das Leben, schlechte Laune, schlechtes Verlieren war. Nach zwanzig Jahren des Wartens ist es zu spät, geht mir plötzlich durch den Sinn. »Was denkst du?«, fragt er aus der Dämmerung. Ich denke, dass ich so viele Jahre mit Mama, im Sog ihres Unglücks gelebt habe, dass ich jetzt, wo sie nicht mehr da ist, nicht weiß, wie ich die Zeit, die mir zum Leben bleibt, füllen soll. Dass ich sie nicht einmal vermissen kann, denn wenn ich es tue, werde ich allein sein und bei null anfangen müssen. »Dass ich sechzig Jahre alt bin, Papa. Und dass ja, dass es für vieles zu spät ist.« Ich höre ihn die Luft durch die Nase einziehen. Sein Baumwolljackett knistert, und auch der Himmel in der Ferne knistert, als ein leiser Donnerschlag wie fernes Murmeln aus ihm hervorbricht. »Heute Nacht wird es gewittern«, sagt er. »Scheint so.« Genau in dem Moment gehen die großen Laternen über der Eingangstür an, sie haben Fühler für die Dunkelheit und unsere Anwesenheit. Wenige Schritte vor mir sieht mich Papa mit schmerzerfülltem Gesicht an, das Laternenlicht legt es hinterhältig bloß. Leicht gekrümmt hat er eine Hand in die linke Seite gestützt. Als er sich dabei ertappt sieht, versucht er zu lächeln, was ihm nur halbwegs gelingt. Seine Haltung versetzt mich sofort auf den Friedhof zurück, und wieder verstehe ich ihn. »Alles in Ordnung?« Er streckt den Rücken durch und zieht eine Schnute. »Es ist nichts. Diese verfluchten Divertikel, die einfach nicht aufhören zu ...« neuerliches Verziehen des Gesichts »... nerven.« »Aber Papa, warum hast du nichts gesagt? Seit wann geht das schon?« Das mag er nicht. Er mag mich nicht besorgt sehen. »Schon, schon ... Wie schon? Diese Divertikel sind nichts weiter, mein Kind. Alterserscheinungen. In meinem Alter ist es noch das Geringste, was man haben kann.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er reibt sich weiter die Seite. »Sollen wir einen Arzt rufen?« Er schaut mich an, als hätte er gerade ein Chormädchen falsch singen gehört. »Du spinnst.« »Papa ...« »Es-ist-nichts«, murmelt er in seiner Sturheit und seiner Angst vor Ärzten, die ich gut kenne und teile. »Wenn ich mich beim Essen gehen lasse, entzünden sie sich manchmal. Ich muss mich nur ein wenig schonen. Viel Obst essen, viel Wasser trinken ... Diesen Blödsinn eben, den dir die Ärzte empfehlen, wenn sie nicht wissen, was sie mit dir machen sollen, und das wissen sie nie.« »Bist du dir sicher?« »Natürlich. Ich brauche nur ein gutes Bett. Und Schlaf, vor allem Schlaf. Du weißt ja, wie schlecht mir der Jetlag bekommt.«
Er lächelt wieder und schenkt mir ein beruhigendes Augenzwinkern. Ich beschließe, ihm zu glauben. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich einen fünfundachtzigjährigen Vater habe, der sich wie ein Zwanzigjähriger durch die Welt bewegt, mit einer Energie, die sich niemand erklären kann. Er atmet tief ein und pustet die Luft aus wie ein alter Langstreckenläufer. Dann klopft er sich mit beiden Händen auf die Brust und macht das Gesicht eines wiederhergestellten Mannes. Verónica und Lucas gehen Arm in Arm um den Teich herum. Meine Nichte ist so in den Arm ihres Bruders geschmiegt, dass ich sie nicht sehen kann. Vor zweiundzwanzig Jahren waren die Szene und die Szenerie dieselben. Wir standen hier, auf den ausgetretenen Stufen, und die beiden bildeten einen Block aus großem, isoliertem Schmerz. Verónica, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Er flüssiger, weniger körperlich. So klein die beiden unter all den Erwachsenen. Plötzlich sind in der Stille der Nacht Geräusche hinter der Haustür zu vernehmen, was uns augenblicklich ins Hier und Jetzt zurückversetzt. Papa starrt die Tür an, greift sich an die Brust und tritt einen Schritt zurück. Einen Augenblick ist es still, und er starrt weiter erwartungsvoll die Haustür an, bis die Geräusche wieder einsetzen, diesmal begleitet von Kratzen und Knurren. Kein Lidschlag von Papa. Er fasst sich automatisch an die Seite, während es hinter uns wieder donnert, diesmal näher. »Kindchen«, flüstert er, ohne mich anzusehen. Von meinem Standort aus wirkt er so weiß wie sein Anzug, obwohl das auch vom Laternenlicht kommen kann. Ich beiße mir auf die Lippe, damit er mich nicht grinsen sieht. »Das sind die Mädchen, Papa.« Die Erklärung hilft ihm nicht weiter. Jetzt starrt er mich an. Er schluckt, lehnt sich an die Säule hinter ihm und versucht, dem, was ich gesagt habe, einen Sinn zu entnehmen. »Die Mädchen?« Er hat Angst. Papa hat Angst, und im Laternenlicht wirkt er auf mich plötzlich wie ein erschrockener Greis, verloren inmitten des Verkehrs einer Stadt, die er nicht wiedererkennt und an deren Straßen er sich nicht erinnert. Er atmet schwer, er kaut die Luft. »Die Mädchen, Papa. Meine Mädchen«, beeile ich mich zu erklären, wobei ich die zwei Stufen erklimme, die mich vom Treppenabsatz trennen, und die Doppeltür kraftvoll aufdrücke. Wie drei kleine Geister, die aus einer winzigen Flasche befreit werden, kommen Fauna, Flora und Primavera herausgeschossen und hüpfen um mich herum, stellen sich auf die Hinterbeine und springen übereinander hinweg, buhlen um meine Hände und Streicheleinheiten. Ich gehe in die Hocke und lasse sie mich einen Augenblick abschlecken und zwicken, Besitz von mir ergreifen. Es ist immer so. An die Säule gelehnt, kommt Papa wieder zu sich. Keine Spur mehr von dem erschrockenen, stummen Greis, den ich vor wenigen Sekunden unter der Laterne habe stehen sehen. Er lächelt selbstgefällig. »Na so was ... Das ist also die berühmte Fauna & Company«, sagt er mit einem plötzlichen Glänzen in den Augen, das ich gut kenne. »Ja.« Er kommt nicht näher. Er beobachtet uns vier aus der Distanz. »Aha.« Jetzt hat sich Fauna auf den Rücken geworfen. Sie wird gerne in den Leisten gekrault. Flora leckt ihr übers Maul, während Primavera die Treppe hinunterläuft, hinter den Hortensien verschwindet und auf den Rasen pinkelt. »Und du sagst, das sei eine Rasse?« »Ja, Papa. Französische Bulldoggen.« »Französische?«, wiederholt er mit einem übertriebenen Ausdruck von Ekel. »So, so.« Ich lächle. Jetzt will Flora von mir gekrault werden. Sie hinter den Ohren.
»Und sie leben im Haus?« »Natürlich.« »Immer?« »Ja.« »Aha.« Wir schweigen einen Augenblick. Lucas und Verónica stehen am Teich und reden miteinander, doch ihr Gespräch dringt nicht zu uns herüber. Die drei Hündinnen hecheln aufgeregt, wenn auch schon etwas ruhiger. Fauna liegt noch immer mit hängender Zunge auf dem Rücken. Flora lässt sich kraulen. »Mein Kind ...« Beim Aufschauen sehe ich Papa steif an der Säule lehnen und Primavera anstarren, die sich in kurzer Entfernung vor ihm aufgebaut hat und mit geneigtem Kopf zu ihm hochschaut. Papa blinzelt nicht einmal. »Das ist doch nicht der Gremlin, dieser Psychopath, der Gift spuckt, oder?« Ich lache. Er nicht. Wenn er sich sehen könnte, würde er mitlachen. Wir werden es eines Tages tun, wenn dieser Abend eine gemeinsame Erinnerung ist. Bestimmt. »Sie tut dir nichts, Papa. Die drei sind sehr lieb. Sie will nur, dass du etwas zu ihr sagst.« Er starrt noch immer zu Primavera hinunter, die sich nicht vom Fleck rührt und ihn mit ihren Glubschaugen und eingeknickten Ohren vom Boden aus mustert. »Etwas?« »Ja.« »Etwas Nettes?« »Wenn möglich.« Er fasst sich ans Kinn und bückt sich, wobei er mit zusammengekniffenen Augen ein Gesicht zieht, das keinem von uns beiden neu ist. »Ich müsste lügen.«
Und ich muss mir das Lachen verkneifen und weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Papa hockt vor Primavera und streckt vorsichtig die Hand nach ihrem Kopf aus, berührt ihn nur vorsichtig. Dann krault er sie mechanisch und sagt: »Sie müssen große innere Schönheit besitzen, Señorita.« Woraufhin Primavera, die schüchternste und unzugänglichste der drei, die abseits frisst und abseits schläft, die Augen schließt und ein Pfötchen hebt, als wolle sie an eine Tür klopfen, die niemand von uns sieht, während sich Papa aufrichtet und mit verschränkten Armen wieder an die Säule lehnt. Da springt Primavera auf, sieht zu mir herüber und trippelt langsam, ganz langsam noch etwas näher, läuft mit kleinen, leichtfüßigen Schritten um ihn herum und lässt sich schließlich zu seinen Füßen nieder. Dann schaut sie nach oben, lässt sich auf die Seite fallen und legt mit einem heiseren Seufzen ihren Kopf auf Papas Schuh. Papa schaut ihr irritiert zu. »Was tut sie?« Zu seinen Füßen die leise seufzende Primavera. »Jetzt gehörst du ihr.« Papa lacht auf und schüttelt den Kopf. »Warum muss ich bloß immer mit der Hässlichsten tanzen?« Wir lachen, er und ich, Rodolfo und Martina, und zwischen uns überkreuzen sich jetzt Fragen, Erinnerungen und Bruchstücke der Vergangenheit, die ganze Geschichte, die uns verbindet und unser beider Leben ausmacht, die wir bis heute geteilt haben: das, was wir hier gemeinsam lebten, bis Emmas und Fernandos Tod unser Schicksal aus der Bahn warf, und das andere, das darauf folgte, als das Boot, in dem wir bis dahin segelten, zerbrach und uns auf verschiedene Flöße verteilte, auf denen jeder an sein Ufer trieb, nicht daran gewöhnt, dem Wasser so nahe zu sein, mit den Händen über seiner Tiefe zu rudern. Seither ist viel geschehen, und ich lese in Papas glänzenden Augen, dass nichts davon mir passiert ist, dass ich seit Jahren das Leben an mir vorüberziehen lasse, im Schutz der Treue meiner verwaisten Nichte und meines verwaisten Neffen und der kurzen Kette, die ich mir von Mama habe anlegen lassen. Es waren so viele Jahre allein in diesem Haus mit ihr, dass ich plötzlich bei Papas Anblick an dieser Holzsäule und Primavera zu seinen Füßen verstehe, dass dies die Wirklichkeit ist, dass seit seinem Weggang zwanzig Jahre vergangen sind, dass er zurückgekehrt ist, dass er zu Hause angekommen ist. Und es fällt mir schwer zu atmen, weil ich begreife, dass ich nach alldem nur immer wieder schlucken kann, um nicht die Leinen zu lösen und ihn wieder in der Nähe haben zu wollen, zu Hause, um ihn nicht weiter zu vermissen und noch mehr Jahre mit Sehnsucht zu verschwenden. Papa sieht mich an, und ich möchte ihm sagen, dass es mir nicht guttut, ihn hier zu haben, so nah, weil ich weiß, dass er in wenigen Stunden wieder abreist und mich zurücklässt mit dem, was meins ist, und das ist nichts. Und ich möchte ihm auch sagen, dass er jetzt gehen soll, dass er es nicht hinausschieben soll, so nicht. Nein, so nicht. »Warum bist du gekommen, Papa?« Ich bin überrascht von meiner Stimme und dem, was ich aus ihr heraushöre. Es ist keine Wut und auch kein Vorwurf. Es ist eine automatisch dahingesagte Frage, mit der ich die übertünche, die ich nicht zu stellen wage, weil ich Angst habe, das zu hören, was ich schon weiß. Ich frage »Warum bist du gekommen« und verschweige ein »Warum bleibst du nicht«, das nicht angebracht scheint, weil es wie für vieles andere schon zu spät ist. Es ist zu spät für uns. Er lächelt mich von der Säule aus an. Mit dem Mund, nicht mit den Augen. »Ich wollte deine Mädchen kennen lernen, bevor die Divertikel ihnen den Großvater nehmen.« Es funktioniert nicht. Seine Antwort funktioniert nicht. Weiter unten, auf festem Boden, kommen Lucas und Verónica jetzt
schweigend näher, sie in den Arm ihres Bruders geschmiegt. Papa sieht zu ihnen hinüber. Dann löst er sich von der Säule, zieht seinen Fuß unter Primavera hervor und kommt langsam auf mich zu. »Weil ich Angst hatte, dass ich zu spät komme«, sagt er. Da wird es Nacht über uns, und ich spüre Papas knochigen Arm um meine Taille und wie er mich an sich zieht. Und ich spüre, dass mich schon viel zu lange niemand mehr umarmt hat. Es tut mir gut. Seine Wärme tut mir gut. Und seine alte, knochige Hand auf meiner Hüfte begleitet mich jetzt zur Tür, wir beide gemeinsam an der Schwelle der Dunkelheit dieser Nacht und der riesigen Eingangshalle, deren Lichter ausgeschaltet sind. Er ist wieder zu Hause, und seine Wärme durchströmt mich wie ein langer, warmer Meeresarm.
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel El secreto de los Hoffman bei Plaza y Janés © 2008 Alejandro Palomas Vermittelt durch Sandra Bruna Agencia Literaria, SL
Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Überwetzung:» Sybille Martin«
»Das hat sie auch von dir behauptet.« Papa lacht herzlich auf, was die Ruhe des Gartens zerstört. Das Lachen eines gesunden Kindes. Ansteckend. »Schlaues Mädchen, deine Mutter.« »Nein, Papa. Kann sein, dass Mama vieles war, aber schlau, was man so schlau nennt ...«, erwidere ich leicht unmutig. »Wozu sollen wir uns was vormachen.« »Sag nicht so was.« Seine Antwort überrascht mich, aber ich sage es ihm nicht. Es ist nicht nötig. »Überrascht?« »Ist doch egal.« »Mir nicht.« »Ich mag es nicht, wenn du sie verteidigst, Papa. Du nicht.« »Warum?« »Weil ich nicht glaube, dass sie es getan hätte, wäre sie an deiner Stelle. Und sie hat es nie getan.« Nein. Mama hat nie ein gutes Wort über Papa verloren. Anfangs erwähnte sie ihn noch öfters, aber nie direkt. »Dein Vater«, sagte sie, ohne mich anzublicken. Und sie sagte es vorwurfsvoll zu mir, weil es sonst niemanden mehr gab, als wäre ich schuld daran, dass Papa getan hatte, was er tat. Mit der Zeit veränderte sich ihre Ausdrucksweise, der Ton aber nicht, und eines Tages fand sie, es sei genug, dass dieses »dein Vater« ausgedient hätte. Dann spann sie feiner, und aus »Papa«, das durch meine Schuld verbliebene Bindeglied, wurde ein unbestimmtes »dieser Mann«. »Du triffst also diesen Mann«, seufzte sie mit resignierter Miene, wenn sie sah, wie ich mich für die kurze Fahrt zu meinem jährlichen Treffen mit ihm in die Klinik fertigmachte. »Dieser Mann verdient uns nicht. Er hat uns nie verdient«, schloss sie mürrisch. Es kam der Augenblick, von dem an sie ihn gar nicht mehr erwähnte. Sie verbannte die Erinnerung an Papa und begrub sie in irgendeiner Kammer ihres Gedächtnisses, wie sie es mit so vielen anderen Dingen getan hatte. Sie riss ihn sich heraus und lebte ohne ihn. Bis zu ihrem Tod. »Ich gebe ihr nicht die Schuld«, murmelt Papa neben mir. In seiner weißen Gestalt fangen sich die Lichtstrahlen, die der Tag am Himmel hinterlassen hat. Ich sehe sein Gesicht nicht. »Es ist zu spät dafür, mein Kind.« Es ist zu spät, sagt er, und obwohl ich weiß, dass er das auf sich selbst bezieht, hallt seine Botschaft in mir und in meinem Kopf wider. Das denke ich auch schon lange. So viele Jahre hier, an Mama geklammert wie Efeu an einen stacheligen Baum. So lange Zeit auf eine Veränderung bei ihr wartend, die mir eine Tür öffnen würde zu dem, was sie ausgeschlossen hatte, fixiert auf ihren Schmerz und darauf, dass sie eines Tages aufstehen würde und Lust zu irgendetwas hätte, das nicht Wut auf das Leben, schlechte Laune, schlechtes Verlieren war. Nach zwanzig Jahren des Wartens ist es zu spät, geht mir plötzlich durch den Sinn. »Was denkst du?«, fragt er aus der Dämmerung. Ich denke, dass ich so viele Jahre mit Mama, im Sog ihres Unglücks gelebt habe, dass ich jetzt, wo sie nicht mehr da ist, nicht weiß, wie ich die Zeit, die mir zum Leben bleibt, füllen soll. Dass ich sie nicht einmal vermissen kann, denn wenn ich es tue, werde ich allein sein und bei null anfangen müssen. »Dass ich sechzig Jahre alt bin, Papa. Und dass ja, dass es für vieles zu spät ist.« Ich höre ihn die Luft durch die Nase einziehen. Sein Baumwolljackett knistert, und auch der Himmel in der Ferne knistert, als ein leiser Donnerschlag wie fernes Murmeln aus ihm hervorbricht. »Heute Nacht wird es gewittern«, sagt er. »Scheint so.« Genau in dem Moment gehen die großen Laternen über der Eingangstür an, sie haben Fühler für die Dunkelheit und unsere Anwesenheit. Wenige Schritte vor mir sieht mich Papa mit schmerzerfülltem Gesicht an, das Laternenlicht legt es hinterhältig bloß. Leicht gekrümmt hat er eine Hand in die linke Seite gestützt. Als er sich dabei ertappt sieht, versucht er zu lächeln, was ihm nur halbwegs gelingt. Seine Haltung versetzt mich sofort auf den Friedhof zurück, und wieder verstehe ich ihn. »Alles in Ordnung?« Er streckt den Rücken durch und zieht eine Schnute. »Es ist nichts. Diese verfluchten Divertikel, die einfach nicht aufhören zu ...« neuerliches Verziehen des Gesichts »... nerven.« »Aber Papa, warum hast du nichts gesagt? Seit wann geht das schon?« Das mag er nicht. Er mag mich nicht besorgt sehen. »Schon, schon ... Wie schon? Diese Divertikel sind nichts weiter, mein Kind. Alterserscheinungen. In meinem Alter ist es noch das Geringste, was man haben kann.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er reibt sich weiter die Seite. »Sollen wir einen Arzt rufen?« Er schaut mich an, als hätte er gerade ein Chormädchen falsch singen gehört. »Du spinnst.« »Papa ...« »Es-ist-nichts«, murmelt er in seiner Sturheit und seiner Angst vor Ärzten, die ich gut kenne und teile. »Wenn ich mich beim Essen gehen lasse, entzünden sie sich manchmal. Ich muss mich nur ein wenig schonen. Viel Obst essen, viel Wasser trinken ... Diesen Blödsinn eben, den dir die Ärzte empfehlen, wenn sie nicht wissen, was sie mit dir machen sollen, und das wissen sie nie.« »Bist du dir sicher?« »Natürlich. Ich brauche nur ein gutes Bett. Und Schlaf, vor allem Schlaf. Du weißt ja, wie schlecht mir der Jetlag bekommt.«
Er lächelt wieder und schenkt mir ein beruhigendes Augenzwinkern. Ich beschließe, ihm zu glauben. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich einen fünfundachtzigjährigen Vater habe, der sich wie ein Zwanzigjähriger durch die Welt bewegt, mit einer Energie, die sich niemand erklären kann. Er atmet tief ein und pustet die Luft aus wie ein alter Langstreckenläufer. Dann klopft er sich mit beiden Händen auf die Brust und macht das Gesicht eines wiederhergestellten Mannes. Verónica und Lucas gehen Arm in Arm um den Teich herum. Meine Nichte ist so in den Arm ihres Bruders geschmiegt, dass ich sie nicht sehen kann. Vor zweiundzwanzig Jahren waren die Szene und die Szenerie dieselben. Wir standen hier, auf den ausgetretenen Stufen, und die beiden bildeten einen Block aus großem, isoliertem Schmerz. Verónica, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Er flüssiger, weniger körperlich. So klein die beiden unter all den Erwachsenen. Plötzlich sind in der Stille der Nacht Geräusche hinter der Haustür zu vernehmen, was uns augenblicklich ins Hier und Jetzt zurückversetzt. Papa starrt die Tür an, greift sich an die Brust und tritt einen Schritt zurück. Einen Augenblick ist es still, und er starrt weiter erwartungsvoll die Haustür an, bis die Geräusche wieder einsetzen, diesmal begleitet von Kratzen und Knurren. Kein Lidschlag von Papa. Er fasst sich automatisch an die Seite, während es hinter uns wieder donnert, diesmal näher. »Kindchen«, flüstert er, ohne mich anzusehen. Von meinem Standort aus wirkt er so weiß wie sein Anzug, obwohl das auch vom Laternenlicht kommen kann. Ich beiße mir auf die Lippe, damit er mich nicht grinsen sieht. »Das sind die Mädchen, Papa.« Die Erklärung hilft ihm nicht weiter. Jetzt starrt er mich an. Er schluckt, lehnt sich an die Säule hinter ihm und versucht, dem, was ich gesagt habe, einen Sinn zu entnehmen. »Die Mädchen?« Er hat Angst. Papa hat Angst, und im Laternenlicht wirkt er auf mich plötzlich wie ein erschrockener Greis, verloren inmitten des Verkehrs einer Stadt, die er nicht wiedererkennt und an deren Straßen er sich nicht erinnert. Er atmet schwer, er kaut die Luft. »Die Mädchen, Papa. Meine Mädchen«, beeile ich mich zu erklären, wobei ich die zwei Stufen erklimme, die mich vom Treppenabsatz trennen, und die Doppeltür kraftvoll aufdrücke. Wie drei kleine Geister, die aus einer winzigen Flasche befreit werden, kommen Fauna, Flora und Primavera herausgeschossen und hüpfen um mich herum, stellen sich auf die Hinterbeine und springen übereinander hinweg, buhlen um meine Hände und Streicheleinheiten. Ich gehe in die Hocke und lasse sie mich einen Augenblick abschlecken und zwicken, Besitz von mir ergreifen. Es ist immer so. An die Säule gelehnt, kommt Papa wieder zu sich. Keine Spur mehr von dem erschrockenen, stummen Greis, den ich vor wenigen Sekunden unter der Laterne habe stehen sehen. Er lächelt selbstgefällig. »Na so was ... Das ist also die berühmte Fauna & Company«, sagt er mit einem plötzlichen Glänzen in den Augen, das ich gut kenne. »Ja.« Er kommt nicht näher. Er beobachtet uns vier aus der Distanz. »Aha.« Jetzt hat sich Fauna auf den Rücken geworfen. Sie wird gerne in den Leisten gekrault. Flora leckt ihr übers Maul, während Primavera die Treppe hinunterläuft, hinter den Hortensien verschwindet und auf den Rasen pinkelt. »Und du sagst, das sei eine Rasse?« »Ja, Papa. Französische Bulldoggen.« »Französische?«, wiederholt er mit einem übertriebenen Ausdruck von Ekel. »So, so.« Ich lächle. Jetzt will Flora von mir gekrault werden. Sie hinter den Ohren.
»Und sie leben im Haus?« »Natürlich.« »Immer?« »Ja.« »Aha.« Wir schweigen einen Augenblick. Lucas und Verónica stehen am Teich und reden miteinander, doch ihr Gespräch dringt nicht zu uns herüber. Die drei Hündinnen hecheln aufgeregt, wenn auch schon etwas ruhiger. Fauna liegt noch immer mit hängender Zunge auf dem Rücken. Flora lässt sich kraulen. »Mein Kind ...« Beim Aufschauen sehe ich Papa steif an der Säule lehnen und Primavera anstarren, die sich in kurzer Entfernung vor ihm aufgebaut hat und mit geneigtem Kopf zu ihm hochschaut. Papa blinzelt nicht einmal. »Das ist doch nicht der Gremlin, dieser Psychopath, der Gift spuckt, oder?« Ich lache. Er nicht. Wenn er sich sehen könnte, würde er mitlachen. Wir werden es eines Tages tun, wenn dieser Abend eine gemeinsame Erinnerung ist. Bestimmt. »Sie tut dir nichts, Papa. Die drei sind sehr lieb. Sie will nur, dass du etwas zu ihr sagst.« Er starrt noch immer zu Primavera hinunter, die sich nicht vom Fleck rührt und ihn mit ihren Glubschaugen und eingeknickten Ohren vom Boden aus mustert. »Etwas?« »Ja.« »Etwas Nettes?« »Wenn möglich.« Er fasst sich ans Kinn und bückt sich, wobei er mit zusammengekniffenen Augen ein Gesicht zieht, das keinem von uns beiden neu ist. »Ich müsste lügen.«
Und ich muss mir das Lachen verkneifen und weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte. Papa hockt vor Primavera und streckt vorsichtig die Hand nach ihrem Kopf aus, berührt ihn nur vorsichtig. Dann krault er sie mechanisch und sagt: »Sie müssen große innere Schönheit besitzen, Señorita.« Woraufhin Primavera, die schüchternste und unzugänglichste der drei, die abseits frisst und abseits schläft, die Augen schließt und ein Pfötchen hebt, als wolle sie an eine Tür klopfen, die niemand von uns sieht, während sich Papa aufrichtet und mit verschränkten Armen wieder an die Säule lehnt. Da springt Primavera auf, sieht zu mir herüber und trippelt langsam, ganz langsam noch etwas näher, läuft mit kleinen, leichtfüßigen Schritten um ihn herum und lässt sich schließlich zu seinen Füßen nieder. Dann schaut sie nach oben, lässt sich auf die Seite fallen und legt mit einem heiseren Seufzen ihren Kopf auf Papas Schuh. Papa schaut ihr irritiert zu. »Was tut sie?« Zu seinen Füßen die leise seufzende Primavera. »Jetzt gehörst du ihr.« Papa lacht auf und schüttelt den Kopf. »Warum muss ich bloß immer mit der Hässlichsten tanzen?« Wir lachen, er und ich, Rodolfo und Martina, und zwischen uns überkreuzen sich jetzt Fragen, Erinnerungen und Bruchstücke der Vergangenheit, die ganze Geschichte, die uns verbindet und unser beider Leben ausmacht, die wir bis heute geteilt haben: das, was wir hier gemeinsam lebten, bis Emmas und Fernandos Tod unser Schicksal aus der Bahn warf, und das andere, das darauf folgte, als das Boot, in dem wir bis dahin segelten, zerbrach und uns auf verschiedene Flöße verteilte, auf denen jeder an sein Ufer trieb, nicht daran gewöhnt, dem Wasser so nahe zu sein, mit den Händen über seiner Tiefe zu rudern. Seither ist viel geschehen, und ich lese in Papas glänzenden Augen, dass nichts davon mir passiert ist, dass ich seit Jahren das Leben an mir vorüberziehen lasse, im Schutz der Treue meiner verwaisten Nichte und meines verwaisten Neffen und der kurzen Kette, die ich mir von Mama habe anlegen lassen. Es waren so viele Jahre allein in diesem Haus mit ihr, dass ich plötzlich bei Papas Anblick an dieser Holzsäule und Primavera zu seinen Füßen verstehe, dass dies die Wirklichkeit ist, dass seit seinem Weggang zwanzig Jahre vergangen sind, dass er zurückgekehrt ist, dass er zu Hause angekommen ist. Und es fällt mir schwer zu atmen, weil ich begreife, dass ich nach alldem nur immer wieder schlucken kann, um nicht die Leinen zu lösen und ihn wieder in der Nähe haben zu wollen, zu Hause, um ihn nicht weiter zu vermissen und noch mehr Jahre mit Sehnsucht zu verschwenden. Papa sieht mich an, und ich möchte ihm sagen, dass es mir nicht guttut, ihn hier zu haben, so nah, weil ich weiß, dass er in wenigen Stunden wieder abreist und mich zurücklässt mit dem, was meins ist, und das ist nichts. Und ich möchte ihm auch sagen, dass er jetzt gehen soll, dass er es nicht hinausschieben soll, so nicht. Nein, so nicht. »Warum bist du gekommen, Papa?« Ich bin überrascht von meiner Stimme und dem, was ich aus ihr heraushöre. Es ist keine Wut und auch kein Vorwurf. Es ist eine automatisch dahingesagte Frage, mit der ich die übertünche, die ich nicht zu stellen wage, weil ich Angst habe, das zu hören, was ich schon weiß. Ich frage »Warum bist du gekommen« und verschweige ein »Warum bleibst du nicht«, das nicht angebracht scheint, weil es wie für vieles andere schon zu spät ist. Es ist zu spät für uns. Er lächelt mich von der Säule aus an. Mit dem Mund, nicht mit den Augen. »Ich wollte deine Mädchen kennen lernen, bevor die Divertikel ihnen den Großvater nehmen.« Es funktioniert nicht. Seine Antwort funktioniert nicht. Weiter unten, auf festem Boden, kommen Lucas und Verónica jetzt
schweigend näher, sie in den Arm ihres Bruders geschmiegt. Papa sieht zu ihnen hinüber. Dann löst er sich von der Säule, zieht seinen Fuß unter Primavera hervor und kommt langsam auf mich zu. »Weil ich Angst hatte, dass ich zu spät komme«, sagt er. Da wird es Nacht über uns, und ich spüre Papas knochigen Arm um meine Taille und wie er mich an sich zieht. Und ich spüre, dass mich schon viel zu lange niemand mehr umarmt hat. Es tut mir gut. Seine Wärme tut mir gut. Und seine alte, knochige Hand auf meiner Hüfte begleitet mich jetzt zur Tür, wir beide gemeinsam an der Schwelle der Dunkelheit dieser Nacht und der riesigen Eingangshalle, deren Lichter ausgeschaltet sind. Er ist wieder zu Hause, und seine Wärme durchströmt mich wie ein langer, warmer Meeresarm.
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel El secreto de los Hoffman bei Plaza y Janés © 2008 Alejandro Palomas Vermittelt durch Sandra Bruna Agencia Literaria, SL
Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Überwetzung:» Sybille Martin«
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Autoren-Porträt von Alejandro Palomas
Alejandro Palomas, 1967 in Barcelona geboren, ist Journalist, Übersetzer und Autor mehrerer Romane. Auf Deutsch erschienen von ihm So viel Leben (Bloomsbury Berlin 2007, BvT 2009) und So viel Liebe (Bloomsbury Berlin 2008). Mit Bis hierher, bis heute wurde er Finalist des Premio de Novela Ciudad de Torrevieja 2008.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alejandro Palomas
- 2011, 2, 219 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Sybille Martin
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008727
- ISBN-13: 9783827008725
Rezension zu „Bis hierher, bis heute “
"Palomas hat ein wunderbares Buch geschrieben - poetisch und eindringlich."Cosmopolitan
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