Blasse Engel
Blasse Engel vonAnders Roslund und Börge Hellström
LESEPROBE
Eswar Abend. Siewar für diesen Tag fertig, mehr würden nicht kommen.
Lydia ginglangsam durch die Wohnung, es war angenehm dunkel, nur wenige Lampen brannten.Die Wohnung war ziemlich groß, wohl die größte, seit sie hergekommen war, vier Zimmer.
In derDiele blieb sie stehen.
Sie wusstenicht, warum, aber sie suchte etwas im Muster der Tapete, an den schmalenStrichen, die den Leerraum zwischen Boden und Decke füllten. Das machte sieoft, sie stand einfach da und vergaß alles andere, sie wusste, dass es daranlag, dass die Tapete Ähnlichkeit mit etwas hatte, das sie früher schon einmalgesehen hatte, an einer anderen Wand, in einem anderen Zimmer, vor langer Zeit.
Lydiakonnte sich so deutlich an diese Wand erinnern, an dieses Zimmer.
DieMilitärpolizei, die hereingestürzt war; ihr Vater und die anderen Männer, andie Wand gepresst; die Stimmen, die »zatknis, zatknis« schrien; und dieseltsame Stille danach.
Sie hattegewusst, dass ihr Vater schon einmal im Gefängnis gesessen hatte. Dass er zuHause eine litauische Flagge an die Wand gehängt hatte und dafür zu fünf JahrenHaft in Kaunas verurteilt worden war. Sie war noch so klein gewesen, erst ein paarJahre, aber wegen einer Flagge, sie schüttelte den Kopf, konnte es noch immernicht verstehen. Natürlich hatte er seinen Posten in der Armee danach nichtzurückerhalten, und er hatte einmal laut gefragt, das wusste sie noch ganzgenau, als der Wodka ein Ende genommen hatte und die Wangen rot waren und siein dem Zimmer mit den Strichtapeten gesessen hatten, zwischen gestohlenenWaffen, die alsbald verkauft werden sollten, da hatte er laut gefragt, was erdenn sonst machen sollte?
Wenn dieKinder vor Hunger schrien und der Staat sich weigertezu bezahlen, was zum Teufel sollte er denn dann machen?
Lydia bliebin der Diele stehen. Sie liebte die Stille, die abendliche Dunkelheit, die sielangsam umhüllte und zur Ruhe wiegte. Die schmalen Striche an der Wand reichtennach hoch oben, sie musste den Kopf ganz weit in den Nacken legen, die Wändewaren hoch, es war eine alte Wohnung. Sie dachte, dass sie einige seltene Maleallein in um einiges kleineren Wohnungen gearbeitet hatte, ansonsten waren sieimmer zu zweit gewesen, und die Männer, die im Treppenhaus standen und an dieTür klopften, konnten sich deshalb aussuchen, welche von beiden sie anfassenwollten.
Jeden Tagmussten zwölf Männer zu ihr kommen. Ab und zu auch mehr, aber niemals weniger.Dann schlug Dimitri sie und dann fiel er selbst über sie her, so oft, wie es ebenan Freiern fehlte.
Sie hattenatürlich ihr Ritual. Jeden Abend.
Sieduschte, nahm ihre Tabletten, vier Rohypnol und ein Valium mit ein wenig Wodka. Sie zog weite Kleidung an, dieüber ihren Körper hing und ihre Konturen auswischte, niemand konnte sie sehen,niemand konnte sie anfassen.
Abertrotzdem schmerzte ihr Unterleib mehr als sonst. Sie spürte, wie die Schmerzenzuschlugen. Sie wusste, warum. Zwei waren neu gewesen, und die Neuen machten esimmer zu hart. Aber sie sagte nur selten etwas, sie hatte gelernt, wie wichtiges war, dass sie zurückkamen.
Lydia hattedie schmalen Striche an der Wand jetzt satt und schaute deshalb die Wohnungstüran. Sie war schon lange nicht mehr aus dem Haus gegangen. Wie lange? Sie wusstees nicht genau, vier Monate vielleicht, das nahm sie jedenfalls an. Sie hatteeinige Male mit dem Gedanken gespielt, das Küchenfenster einzuschlagen, wie dieanderen auch ließ es sich nicht öffnen. Sie hatte das Glas zerschlagen undspringen wollen, aber sie war zu feige, sie wohnten im sechsten Stock, und siewusste nicht, was es für ein Gefühl sein würde, zu springen und zu Boden zustürzen. Sie ging auf die Tür zu, graues Metall, sie berührte sie, hart, kalt.Sie blieb stehen und schloss die Augen, hielt die Hand vor die rote Lampe, sieatmete langsam und verfluchte sich, weil sie nicht begriff, wie die beidenelektronischen Schlösser funktionierten. Sie hatte versucht, zuzusehen, wasDimitri machte, aber das war ihr nicht gelungen, er stand immer im Weg, erwusste ja, dass sie hinter ihm wartete und ihn beobachtete.
Sie verließdie Diele, ging durch das unmöblierte Zimmer, das sie aus irgendeinem Grund alsWohnzimmer bezeichneten, dann vorbei an ihrem eigenen Zimmer, sie sah das großeBett an, das sie hasste, in dem sie aber schlafen musste. Sie ging weiter, bisnach ganz hinten, zu Alenas Zimmer. Alenas Tür war geschlossen, aber Lydiawusste, dass auch Alena mit der Arbeit fertig war, sie hatte geduscht und warallein in ihrem Zimmer.
Sie klopfte.
»Ja?«
»Ich bin snur.«
»Ichversuche zu schlafen.«
»Weiß ich.Aber darf ich reinkommen?«
EinigeSekunden. Lydia wartete. Bis Alena sich entschieden hatte.
»Sicher.Komm rein.«
Alena lagnackt in dem ungemachten Bett. Ihr Körper war dunklerals Lydias, ihre langen Haare waren noch nass, es würde ihr schwerfallen,sie am nächsten Morgen auszukämmen. Sie lag oft so da, wenn alle gegangenwaren, sie starrte die Decke an, dachte daran, dass sie ihm nie gesagt hatte,dass sie fahren wollte, dass jetzt mehrere Jahre vergangen waren, dass sie das letzteMal, als sie sich umarmt hatten, noch immer spürte und dass sie sich danachsehnte, es hatte ja nur für ein paar Monate sein sollen, sie hatte doch zu ihmzurückkehren wollen, zu Janoz, sie hatten heiratenwollen, danach.
Lydia bliebstill stehen. Sie sah Alenas Nacktheit und dachte an ihren eigenen Körper, densie danach in weiten Kleidern verstecken musste. Sie sah und sie verglich undsie fragte sich, wie Alena es über sich brachte, in demselben Bett zu liegen,ohne Kleider, sie begriff, dass die andere es sozusagen andauern ließ, es nichtversteckte, es fast schon festhielt.
Alenazeigte auf das Bett, auf den Teil, der leer war.
»Setz dich.«
Lydia gingins Zimmer, es sah aus wie ihr eigenes, identisches Bett, identisches Regal,sonst nichts. Sie setzte sich auf das ungemachteBett. Wo eben noch ein Mann gelegen hatte. Sie starrte eine Weile die roteTapete an, kleine Blumen, wie aus Samt, sie wogten. Sie suchte Alenas Hand,nahm sie, drückte sie und flüsterte fast.
»Wie gehtes dir?«
»Ach, duweißt schon.«
»So wieimmer?«
»Genau so.«
Sie kannteneinander seit über drei Jahren. Sie hatten sich auf dem Boot kennengelernt. Damals hatten sie gelacht. Sie warenunterwegs gewesen. Das Wasser, das sich teilte, das tief unter ihnen weißschäumte, keine von ihnen war je auf dem Meer gewesen.
Lydia zogdie Hand ihrer Freundin an sich, drückte sie noch immer, streichelte sie mitihrer anderen, verflocht die Finger mit ihren.
»Ich weiß.Ich weiß.«
Alena lagstill da, blinzelte.
Ihr Körperhatte keine blauen Flecken, nicht so wie der Lydias, nicht auf diese Weise.
Lydia legtesich neben sie, für eine Weile teilten sie das Schweigen. Alena war wieder bei Janoz, den sie einfach verlas- senhatte, den sie in ihre Pläne nicht eingeweiht hatte, Lydia war im Lukuskeÿles-Gefängnis, zwischen Männern mit geschorenen Köpfen,die auf einer staubigen Krankenstation husteten.
Bis Alenasich plötzlich aufsetzte, ein Kissen hinter ihren Rücken stopfte, sich an dieWand zurücksinken ließ.
Sie zeigteauf den Boden, auf eine Abendzeitung, die dort lag.
»Heb dieauf.«
Lydia ließAlenas Hand los, beugte sich vor und hob die Zeitung auf.
Sie fragtenicht, woher Alena die hatte, sie konnte sich ja denken, dass ein Kunde siemitgebracht hatte, einer, der Dinge mitbrachte, der Sonderwünsche hatte, diedann auch erfüllt wurden. Lydia hatte nicht viele, die Dinge mitbrachten. Sie wollteGeld. Sie wollte Dimitri um das betrügen, was er wirklich haben wollte. Die, diemit Sonderwünschen zu ihr kamen, mussten einen zusätzlichen Hunderter bezahlen.
»Schlagauf. Seite sieben.«
Sie hattees Alena erzählt.
Jeder Kundebezahlte fünfhundert Kronen. Sie wusste, was fünfhundert Kronen mal zwölf jedenTag ergaben. Aber Dimitri behielt fast alles. Sie durften für jeden vollen Tagzweihundertfünfzig Kronen behalten. Der Rest ging für Kost und Logis und zurSchuldentilgung drauf. Anfangs hatte sie mehr verlangt, aber da hatte Dimitrisie dermaßen rangenommen, wieder und wieder, bis sieversprochen hatte, niemals mehr um Geld zu bitten. Und dann hatte siebeschlossen, ab und zu einen Hunderter mehr zu nehmen. Auf ihre Weise. Eher, umDimitri eins auszuwischen als wegen des Geldes.
Sie bekamPrügel.
Sie nahmdie Prügel auf sich.
Sie ließsie schlagen, und das kostete hundert Kronen extra. Die meisten schlugen nichthart, sie wollten nur damit anfangen, ehe sie eindrangen. Sie nahmsechshundert, Dimitri bekam seine fünfhundert und hatte keine Ahnung, dass sieeinen Hunderter für sich behielt. Sie machte das schon ziemlich lange so, siehatte sich einiges zusammengespart, und Dimitri Scheißzuhälter hatte keineAhnung.
Lydiasprach kein Schwedisch. Noch weniger las sie Schwedisch.
Sieverstand die Schlagzeile nicht und auch nicht den fett gesetzten erstenAbschnitt oder den folgenden Text. Aber sie sah das Bild. Alena hielt dieZeitung so, dass Lydia sehen konnte, und ihr Blick fiel auf das Bild, und siestieß einen Schrei aus, sie weinte und schrie und lief aus dem Zimmer und wiederhinein, sie hasste die Zeitung, die Alena in der Hand hielt.
»DiesesSchwein!«
Sie ließsich auf das Bett fallen, legte sich wieder neben den nackten Körper, weintejetzt mehr, als dass sie schrie.
»Diesesverdammte verdammte Schwein!«
Alenawartete eine Weile, es hatte jetzt keinen Sinn, etwas zu sagen, Lydia musstesich zuerst ausweinen, so, wie Alena selbst sich vorhin ausgeweint hatte.
Sie nahmihre Freundin in die Arme.
»Ich kannes dir vorlesen.«
Alenasprach Schwedisch. Lydia begriff nicht, wie sie es über sich gebracht hatte,das zu lernen.
Sie warengleich lange in diesem Land, hatten gleich viele Männer getroffen, daran lag esnicht.
Aber siehatte sich eben dafür entschieden, abzublocken. Niemals zuzuhören. Nicht dieSprache zu lernen, in der sie vergewaltigt wurde.
»Soll ich?«
Lydiawollte das nicht. Sie wollte nicht. Sie wollte nicht.
»Ja.«
Sieschmiegte sich dichter an die nackte Haut, lieh sich die Wärme der anderen.Alena war immer warm, Lydia fror zumeist. Das Bild war ziemlich uninteressant,ein Mann mittleren Alters, der an einem Haus lehnte. Er sah zufrieden aus, wie einer,der gerade gelobt worden ist. Er sah gut aus, hatte einen Schnurrbart, blonde,frisch gekämmte Haare. Alena zeigte auf ihn, auf die Überschrift. Sie las,zuerst auf Schwedisch, dann übersetzte sie ins Russische. Lydia lag still da,lauschte, wagte nicht, sich zu bewegen. Dann der Artikel, achtloshingeschrieben, in aller Eile, ein Drama, das am frühen Morgen beendet wordenwar, nur eine Stunde vor dem Drucken. Der Mann vor dem Haus, ein Polizist,hatte einen in Panik geratenen Dieb, der plötzlich fünf Geiseln genommen undsich in einer Bank verschanzt hatte, dazu gebracht, zuerst mit ihm zu sprechen,dann zurückzuweichen und dann sofort aufzugeben. Das war nicht weiterbemerkenswert. Ein Polizist, eine Art Alltag, Seite sieben; morgen durch einenanderen Polizisten und einen anderen Alltag ersetzt.
Aber erlächelte.
DerPolizist auf dem Bild lächelte, und Lydia weinte wieder vor Hass. ( )
© S.Fischer Verlag
Übersetzung:Gabriele Haefs
- Autoren: Anders Roslund , Börge Hellström
- 2007, 365 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Haefs, Gabriele
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596165679
- ISBN-13: 9783596165674
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