Blinder Passagier / Kay Scarpetta Bd.10
Ein Kay-Scarpetta-Roman
Kay Scarpetta ist noch traumatisiert von ihrem letzten Fall und dem schrecklichen Tod ihres Lebensgefährten Benton Wesley, als seltsame Vorgänge in ihrem Büro sie in die Wirklichkeit zurückholen. Jemand hat ihre E-Mail manipuliert und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blinder Passagier / Kay Scarpetta Bd.10 “
Kay Scarpetta ist noch traumatisiert von ihrem letzten Fall und dem schrecklichen Tod ihres Lebensgefährten Benton Wesley, als seltsame Vorgänge in ihrem Büro sie in die Wirklichkeit zurückholen. Jemand hat ihre E-Mail manipuliert und versucht, Scarpetta aus dem Amt zu mobben.
Kaum hat die oberste Gerichtsmedizinerin von Virginia begonnen, die Fäden wieder in die Hand zu nehmen, fordert ein Toter im Hafen von Richmond ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Spur zeigt nach Frankreich. Kurz darauf passiert ein zweiter Mord, und Scarpetta und ihr langjähriger Kollege Marino werden von höchster Stelle nach Paris beordert. Hier soll in der Leichenhalle der Schlüssel zur Identität des Mörders liegen. Je näher Scarpetta dem Zentrum des Bösen kommt, desto mehr spürt sie, dass kein anderer als sie selbst in seinem Visier steht ...
Kaum hat die oberste Gerichtsmedizinerin von Virginia begonnen, die Fäden wieder in die Hand zu nehmen, fordert ein Toter im Hafen von Richmond ihre ganze Aufmerksamkeit. Die Spur zeigt nach Frankreich. Kurz darauf passiert ein zweiter Mord, und Scarpetta und ihr langjähriger Kollege Marino werden von höchster Stelle nach Paris beordert. Hier soll in der Leichenhalle der Schlüssel zur Identität des Mörders liegen. Je näher Scarpetta dem Zentrum des Bösen kommt, desto mehr spürt sie, dass kein anderer als sie selbst in seinem Visier steht ...
Klappentext zu „Blinder Passagier / Kay Scarpetta Bd.10 “
Ein Toter im Hafen von Richmond lockt Kay Scarpetta, oberste Gerichtsmedizinerin von Virgina, auf die Fährte eines perversen Serienkillers, der sich "Der Werwolf" nennt. Um diesen zu überführen, lässt sie sich von dem attraktiven Interpol-Agenten Jay Telley zu einer lebensgefährlichen Mission überreden. Zu spät erkennt Kay Scarpetta, dass sie selbst im Fadenkreuz des Mörders steht ...
Lese-Probe zu „Blinder Passagier / Kay Scarpetta Bd.10 “
Blinder Passagier von Patricia Cornwell - BW -
6. Dezember 1996
Epworth Heights
Luddington, Michigan
Meine liebste Kay,
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ich sitze auf der Veranda und schaue hinaus auf den Lake Michigan, und ein heftiger Wind erinnert mich daran, dass ich mir die Haare schneiden lassen muss. Ich denke an das letzte Mal, als wir beide hier waren und für einen kostbaren Augenblick in der Geschichte unserer gemeinsam verbrachten Zeit vergaßen, wer und was wir sind. Kay, Du musst mir zuhören. Du liest diese Zeilen, weil ich tot bin. Als ich beschloss, diesen Brief zu schreiben, bat ich Senator Lord, ihn Dir persönlich Anfang Dezember zu übergeben, ein Jahr nach meinem Tod. Ich weiß, wie schlimm Weihnachten immer für Dich war, und jetzt muss es unerträglich sein. Mein Leben begann, als ich mich in Dich verliebte. Jetzt, da es vorbei ist, wünsche ich mir als Geschenk von Dir, dass du weiterlebst. Selbstverständlich hast Du überhaupt nichts verarbeitet, Kay. Du bist wie der Teufel an Schauplätze von Verbrechen geeilt und hast mehr Autopsien gemacht als je zuvor. Du hast Dich aufgerieben mit Auftritten vor Gericht, mit der Leitung der Rechtsmedizin und mit Vorträgen, Du hast Dich wegen Lucy gesorgt und über Marino geärgert, Du hast Deine Nachbarn gemieden und Dich vor der Nacht gefürchtet. Du hast keinen Urlaub genommen oder Dich auch nur für einen Tag krankgemeldet, sosehr Du es auch gebraucht hättest. Es ist an der Zeit, dass Du aufhörst, Deinem Schmerz auszuweichen. Lass Dich von mir trösten. Halte im Geist meine Hand und erinnere Dich an die vielen Male, die wir über den Tod geredet und nie hingenommen haben, dass eine Krankheit, ein Unfall oder eine Gewalttat die Macht besitzt, uns vollkommen auszulöschen. Unsere Körper sind nur die Hüllen, die uns umgeben. Wir sind so viel mehr als das. Kay, Du sollst wissen, dass ich mir Deiner irgendwie bewusst bin, während Du diese Zeilen liest, dass ich irgendwie auf Dich aufpasse und dass alles gut werden wird. Ich bitte Dich, dass Du eines tust, um das Leben zu feiern, das wir gemeinsam hatten und das, dessen bin ich sicher, nie enden wird. Ruf Marino und Lucy an. Lade sie heute Abend zu Dir zum Essen ein. Koch eins Deiner berühmten Gerichte für sie und halte einen Platz für mich frei.
Ich werde Dich immer lieben, Kay,
Benton
1
Der Vormittag erstrahlte in leuchtendem Blau und in den Farben des Herbstes, aber nichts davon berührte mich. Sonnenschein und Schönheit waren etwas für andere Leute, mein Leben war leer und trostlos. Ich starrte aus dem Fenster auf einen Nachbarn, der Laub zusammenrechte, und fühlte mich hilflos, gebrochen, kaputt. Bentons Worte ließen all die schrecklichen Bilder wieder auferstehen, die ich hartnäckig unterdrückte. Ich sah, wie die Lichtkegel von Taschenlampen auf verbrannte Knochen zwischen nassem Schutt und Wasser fielen. Erneut packte mich Entsetzen, als verschwommene Formen zu einem versengten Kopf ohne Gesicht und zu Büscheln rußigen silbernen Haars wurden. Ich saß an meinem Küchentisch und nippte an dem heißen Tee, den Senator Frank Lord mir gemacht hatte. Ich fühlte mich erschöpft, und mir schwindelte von der Übelkeit, die mich zweimal auf die Toilette hatte flüchten lassen. Und ich fühlte mich gedemütigt, weil ich nichts so sehr fürchtete, wie die Kontrolle über mich zu verlieren, und genau das war passiert. »Ich muss noch einmal Laub zusammenrechen«, sagte ich idiotischerweise zu meinem alten Freund. »Heute ist der 6. Dezember, und es ist wie im Oktober. Schau nur, Frank, wie groß die Eicheln sind. Ist dir das schon aufgefallen? Angeblich lässt das auf einen harten Winter schließen, aber bislang sieht es so aus, als ob wir überhaupt keinen Winter kriegen würden. Ich kann mich nicht erinnern, ob es in Washington auch Eicheln gibt.« »Bestimmt«, sagte er. »So es noch Bäume gibt.« »Sind sie groß? Die Eicheln, meine ich.« »Ich werde nachsehen, Kay.« Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er stand vom Tisch auf und kam zu mir. Senator Lord und ich waren beide in Miami aufgewachsen und in derselben Erzdiözese in die Schule gegangen. Ich war allerdings nur ein Jahr auf der St. Brendan's High School gewesen und das lange nach ihm. Aber diese weit zurückliegende Gemeinsamkeit war ein Vorbote dessen gewesen, was noch kommen sollte. Als er Staatsanwalt war, arbeitete ich für das Gerichtsmedizinische Institut von Dade County und sagte häufig in seinen Fällen vor Gericht aus. Als er zum Senator gewählt und dann zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses ernannt wurde, leitete ich die Gerichtsmedizin von Virginia, und er bat mich oft, ihn in seinem Kampf gegen das Verbrechen zu unterstützen. Als er mich gestern anrief und mir ankündigte, dass er vorbeikommen würde, um mir etwas Wichtiges zu übergeben, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Nachts schlief ich kaum. Als er die Küche betrat und den schlichten weißen Umschlag aus seiner Jackentasche nahm, war ich am Boden zerstört. Während er jetzt neben mir stand, erschien es vollkommen logisch, dass Benton ihm so sehr vertraut hatte. Er hatte gewusst, dass Senator Lord mich sehr schätzte und mich nie im Stich lassen würde. Wie typisch für Benton, dass er einen Plan gehabt hatte, von dem er wusste, dass er ausgeführt würde, auch wenn er selbst sich nicht mehr darum kümmern konnte. Wie typisch für ihn, mein Verhalten nach seinem Tod so präzise vorherzusehen. »Kay«, sagte Senator Lord, während ich heulte, »ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, und ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun. Kaum etwas ist mir je schwerer gefallen, als Benton dieses Versprechen zu geben. Ich wollte nicht glauben, dass dieser Tag kommen würde, aber heute ist es so weit, und ich bin für dich da.« Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Nie zuvor hat mich jemand gebeten, so etwas zu tun, und ich wurde um eine Menge Dinge gebeten.« »Er war nicht wie andere«, sagte ich gefasst und zwang mich, mich zu beruhigen. »Das weißt du, Frank. Gott sei Dank.« Senator Lord war eine eindrucksvolle Erscheinung, und seine Haltung zeugte von der Würde seines Amts. Er hatte dichtes graues Haar und leuchtend blaue Augen, war groß und schlank und trug - typisch für ihn - einen konservativen dunklen Anzug, eine auffällige bunte Krawatte, Manschettenknöpfe, Taschenuhr und Krawattennadel. Ich stand von meinem Stuhl auf, holte tief Luft, nahm ein paar Taschentücher aus der Schachtel, wischte mir das Gesicht ab und putzte mir die Nase. »Es war sehr nett von dir zu kommen«, sagte ich. »Was kann ich sonst noch für dich tun?«, fragte er traurig lächelnd. »Es reicht, dass du hier bist. Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Mühe es dich gekostet hat. Bei deinem Terminkalender. « »Ich gebe zu, dass ich von Florida hergeflogen hin. Übrigens, ich habe mich nach Lucy erkundigt, sie leistet Großartiges dort unten«, sagte er. Lucy, meine Nichte, arbeitete für das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, AT F. Seit kurzem war sie dem Büro in Miami zugeteilt. Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. »Weiß sie von dem Brief?«, fragte ich Senator Lord. »Nein.« Er sah aus dem Fenster auf den wunderschönen Tag. »Du wirst sie anrufen müssen. Und ich sollte noch erwähnen, dass sie sich von dir ziemlich vernachlässigt fühlt.« »Von mir?«, sagte ich überrascht. »Sie ist diejenige, die nicht zu erreichen ist. Nicht ich arbeite schließlich undercover, um Waffenhändler und dergleichen zur Strecke zu bringen. Sie kann nicht einmal anrufen, außer sie ist im Büro oder in einer Telefonzelle.« »Du bist auch nicht leicht zu erreichen. Seit Bentons Tod bist du mit dem Kopf woanders. Du wirst vermisst, und ich glaube nicht, dass dir das schon aufgefallen ist«, sagte er. »Ich kann das bestätigen. Auch ich habe Mühe, zu dir vorzudringen. « Erneut stiegen mir Tränen in die Augen. »Und wenn ich dich erwische, was sagst du dann? Alles in Ordnung. Viel zu tun. Ganz zu schweigen, dass du mich kein einziges Mal besucht hast. Früher hast du mir hin und wieder sogar eine deiner speziellen Suppen gebracht. Du hast die vernachlässigt, die dich lieben. Du hast dich selbst vernachlässigt.« Er hatte ein paarmal verstohlen auf die Uhr geblickt. Ich stand wieder auf. »Fliegst du zurück nach Florida?«, fragte ich mit zittriger Stimme. »Nein, nach Washington«, sagte er. »Ich muss bei Face the Nation auftreten. Wieder mal. Ich habe es so satt, Kay.« »Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, sagte ich. »Die Welt da draußen ist voller Schmutz, Kay. Wenn bestimmte Leute wüssten, dass ich mit dir allein in deinem Haus bin, würden sie ein paar bösartige Gerüchte in Umlauf bringen. Dessen bin ich sicher.« »Dann wärest du besser nicht gekommen.« »Nichts hätte mich davon abgehalten. Und ich sollte mich wegen Washington nicht beschweren. Du hast genug, womit du fertigwerden musst.« »Für deinen unbescholtenen Charakter lege ich jederzeit die Hand ins Feuer«, sagte ich. »Wenn es darauf ankäme, würde das nichts nützen.« Ich führte ihn durch das makellose Haus, das ich entworfen hatte, an schönen Möbeln und Kunstgegenständen und den alten medizinischen Instrumenten vorbei, die ich sammelte, über farbenfrohe Teppiche und Hartholzböden. Alles entsprach genau meinem Geschmack, und doch war alles anders als zu der Zeit, als Benton noch gelebt hatte. Ich kümmerte mich derzeit genauso wenig um mein Zuhause wie um mich selbst. Ich war zu einer herzlosen Verwalterin meines Lebens geworden, und das offenbarte sich, wohin ich auch blickte. Senator Lord ließ seinen Blick über meine offene Aktentasche auf der Couch im großen Zimmer schweifen, über die Akten, die Korrespondenz und die Zettel, die verstreut auf dem gläsernen Beistelltisch und auf dem Boden herumlagen. Sofakissen waren zerdrückt, ein schmutziger Aschenbecher stand herum, weil ich wieder angefangen hatte zu rauchen. Er machte mir keine Vorwürfe. »Kay, ist dir klar, dass ich nach diesem Besuch nur noch begrenzt Kontakt zu dir halten kann?«, sagte Senator Lord. »Wegen der Sache, die ich gerade erwähnt habe.« »O Gott, schau dir nur dieses Chaos an«, platzte ich angewidert heraus. »Ich scheine keine Ordnung mehr halten zu können.« »Es gab Gerüchte«, fuhr er vorsichtig fort. »Ich will nicht in die Details gehen. Verschleierte Drohungen.« Er klang zornig. »Nur weil wir befreundet sind.« »Und ich war so ordentlich.« Ich lachte verzweifelt auf. »Benton und ich stritten immer wegen meines Hauses, wegen meiner Scheiße. Meiner perfekt gestylten, perfekt arrangierten Scheiße.« Meine Stimme wurde lauter, als Schmerz und Wut höher aufflackerten als zuvor. »Wenn er etwas umstellte oder in die falsche Schublade legte ... So geht es einem, wenn man älter wird und immer allein gelebt hat und alles auf seine gottverdammte eigene Art gemacht hat.« »Kay, hörst du mir zu? Ich möchte nicht, dass du meinst, mir liegt nichts an dir, wenn ich mich nur selten melde, wenn ich dich nicht zum Mittagessen einlade oder bei einer Gesetzesvorlage um deinen Rat frage.« »Im Augenblick kann ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann Tony und ich geschieden wurden«, sagte ich voll Bitterkeit. »Wann? 1983? Er hat mich verlassen. Na und? Ich brauchte weder ihn noch irgendjemand anders. Ich habe mir meine Welt so erschaffen, wie ich sie wollte. Meine Karriere, meinen Besitz, meine Aktien. Und schau nur.« Ich stand noch immer im Flur und machte eine ausholende Handbewegung, die mein schönes Haus aus Stein und alles, was sich darin befand, umfasste. »Na und? Na und, verdammt noch mal?« Ich blickte Senator Lord in die Augen. »Benton könnte mitten im Haus Müll abladen! Er könnte das verdammte Ding einreißen! Ich wünschte nur, nichts davon wäre von Bedeutung gewesen, Frank.« Ich wischte die Tränen der Wut ab. »Ich wünschte, ich könnte noch einmal von vorn anfangen und würde ihn nie wegen irgendetwas kritisieren. Ich möchte ihn nur zurück. O Gott, ich möchte ihn zurück. Jeden Morgen wache ich auf, ohne daran zu denken, und dann fällt es mir wieder ein, und ich kann kaum aufstehen.« Tränen liefen mir übers Gesicht. Jeder Nerv in meinem Körper schien verrückt zu spielen. »Du hast Benton sehr glücklich gemacht«, sagte Senator Lord leise und voll Mitgefühl. »Du hast ihm mehr als alles andere bedeutet. Er hat mir erzählt, wie gut du zu ihm warst, wie gut du die Schwierigkeiten in seinem Leben verstanden hast, die entsetzlichen Dinge, die er mit ansehen musste, als er diese grauenhaften Fälle für das FBI bearbeitete. Und zuinnerst weißt du das auch.« Ich holte tief Luft und lehnte mich gegen die Tür. »Und ich bin sicher, er möchte, dass du jetzt wieder glücklich bist, ein besseres Leben führst. Und wenn du dich dagegen wehrst, dann wird sich deine Liebe für Benton Wesley als schädlich und falsch erweisen, als etwas, was dein Leben zerstört. Letztlich als Fehler. Verstehst du, was ich meine?« »Ja«, sagte ich. »Natürlich. Ich weiß genau, was er jetzt möchte. Ich weiß, was ich möchte. So möchte ich es nicht. Das ist mehr, als ich ertragen kann. Manchmal hab ich gedacht, dass ich zerbreche, einfach auseinanderfalle und irgendwo in einem Krankenhaus lande. Oder in meinem eigenen verdammten Leichenschauhaus.« »Das wirst du nicht.« Er nahm meine Hand in seine. »Wenn ich etwas von dir weiß, dann dass du standhalten wirst. Das hast du immer getan. Diese Zeit ist die schwierigste in deinem Leben, aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Das verspreche ich dir, Kay.« Ich umarmte ihn. »Danke«, flüsterte ich. »Danke, dass du gekommen bist, dass du den Brief nicht in irgendeinem Ordner hast liegen lassen, dass du ihn nicht vergessen hast, dass es dir nicht gleichgültig war.« »Du wirst mich anrufen, wenn du mich brauchst?« Es war mehr ein Befehl als eine Frage. Ich öffnete die Haustür. »Aber vergiss nicht, was ich gesagt habe, und versprich mir, dass du dich nicht vernachlässigt fühlen wirst.« »Ich verstehe.« »Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Denk dran. Mein Büro weiß immer, wo ich bin.« Ich sah dem schwarzen Lincoln nach, dann ging ich ins große Zimmer und machte ein Feuer im Kamin, obwohl es nicht so kalt war, dass man es gebraucht hätte. Aber ich sehnte mich verzweifelt nach etwas Warmem und Lebendigem, um die Leere zu füllen, die Senator Lord zurückgelassen hatte. Wieder und wieder las ich Bentons Brief und hörte in Gedanken seine Stimme. Ich stellte ihn mir mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor, die Adern an seinen kräftigen Unterarmen traten hervor, in den starken, eleganten Händen hielt er den silbernen Montblanc-Füller, den ich ihm geschenkt hatte, weil er zu Bentons Präzision und Unverfälschtheit passte. Die Tränen nahmen kein Ende, und ich hielt das Blatt mit seinen aufgedruckten Initialen hoch, damit seine Handschrift nicht verschmierte. Sein Stil und seine Ausdrucksweise waren immer zielgerichtet und knapp gewesen, und ich empfand seine Worte als Trost und als Qual, während ich sie zwanghaft analysierte und nach einem Hinweis, einer Bedeutung und einem Tonfall suchte, die ich bislang übersehen hatte. Zwischendurch glaubte ich nahezu, dass er mir auf kryptische Weise mitteilte, sein Tod sei nicht wirklich, sondern Teil einer Intrige, eines Plans gewesen, irgendetwas, was das FBI, die CIA oder sonst wer in Szene gesetzt hatte. Dann war ich wieder mit der Wahrheit konfrontiert, die es mir kalt ums Herz werden ließ. Benton war gefoltert und ermordet worden. DNA, Röntgenaufnahmen der Zähne und seine persönlichen Dinge hatten bestätigt, dass die unkenntlichen Reste er waren. Ich überlegte, wie ich seiner Bitte heute Abend Folge leisten sollte, und hielt es für undurchführbar. Es war eine lächerliche Vorstellung, dass Lucy zum Abendessen nach Richmond, Virginia, fliegen würde. Ich versuchte sie trotzdem zu erreichen, denn darum hatte Benton mich gebeten. Eine Viertelstunde später rief sie mich von ihrem Handy aus zurück. »Ich habe gehört, dass du mich sprechen willst. Was gibt's?«, fragte sie gutgelaunt. »Das ist schwer zu erklären«, begann ich. »Ich wünschte nur, dass ich mich nicht immer zuerst an dein Büro wenden müsste, wenn ich mit dir reden will.« »Ich auch.« »Und ich kann auch gar nicht viel sagen ...« Ich wurde wieder ganz aufgewühlt. »Was ist denn los?«, fragte sie mich. »Benton hat mir einen Brief geschrieben ...« »Wir reden ein andermal weiter«, unterbrach sie mich, und ich verstand, oder zumindest nahm ich das an. Handys waren nicht sicher. »Fahr rechts ran«, sagte Lucy zu jemand anders. »Tut mir leid«, sagte sie zu mir. »Wir machen einen Boxenstopp bei Los Bobos, um uns eine Colada reinzuziehen.« »Eine was?« »Viel Koffein und Zucker in einem Schnapsglas.« »Er wollte, dass ich ihn jetzt, das heißt heute lese. Er wollte, dass du ... Ach, egal. Es ist alles so albern.« Ich versuchte so zu klingen, als ginge es mir blendend. »Ich muss jetzt los«, sagte Lucy zu mir. »Kannst du später noch einmal anrufen?« »Mach ich«, sagte sie in demselben enervierenden Tonfall. »Mit wem bist du unterwegs?« Ich versuchte, das Gespräch zu verlängern, weil ich ihre Stimme brauchte und nicht mit dem Echo ihrer plötzlichen Kälte im Ohr zurückbleiben wollte. »Meiner Psycho-Partnerin«, sagte sie. »Grüße sie von mir.« »Sie lässt grüßen«, sagte Lucy zu ihrer Partnerin Jo, die bei der DEA, der Drogenfahndung, arbeitete. Sie waren beide einer Spezialeinheit zugeteilt, die zuständig war für ein Gebiet mit hohem Drogenkonsum und -schmuggel und bereits eine Reihe von überaus gefährlichen Razzien durchgeführt hatte. Jos und Lucys Beziehung war auch in anderer Hinsicht eine Partnerschaft, aber die beiden waren sehr diskret. Ich war mir nicht sicher, ob das ATF oder die DEA davon wussten. »Bis später«, sagte Lucy zu mir und legte auf.
2
Captain Pete Marino vom Richmond Police Department und ich kannten uns so lange, dass es manchmal schien, als könnten wir die Gedanken des jeweils anderen lesen. Deswegen war ich nicht wirklich überrascht, als er mich anrief, noch bevor ich Gelegenheit hatte, ihn ausfindig zu machen. »Du klingst verschnupft«, sagte er. »Hast du eine Erkältung? « »Nein. Gut, dass du anrufst. Ich wollte dich gerade anrufen. « »Tatsächlich?« Ich hörte, dass er rauchte, und vermutete ihn in seinem privaten Pick-up oder in einem Polizeiauto. In beiden befanden sich Funkgeräte und Scanner, die einen Mordslärm verursachten. »Wo bist du?«, fragte ich ihn. »Ich fahre herum und höre die Scannermeldungen«, sagte er, als hätte er das Verdeck heruntergelassen und würde den schönen Tag genießen. »Und zähle die Stunden bis zu meiner Pensionierung. Ist das Leben nicht großartig? Fehlt nur noch eine Frau in meinem Arm.« Sein Sarkasmus war schneidend. »Was ist los mit dir?«, fragte ich. »Ich nehme an, du hast von der verwesten Leiche gehört, die sie vorhin im Hafen von Richmond gefunden haben«, sagte er. »Angeblich müssen die Leute dabei kotzen. Bin bloß froh, dass mich das nichts angeht.« Mein Verstand weigerte sich zu funktionieren. Ich wusste nicht, wovon er sprach. Ich hörte, dass jemand anders versuchte, mich telefonisch zu erreichen. Ich nahm das schnurlose Telefon in die andere Hand, während ich in mein Arbeitszimmer ging und den Stuhl vor dem Schreibtisch wegzog. »Was für eine verweste Leiche?«, fragte ich ihn. »Marino, einen Augenblick. Ich hab einen Anruf auf der anderen Leitung. Bleib dran.« Ich drückte auf einen Knopf. »Scarpetta«, sagte ich. »Ich bin's, Jack«, sagte mein Stellvertreter Jack Fielding. »Im Hafen wurde in einem Frachtcontainer eine Leiche gefunden. Ziemlich stark verwest.« »Das hat Marino mir gerade erzählt«, sagte ich. »Sie klingen, als hätten Sie einen Schnupfen. Ich glaube, ich kriege auch eine Erkältung. Und Chuck kommt später, weil er sich nicht wohlfühlt. Sagt er jedenfalls.« »Wurde der Container gerade von einem Schiff entladen? «, unterbrach ich ihn. »Von der Sirius, wie der Stern. Ziemlich gruselige Angelegenheit. Wie soll ich vorgehen?« Ich begann, Notizen auf einen Block zu kritzeln, meine Handschrift noch unleserlicher als sonst, mein zentrales Nervensystem so satt wie eine kaputte Festplatte. »Ich fahre hin«, sagte ich, ohne zu zögern, während Bentons Worte noch in meinem Kopf nachklangen. Und wieder einmal startete ich durch und rannte los. Diesmal vielleicht sogar noch schneller. »Das müssen Sie nicht, Dr. Scarpetta«, sagte Fielding, als würde er plötzlich die Verantwortung übernehmen. »Ich werde hinfahren. Heute ist Ihr freier Tag.« »Wen kontaktiere ich, wenn ich dort bin?«, fragte ich. Ich wollte nicht, dass er es noch mal versuchte. Fielding bat mich seit Monaten, eine Pause einzulegen, für ein oder zwei Wochen Urlaub oder sogar ein Sabbatical zu nehmen. Ich hatte es satt, dass die Leute mich besorgt ansahen. Mich ärgerte die Unterstellung, dass Bentons Tod meine professionellen Leistungen beeinträchtigte, dass ich meine Kollegen und andere Leute mied und einen erschöpften und zerstreuten Eindruck machte. »Detective Anderson hat uns verständigt. Sie ist dort«, sagte Fielding. »Wer?« »Muss neu sein. Wirklich, Dr. Scarpetta, ich kümmere mich darum. Warum ruhen Sie sich nicht aus? Bleiben Sie zu Hause.« Mir fiel ein, dass Marino auf der anderen Leitung wartete. Ich schaltete um, um ihm zu sagen, dass ich ihn zurückrufen würde, sobald das andere Gespräch beendet wäre, aber er hatte bereits aufgelegt. »Sagen Sie mir, wie ich dorthin komme«, sagte ich zu meinem Stellvertreter. »Sie nehmen meinen Pro-bono-Rat also nicht an?« »Von meinem Haus aus nehme ich den Downtown Expressway, und dann?« Er erklärte es mir. Ich legte auf und hastete in mein Schlafzimmer, Bentons Brief in der Hand. Ich wusste nicht, wo ich ihn aufbewahren sollte. Ich konnte ihn nicht einfach in eine Schublade oder einen Aktenschrank legen. Womöglich würde ich ihn verschlampen, oder meine Zugehfrau fände ihn, ebenso wenig wollte ich ihn an einem Ort aufheben, wo ich zufällig darüber stolpern und erneut zusammenbrechen würde. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, mein Herz raste, Adrenalin schoss mir ins Blut, während ich auf den festen weißen Umschlag starrte, auf dem in Bentons bescheidener, schöner Handschrift »Kay« stand. Schließlich verfiel ich auf den kleinen feuerfesten Safe im Boden meines Kleiderschranks. Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, wo ich den Zettel mit der Zahlenkombination hingetan hatte. »Ich verliere noch den Verstand«, rief ich laut. Die Kombination war, wo ich sie immer aufbewahrte, zwischen den Seiten 670 und 671 der siebten Ausgabe von Hunter's Tropical Medicine. Ich legte den Brief in den Safe, ging ins Bad und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann rief ich Rose, meine Sekretärin, an und bat sie, in etwa eineinhalb Stunden einen Abholdienst in den Hafen von Richmond zu schicken. »Sagen Sie ihnen, dass der Leichnam in einem ziemlich erbärmlichen Zustand ist«, wies ich sie an. »Wie kommen Sie hin?«, fragte Rose. »Ich würde Ihnen ja raten, erst hierherzukommen und den Suburban zu nehmen, aber Chuck hat ihn zum Ölwechsel gebracht.« »Ich dachte, er ist krank.« »Er ist vor einer Viertelstunde aufgetaucht und hat den Suburban geholt.« »Na gut, dann nehme ich meinen eigenen Wagen. Rose, ich werde das Luma-Lite brauchen und eine Dreißig-Meter- Verlängerungsschnur. Jemand soll auf dem Parkplatz damit auf mich warten. Ich melde mich, kurz bevor ich dort bin.« »Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Jean ziemlich aus dem Häuschen ist.« »Was ist passiert?«, fragte ich überrascht. Jean Adams war die Verwaltungschefin des Leichenschauhauses und zeigte selten Gefühlsregungen, ganz zu schweigen davon, dass sie aus dem Häuschen geriet. »Offenbar ist die ganze Kaffeekasse verschwunden. Sie wissen, dass es nicht das erste Mal ist ...« »Verdammt!«, sagte ich. »Wo wurde sie aufbewahrt?« »Eingeschlossen in Jeans Schreibtischschublade, wie immer. Es sieht nicht so aus, als wäre das Schloss aufgebrochen worden, aber sie hat heute Morgen nachgeschaut, und das Geld war nicht mehr da. Einhundertelf Dollar und fünfunddreißig Cent.« »Das muss ein Ende haben«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob Sie schon das Neueste wissen«, fuhr Rose fort. »Aus dem Aufenthaltsraum verschwinden Lunchpakete. Cleta hat aus Versehen abends ihr Handy auf ihrem Schreibtisch liegen lassen, und am nächsten Morgen war es weg. Das Gleiche ist Dr. Riley passiert. Er hat einen teuren Kugelschreiber in seinem Laborkittel vergessen. Am nächsten Morgen war er nicht mehr da.« »Die Putzkolonne?« »Vielleicht«, sagte Rose. »Aber meiner Meinung nach, Dr. Scarpetta - und ich will wirklich niemanden beschuldigen -, ist es jemand aus dem Haus.« »Sie haben recht. Wir sollten niemanden beschuldigen. Gibt es auch gute Nachrichten?« »Bislang nicht«, sagte Rose sachlich. Rose arbeitete für mich, seit ich zum Chief Medical Examiner Virginias ernannt worden war, das heißt, sie hatte mein Leben nahezu während meiner gesamten Laufbahn organisiert. Sie verfügte über die bemerkenswerte Fähigkeit, praktisch alles zu erfahren, was um sie herum vorging, ohne sich darin verwickeln zu lassen. Ihr Ruf war tadellos, und obwohl das Personal ein bisschen Angst vor ihr hatte, war sie die Erste, an die man sich wandte, wenn es Schwierigkeiten gab. »Seien Sie vorsichtig, Dr. Scarpetta«, sagte sie. »Sie klingen furchtbar. Warum lassen Sie Jack nicht hinfahren und bleiben ausnahmsweise mal zu Hause?« »Ich nehme meinen Wagen«, sagte ich, als eine Woge des Schmerzes über mich hereinbrach, die auch meiner Stimme anzuhören war. Rose bemerkte es und ging mit Schweigen darüber hinweg. Ich hörte, wie sie auf ihrem Schreibtisch Papiere ordnete. Ich wusste, dass sie mich irgendwie trösten wollte, aber das hätte ich nie zugelassen. »Vergessen Sie nicht zu wechseln, bevor Sie wieder einsteigen «, sagte sie schließlich. »Was zu wechseln?« »Ihre Kleidung. Bevor Sie wieder in Ihr Auto steigen«, sagte sie, als hätte ich noch nie mit einer verwesten Leiche zu tun gehabt. »Danke, Rose«, sagte ich.
3
Ich schaltete die Alarmanlage ein und verschloss das Haus, dann machte ich Licht in der Garage und öffnete einen großen Spind aus Zedernholz mit Belüftungsschlitzen oben und unten. Darin befanden sich Wander- und hohe Gummistiefel, dicke Lederhandschuhe und ein Barbour-Mantel, dessen wasserdichte Oberfläche mich an Wachs erinnerte. Hier bewahrte ich Socken, Unterwäsche, Overalls und andere Dinge auf, die ich nie mit ins Haus nahm. Nach Gebrauch landeten sie in dem riesigen Waschbecken aus rostfreiem Stahl, in der Waschmaschine und dem Trockner, die nicht für normale Bekleidung bestimmt waren. Ich warf einen Overall, schwarze Leder-Reeboks und eine Baseballmütze mit der Aufschrift OCME (Office of Chief Medical Examiner) in den Kofferraum. Ich überprüfte den Inhalt des großen Halliburton-Aluminiumkoffers, den ich stets zu Tatorten mitnahm, und vergewisserte mich, dass genügend Latexhandschuhe, extradicke Plastiktüten und Wegwerftücher darin waren, ebenso die Kameraausrüstung und Filme. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg, Bentons Worte ließen mich noch immer nicht los. Ich versuchte, seine Stimme auszublenden, seine Augen und sein Lächeln und wie sich seine Haut anfühlte. Ich wollte ihn vergessen, und genau das war es, was mir am wenigsten gelang. Ich schaltete das Radio ein, während ich auf dem Downtown Expressway bis zur I-95 fuhr und die Skyline von Richmond in der Sonne funkelte. Ich hielt an der Lombardy Toll Plaza, als mein Autotelefon klingelte. Es war Marino. »Wollte nur sagen, dass ich auch vorbeischaue«, sagte er. Ich wechselte die Spur und schnitt beinahe einen silberfarbenen Toyota, den ich im toten Winkel des Rückspiegels nicht gesehen hatte. Der Fahrer hupte laut, überholte mich und brüllte mir Obszönitäten zu, die ich ignorierte. »Fahr zur Hölle«, rief ich ihm verärgert hinterher. »Was?«, schrie mir Marino ins Ohr. »Irgendein idiotischer Autofahrer.« »Ah, gut. Hast du schon mal was von Wutattacken im Straßenverkehr gehört, Doc?« »Ja, ich habe gerade eine.« Ich nahm die Ausfahrt an der Ninth Street und ließ Rose wissen, dass ich in zwei Minuten da wäre. Als ich auf den Parkplatz fuhr, erwartete mich Fielding mit der Ausrüstung und dem Verlängerungskabel. »Der Suburban ist noch nicht zurück?«, fragte ich. »Nein«, sagte er und verstaute die Sachen in meinem Kofferraum. »Das wird eine Begrüßung geben, wenn Sie mit dem Wagen vorfahren. Ich sehe schon die Hafenarbeiter vor mir und die gutaussehende blonde Frau in dem schwarzen Mercedes anstarren. Vielleicht sollten Sie mit meinem Wagen fahren.« Mein durchtrainierter Stellvertreter hatte gerade eine Scheidung hinter sich gebracht und das Ereignis gefeiert, indem er seinen Mustang gegen eine rote Corvette eingetauscht hatte. »Das ist eine ziemlich gute Idee«, sagte ich trocken. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Solange es sich um einen Achtzylinder handelt.« »Ja, ja, hab verstanden. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Sie wissen, wie Sie hinkommen?« »Tu ich.« Seiner Wegbeschreibung folgend fuhr ich nach Süden und war fast in Petersburg, als ich abbog und an der Rückseite der Philip-Morris-Werke entlang und über Gleise fuhr. Die schmale Straße führte mich durch unbebautes, mit Unkraut und Bäumen bewachsenes Gebiet und endete abrupt an einem Kontrollhäuschen. Ich kam mir vor, als würde ich die Grenze zu einem feindseligen Land überschreiten. Jenseits davon befanden sich ein Güterbahnhof und Hunderte waggongroßer orangefarbener Container, die in Dreier- und Viererreihen übereinandergestapelt waren. Ein Wachmann, der seinen Job sehr ernst nahm, trat aus dem Häuschen. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma'am?«, fragte er in sachlich militärischem Tonfall. »Ich bin Dr. Kay Scarpetta«, sagte ich. »Und mit wem sind Sie hier verabredet?« »Ich bin hier, weil es einen Toten gegeben hat«, erklärte ich. »Ich bin Gerichtsmedizinerin.« Ich zeigte ihm meine Papiere. Er nahm sie und studierte sie gewissenhaft. Vermutlich wusste er nicht, was ein Gerichtsmediziner ist, und wollte auch nicht nachfragen. »Sie sind also die Chefin«, sagte er und gab mir die abgewetzte schwarze Brieftasche zurück. »Die Chefin von was?« »Ich bin die Chefin der Gerichtsmedizin von Virginia«, entgegnete ich. »Die Polizei wartet auf mich.« Er ging zurück in sein Häuschen und telefonierte, während meine Ungeduld wuchs. Jedes Mal wenn ich in eine Sicherheitszone wollte, musste ich diese Prozedur über mich ergehen lassen. Früher hatte ich mein Frausein dafür verantwortlich gemacht, und damals stimmte das wahrscheinlich auch - zumindest in einigen Fällen. Mittlerweile war ich jedoch überzeugt, dass die Angst vor Terrorakten, Verbrechen und Prozessen die Erklärung war. Der Wachmann notierte eine Kurzbeschreibung meines Wagens und das Autokennzeichen. Er reichte mir ein Clipboard, auf dem ich unterschreiben musste, und einen Besucherpass. »Sehen Sie die Kiefer dort?«, sagte er und deutete mit dem Finger. »Ich sehe mehrere Kiefern.« »Die kleine schief gewachsene. Dort biegen Sie links ab und fahren zum Wasser, Ma'am«, sagte er. »Einen schönen Tag noch.« Ich fuhr weiter und kam an ein paar roten Klinkergebäuden mit Schildern der Zollbehörde und der Marine vorbei. Der Hafen selbst bestand im Wesentlichen aus riesigen Lagerhallen voller orangefarbener Container, die aufgereiht an Verladedocks standen wie Tiere an Trögen. Im James River lagen zwei Containerschiffe, die Euroclip und die Sirius, beide ungefähr doppelt so lang wie ein Footballfeld. Zig Meter hohe Kräne ragten über swimmingpoolgroßen offenen Luken auf. An Leitkegeln befestigtes gelbes Band sperrte weitläufig einen Container ab, der auf ein Chassis montiert war. Niemand befand sich in der Nähe. Außer einem zivilen blauen Chevrolet Caprice am Rand eines Docks entdeckte ich nichts, was auf Polizeipräsenz hinwies. Die Fahrerin des Wagens sprach durch das Fenster mit einem Mann in weißem Hemd und Krawatte. Nirgendwo wurde gearbeitet. Schauermänner mit Schutzhelmen und reflektierenden Westen standen gelangweilt herum, tranken Limonade oder rauchten. Ich rief mein Büro an und ließ mich mit Fielding verbinden. »Wann wurden wir von dem Fund der Leiche unterrichtet?«, fragte ich ihn. »Moment. Da muss ich nachsehen.« Papier raschelte. »Um genau zehn Uhr dreiundfünfzig.« »Und wann wurde sie gefunden?« »Anderson schien das nicht zu wissen.« »Wie zum Teufel ist es möglich, dass sie so etwas nicht weiß?« »Wie gesagt, ich glaube, sie ist neu.« »Fielding, hier ist weit und breit kein Polizist zu sehen außer ihr, ich nehme zumindest an, dass sie es ist. Was genau hat sie gesagt, als sie den Fund meldete?« »Bei Ankunft tot, verwest, wollte, dass Sie zur Fundstelle kommen.« »Sie wollte ausdrücklich, dass ich komme?« »Na ja, Sie sind immer jedermanns erste Wahl. Das ist nichts Neues. Aber sie sagte, Marino hätte ihr aufgetragen, Sie zu holen.« »Marino?«, sagte ich überrascht. »Er hat sie angewiesen, mich hierherzuzitieren?« »Ja, ich fand auch, dass das ein bisschen voreilig von ihm war.« Mir fiel ein, wie Marino gesagt hatte, er würde kurz vorbeischauen, und ich wurde noch wütender. Erst brachte er eine Anfängerin dazu, mir praktisch einen Befehl zu erteilen, und wenn er es einrichten konnte, würde er vorbeischauen und nachsehen, wie es uns ging? »Fielding, wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen? «, fragte ich. »Das ist Wochen her. Er war unglaublich mies gelaunt.« »Nicht halb so mies, wie ich es sein werde, falls er sich irgendwann doch noch entschließen sollte, hier aufzukreuzen«, versprach ich ihm. Hafenarbeiter sahen mir zu, wie ich aus meinem Wagen stieg und die Kofferraumklappe aufschnappen ließ. Ich griff nach Koffer, Overall und Schuhen und spürte ihre Blicke auf mir, während ich zum Zivilfahrzeug ging und mich mit jedem mühsamen Schritt, bei dem der schwere Koffer gegen mein Bein schlug, mehr ärgerte. Der Mann in Hemd und Krawatte schwitzte und wirkte unglücklich, als er die Hand vor die Augen hielt und zu den zwei Hubschraubern vom Fernsehen hinaufblickte, die in hundertdreißig Meter Höhe langsam über dem Hafen kreisten. »Verfluchte Reporter«, murmelte er und wandte sich dann mir zu. »Ich suche nach der Person, die für die gefundene Leiche zuständig ist«, sagte ich. »Das bin ich«, sagte eine weibliche Stimme im Caprice. Ich beugte mich vor und schaute durch das Fenster auf die junge Frau hinter dem Lenkrad. Sie war stark gebräunt, ihr braunes Haar war kurzgeschnitten und glatt nach hinten gekämmt, große Nase, kräftiges Kinn. Ihre Augen blickten hart, sie hatte eine ausgewaschene weite Jeans, schwarze lederne Schnürstiefel und ein weißes T-Shirt an. Ihre Waffe trug sie an der Hüfte, ihr Dienstabzeichen an einer Kette um den Hals. Die Klimaanlage war angeschaltet, aus dem Radio klang Softrock und übertönte die Polizeimeldungen im Scanner. »Detective Anderson, nehme ich an«, sagte ich. »Rene Anderson. Höchstpersönlich. Und Sie müssen der Doc sein, von dem ich schon so viel gehört habe«, sagte sie mit der Arroganz, die viele Leute an den Tag legen, die nicht wissen, was sie tun. »Ich bin Joe Shaw, der Hafenmeister«, stellte sich der Mann mir vor. »Sie müssen diejenige sein, derentwegen mich der Sicherheitsdienst gerade angerufen hat.« Er war ungefähr so alt wie ich, blondes Haar, helle blaue Augen und Haut, die gezeichnet war von zu vielen Jahren an der Sonne. Ich sah seinem Gesichtsausdruck an, dass er Anderson und den gesamten Tag verabscheute. »Haben Sie mir vielleicht etwas Hilfreiches mitzuteilen, bevor ich anfange?«, sagte ich laut zu Anderson, um das Gebläse und die Hubschrauber zu übertönen. »Zum Beispiel, warum keine Polizisten den Fundort absichern?« »Nicht nötig«, sagte Anderson und stieß mit dem Knie die Autotür auf. »Hier kommt ja nicht jeder einfach so rein, wie Sie selbst gemerkt haben.« Ich stellte den Aluminiumkoffer ab. Anderson trat zu mir. Ich war überrascht, wie klein sie war. »Ansonsten kann ich Ihnen nicht viel sagen«, meinte sie. »Wir wissen nicht mehr, als Sie sehen. Einen Container mit einer stinkenden Leiche drin.« »O doch, Sie können mir noch eine ganze Menge mehr sagen, Detective Anderson«, erwiderte ich. »Wie wurde die Leiche entdeckt und wann? Haben Sie sie gesehen? Hat sich ihr jemand genähert? Wurde der Fundort irgendwie kontaminiert? Und die Antwort auf die letzte Frage lautet besser nein, sonst mache ich Sie dafür verantwortlich.« Sie lachte. Ich begann, den Overall über meine Kleider zu streifen. »Niemand ist in ihre Nähe gekommen«, sagte sie. »Dafür haben sich keine Freiwilligen gemeldet.« »Man muss nicht in das Ding rein, um zu wissen, was da drin liegt«, fügte Shaw hinzu. Ich zog die schwarzen Reeboks an und setzte die Baseballmütze auf. Anderson starrte auf meinen Mercedes. »Vielleicht sollte ich auch für den Staat arbeiten«, sagte sie. Ich musterte sie von oben bis unten. »Ich schlage vor, Sie ziehen sich was über, falls Sie mit reinwollen«, sagte ich. »Ich muss ein paar Anrufe machen«, sagte sie und schlenderte davon. »Ich habe nicht vor, den Leuten zu erklären, wie sie ihre Arbeit zu machen haben«, sagte Shaw zu mir. »Aber was zum Teufel ist hier eigentlich los? Da drüben liegt eine Leiche, und die Polizei schickt so eine kleine Zicke wie die da?« Er biss die Zähne zusammen, sein Gesicht war rot und schweißbedeckt. »Wissen Sie, hier verdient man keinen Cent, wenn nichts vorwärtsgeht«, fuhr er fort. »Und seit über zweieinhalb Stunden hat hier niemand einen Finger gekrümmt.« Er bemühte sich sichtlich, in meiner Gegenwart nicht zu fluchen. »Nicht dass es mir nicht leidtut, wenn jemand ins Gras beißt«, fuhr er fort. »Aber mir wäre es lieb, wenn ihr eure Arbeit erledigt und wieder abzieht.« Er blickte noch einmal finster in den Himmel. »Und das gilt auch für die Medien.« »Mr Shaw, was wurde in dem Container verschifft?«, fragte ich ihn. »Deutsche Kamerateile. Das Siegel an der Verriegelung des Containers war nicht aufgebrochen. Deswegen scheint an der Fracht nicht manipuliert worden zu sein.« »Hat der ausländische Spediteur das Siegel angebracht?« »So ist es.« »Das heißt, dass die Person, tot oder lebendig, höchstwahrscheinlich im Container war, bevor er versiegelt wurde? « »So sieht es aus. Die Nummer entspricht der auf dem Eintrag des Zollbeamten, alles ganz normal. Die Ladung war bereits freigegeben. Vor fünf Tagen schon«, sagte Shaw. »Deswegen wurde der Container direkt auf den Anhänger verladen. Dann kam diese Duftwolke raus, und von da an war klar, dass das Ding vorerst hierbleibt.« Ich sah mich gründlich um. Ein leichter Wind schlug schwere Ketten gegen die Kräne, die aus drei Verladeluken gleichzeitig Stahlbalken aus der Euroclip gelöscht hatten, bevor alle Arbeiten gestoppt wurden. Gabelstapler und Sattelschlepper standen verlassen herum. Hafenarbeiter und Schiffsbesatzungen hatten nichts zu tun und ließen uns nicht aus den Augen. Manche standen am Bug ihres Schiffes, andere beobachteten uns durch die Fenster des Deckhauses. Die Luft über dem ölgefleckten Asphalt flirrte, Holzpaletten, Abstandhalter und Rollen lagen herum, ein Frachtzug fuhr quietschend über eine Kreuzung jenseits der Lagerhallen. Der Geruch nach Kreosot war stark, konnte jedoch nicht den Gestank verwesenden menschlichen Fleisches überdecken, der wie Rauch in der Luft hing. »Wo ist das Schiff in See gestochen?«, fragte ich Shaw, als ich einen Streifenwagen bemerkte, der neben meinem Mercedes stehen blieb. »In Antwerpen, Belgien, vor zwei Wochen«, sagte er, während er die Sirius und die Euroclip betrachtete. »Alles Schiffe unter fremder Flagge, die hier vor Anker gehen. Die einzigen amerikanischen Flaggen, die wir hier noch zu sehen bekommen, sind aus Höflichkeit gehisst worden«, fügte er mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme hinzu. Ein Mann, der auf der Steuerbordseite der Euroclip stand, beobachtete uns durch ein Fernglas. Mir erschien es seltsam, dass er, so warm wie es war, ein langärmeliges Hemd und eine lange Hose trug. Shaw blinzelte. »Verdammt, die Sonne blendet.« »Was ist mit blinden Passagieren?«, fragte ich. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand sich zwei Wochen lang auf hoher See in einem versiegelten Container versteckt.« »Ist mir noch nie untergekommen. Außerdem sind wir nicht der erste Anlaufhafen. Das war Chester, Pennsylvania. Die meisten Schiffe fahren von Antwerpen nach Chester und dann erst hierher und von hier wieder direkt zurück nach Antwerpen. Ein blinder Passagier würde höchstwahrscheinlich in Chester das Weite suchen, statt bis nach Richmond zu fahren. Wir sind ein unbedeutender Hafen, Dr. Scarpetta.« Ich sah ungläubig zu, wie Pete Marino aus dem Streifenwagen stieg, der neben meinem Mercedes parkte. »Letztes Jahr haben vielleicht einhundertzwanzig Hochseeschiffe und Lastkähne unseren Hafen angelaufen«, sagte Shaw. Marino war, seit ich ihn kannte, Detective. Ich hatte ihn noch nie in Uniform gesehen. »Wenn ich blinder Passagier wäre oder illegaler Einwanderer, würde ich versuchen, in einem wirklich großen Hafen wie Miami oder L. A. an Land zu gehen, wo ich in der Menschenmenge untertauchen könnte.« Anderson kam auf uns zu, Kaugummi kauend. »Wir erbrechen das Siegel nur und öffnen die Container, wenn wir etwas Illegales vermuten, Drogen, nichtverzollte Waren«, fuhr Shaw fort. »Hin und wieder filzen wir ein Schiff von oben bis unten, damit die Leute ehrlich bleiben. « »Gott sei Dank muss ich mich nicht mehr so anziehen«, sagte Anderson, als sich Marino uns näherte, sein Auftreten großspurig und kampflustig wie immer, wenn er unsicher und besonders schlechtgelaunt war. »Warum trägt er Uniform?«, fragte ich sie. »Er wurde neu eingeteilt.« »Das sehe ich.« »Seit Deputy Chief Bray da ist, hat es eine Menge Veränderungen im Morddezernat gegeben«, sagte Anderson, als wäre sie stolz darauf. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum man jemanden, der so unschätzbare Arbeit leistete, wieder Dienst in Uniform tun ließ. Ich fragte mich, wann das passiert war. Es kränkte mich, dass Marino mir nichts davon erzählt hatte, und ich schämte mich, dass ich es nicht selbst herausgefunden hatte. Es war Wochen, vielleicht sogar einen Monat her, seit ich zum letzten Mal mit ihm längere Zeit telefoniert hatte. Wann ich ihn zum letzten Mal zu einer Tasse Kaffee in mein Büro oder zu einem Abendessen zu mir nach Hause eingeladen hatte, wusste ich nicht mehr. »Was gibt's?«, fragte er mürrisch zur Begrüßung. Anderson würdigte er keines Blicks. »Ich bin Joe Shaw. Wie geht es Ihnen?« »Beschissen«, erwiderte Marino. »Anderson, haben Sie beschlossen, den Fall ganz allein zu bearbeiten? Oder wollen die anderen nichts mit Ihnen zu tun haben?« Sie starrte ihn zornig an, nahm den Kaugummi aus dem Mund und warf ihn weg, als hätte Marino seinen Geschmack verdorben. »Haben Sie vergessen, die Leute zu Ihrer kleinen Party einzuladen?«, fuhr er fort. »Herrgott noch mal!« Er schäumte vor Wut. »So was ist mir wirklich noch nicht untergekommen! « Ein kurzärmeliges weißes Hemd, das bis oben zugeknöpft war, und eine Ansteckkrawatte schnürten Marino die Luft ab. Sein großer Bauch kämpfte gegen eine dunkelblaue Uniformhose und einen Gürtel aus steifem Leder an, der vollbepackt war mit seiner SIG-Sauer-Pistole, Handschellen, Extramunition, Pfefferspray und dem ganzen Rest. Sein Gesicht war gerötet. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, eine dunkle Oakley-Sonnenbrille verbarg seine Augen. »Du und ich müssen miteinander reden«, sagte ich. Ich versuchte, ihn auf die Seite zu ziehen, aber er gab nicht nach. Er holte eine Marlboro aus der Schachtel, die er immer dabeihatte. »Gefällt dir mein neues Outfit?«, fragte er sarkastisch. »Deputy Chief Bray war der Meinung, ich bräuchte neue Sachen.« »Marino, Sie werden hier nicht gebraucht«, sagte Anderson zu ihm. »Vermutlich ist es Ihnen sogar lieber, wenn niemand erfährt, dass Sie überhaupt hier waren.« »Für Sie immer noch Captain.« Er stieß die Worte mit Wolken von Zigarettenrauch aus. »Sie sollten Ihre oberschlaue Zunge hüten, Babe, weil ich rangmäßig höher stehe als Sie.« Shaw verfolgte den barschen Wortwechsel, ohne einen Ton zu sagen. »Soweit ich weiß, werden weibliche Polizisten nicht mehr mit Babe angesprochen«, sagte Anderson. »Ich habe noch eine Leiche zu besichtigen«, sagte ich. »Der Weg geht durch die Lagerhalle«, sagte Shaw. »Dann los«, sagte ich. Er führte mich und Marino zu einer Tür, die auf den Fluss hinausging. Die Halle war ein riesiger, schlecht beleuchteter, stickiger Raum, in dem es süß nach Tabak roch. Tausende von Ballen lagen in Sackleinen gewickelt auf hölzernen Paletten, Tonnen von Eisenerz und quarzhaltigem Sand standen herum, vermutlich für die Erzeugung von Stahl, sowie Maschinenteile, die nach den Stempeln auf den Kisten für Trinidad bestimmt waren. Ein paar Buchten weiter stand der Container an einem Verladedock. Je näher wir kamen, desto stärker wurde der Geruch. Vor der mit gelbem Band abgesperrten, offenen Containertür blieben wir stehen. Der Gestank war unerträglich und durchdrang alles, als wäre jedes Sauerstoffmolekül damit ersetzt worden, und ich zwang meine Sinne, sich jeglicher Meinung zu enthalten. Fliegen hatten sich eingefunden, und ihr unheilvolles Summen erinnerte mich an ein ferngesteuertes Spielzeugflugzeug. »Waren die Fliegen schon da, als der Container geöffnet wurde?«, fragte ich Shaw. »Nicht so wie jetzt«, sagte er. »Wie nahe waren Sie denn dran?«, fragte ich, als Marino und Anderson zu uns aufschlossen. »Nah genug«, sagte Shaw. »Niemand ist reingegangen?« Ich wollte sicher sein. »Das garantiere ich Ihnen, Ma'am.« Er hielt den Gestank kaum mehr aus. Marino schien völlig unbeeindruckt. Er nahm eine weitere Zigarette und brummte etwas vor sich hin, als er sie anzündete. »Also, Anderson«, sagte er. »Das könnte irgendein Vieh sein, Sie haben ja nicht nachgeschaut. Womöglich ein großer Hund, der versehentlich eingeschlossen wurde. Wär 'ne Schande, wenn Sie den Doc herbeordert und die Medien in Aufregung versetzt hätten und jetzt herausfinden, dass da drin ein armer alter Hafenköter verfault.« Er und ich, wir wussten beide, dass in dem Container weder ein Hund noch ein Schwein oder ein Pferd oder irgendein anderes Tier war. Ich öffnete meinen Koffer, während Marino und Anderson weiter aufeinander einhackten, warf meinen Autoschlüssel hinein und zog mehrere Paare Handschuhe und eine OP-Maske an. Dann brachte ich an meiner Nikon einen Blitz und ein 28-Millimeter-Objektiv an, legte einen 400-Asa-Film ein, damit die Fotos nicht zu körnig würden, und zog sterile Überschuhe über die Reeboks. »Wenn es mitten im Juli aus einem verschlossenen Haus stinkt, machen wir's auch so. Wir schauen durchs Fenster. Brechen wenn nötig ein. Vergewissern uns, dass es sich wirklich um einen menschlichen Kadaver handelt, bevor wir den Gerichtsmediziner rufen«, fuhr Marino fort, seinen neuen Schützling zu unterweisen. Ich duckte mich unter dem gelben Band hindurch und betrat den dunklen Container, in dem erfreulicherweise genug Platz war, um sich frei bewegen zu können, da die ordentlich gestapelten weißen Kartons nur ungefähr die Hälfte der Fläche einnahmen. Ich folgte dem Schein meiner Taschenlampe tiefer hinein und schwenkte sie dabei von einer Seite zur anderen. Ziemlich weit hinten fiel der Lichtkegel auf eine Reihe von Kartons, die vollgesogen waren mit dem rötlichen Sekret, das verwesenden Leichen aus Nase und Mund läuft. Er folgte Schuhen und Unterschenkeln, und dann sprang ein aufgedunsenes bärtiges Gesicht aus der Dunkelheit. Aus den Höhlen getretene milchige Augen starrten mich an, die Zunge war so geschwollen, dass sie aus dem Mund herausragte, als wollte mich der tote Mann verspotten. Meine Schuhe gaben, wo immer ich hintrat, ein saugendes Geräusch von sich. Die Leiche war voll bekleidet und saß in der Ecke, an zwei Seiten von den stählernen Wänden des Containers gestützt. Die Beine waren ausgestreckt, die Hände lagen im Schoß unter einem Karton, der offensichtlich heruntergefallen war. Ich stellte ihn weg und suchte nach Verletzungen, nach Abschürfungen und abgebrochenen Nägeln, die nahelegen würden, dass er versucht hatte, sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Ich entdeckte keine Blutflecken auf seiner Kleidung, keine augenscheinlichen Verletzungen, die darauf schließen ließen, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich sah mich nach Lebensmitteln oder Wasser um, nach irgendwelchen Vorräten oder Belüftungslöchern in den Containerwänden, und fand nichts. Ich suchte zwischen allen Kartonreihen, ging in die Hocke, um den stählernen Boden auf Fußspuren zu überprüfen. Die natürlich überall waren. Ich arbeitete mich zentimeterweise voran, meine Knie schmerzten unerträglich. Ich fand einen leeren Papierkorb aus Plastik. Dann zwei Silbermünzen. Ich beugte mich vor. Die eine war eine Deutsche Mark. Die andere kannte ich nicht. Ich ließ alles unberührt. Marino, der an der Containertür stand, schien eine Meile weit weg. »Mein Autoschlüssel ist in meinem Koffer«, rief ich ihm durch die OP-Maske zu. »Ja?«, sagte er und schaute herein. »Kannst du mir das Luma-Lite holen? Ich brauche das faseroptische Zusatzgerät und das Verlängerungskabel. Vielleicht kann Mr Shaw dir zeigen, wo du es einstecken kannst. Es muss eine geerdete Steckdose sein. Und ich brauche einen Adapter.« »Ich liebe es, wenn du versaut redest«, sagte er.
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ich sitze auf der Veranda und schaue hinaus auf den Lake Michigan, und ein heftiger Wind erinnert mich daran, dass ich mir die Haare schneiden lassen muss. Ich denke an das letzte Mal, als wir beide hier waren und für einen kostbaren Augenblick in der Geschichte unserer gemeinsam verbrachten Zeit vergaßen, wer und was wir sind. Kay, Du musst mir zuhören. Du liest diese Zeilen, weil ich tot bin. Als ich beschloss, diesen Brief zu schreiben, bat ich Senator Lord, ihn Dir persönlich Anfang Dezember zu übergeben, ein Jahr nach meinem Tod. Ich weiß, wie schlimm Weihnachten immer für Dich war, und jetzt muss es unerträglich sein. Mein Leben begann, als ich mich in Dich verliebte. Jetzt, da es vorbei ist, wünsche ich mir als Geschenk von Dir, dass du weiterlebst. Selbstverständlich hast Du überhaupt nichts verarbeitet, Kay. Du bist wie der Teufel an Schauplätze von Verbrechen geeilt und hast mehr Autopsien gemacht als je zuvor. Du hast Dich aufgerieben mit Auftritten vor Gericht, mit der Leitung der Rechtsmedizin und mit Vorträgen, Du hast Dich wegen Lucy gesorgt und über Marino geärgert, Du hast Deine Nachbarn gemieden und Dich vor der Nacht gefürchtet. Du hast keinen Urlaub genommen oder Dich auch nur für einen Tag krankgemeldet, sosehr Du es auch gebraucht hättest. Es ist an der Zeit, dass Du aufhörst, Deinem Schmerz auszuweichen. Lass Dich von mir trösten. Halte im Geist meine Hand und erinnere Dich an die vielen Male, die wir über den Tod geredet und nie hingenommen haben, dass eine Krankheit, ein Unfall oder eine Gewalttat die Macht besitzt, uns vollkommen auszulöschen. Unsere Körper sind nur die Hüllen, die uns umgeben. Wir sind so viel mehr als das. Kay, Du sollst wissen, dass ich mir Deiner irgendwie bewusst bin, während Du diese Zeilen liest, dass ich irgendwie auf Dich aufpasse und dass alles gut werden wird. Ich bitte Dich, dass Du eines tust, um das Leben zu feiern, das wir gemeinsam hatten und das, dessen bin ich sicher, nie enden wird. Ruf Marino und Lucy an. Lade sie heute Abend zu Dir zum Essen ein. Koch eins Deiner berühmten Gerichte für sie und halte einen Platz für mich frei.
Ich werde Dich immer lieben, Kay,
Benton
1
Der Vormittag erstrahlte in leuchtendem Blau und in den Farben des Herbstes, aber nichts davon berührte mich. Sonnenschein und Schönheit waren etwas für andere Leute, mein Leben war leer und trostlos. Ich starrte aus dem Fenster auf einen Nachbarn, der Laub zusammenrechte, und fühlte mich hilflos, gebrochen, kaputt. Bentons Worte ließen all die schrecklichen Bilder wieder auferstehen, die ich hartnäckig unterdrückte. Ich sah, wie die Lichtkegel von Taschenlampen auf verbrannte Knochen zwischen nassem Schutt und Wasser fielen. Erneut packte mich Entsetzen, als verschwommene Formen zu einem versengten Kopf ohne Gesicht und zu Büscheln rußigen silbernen Haars wurden. Ich saß an meinem Küchentisch und nippte an dem heißen Tee, den Senator Frank Lord mir gemacht hatte. Ich fühlte mich erschöpft, und mir schwindelte von der Übelkeit, die mich zweimal auf die Toilette hatte flüchten lassen. Und ich fühlte mich gedemütigt, weil ich nichts so sehr fürchtete, wie die Kontrolle über mich zu verlieren, und genau das war passiert. »Ich muss noch einmal Laub zusammenrechen«, sagte ich idiotischerweise zu meinem alten Freund. »Heute ist der 6. Dezember, und es ist wie im Oktober. Schau nur, Frank, wie groß die Eicheln sind. Ist dir das schon aufgefallen? Angeblich lässt das auf einen harten Winter schließen, aber bislang sieht es so aus, als ob wir überhaupt keinen Winter kriegen würden. Ich kann mich nicht erinnern, ob es in Washington auch Eicheln gibt.« »Bestimmt«, sagte er. »So es noch Bäume gibt.« »Sind sie groß? Die Eicheln, meine ich.« »Ich werde nachsehen, Kay.« Ich schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Er stand vom Tisch auf und kam zu mir. Senator Lord und ich waren beide in Miami aufgewachsen und in derselben Erzdiözese in die Schule gegangen. Ich war allerdings nur ein Jahr auf der St. Brendan's High School gewesen und das lange nach ihm. Aber diese weit zurückliegende Gemeinsamkeit war ein Vorbote dessen gewesen, was noch kommen sollte. Als er Staatsanwalt war, arbeitete ich für das Gerichtsmedizinische Institut von Dade County und sagte häufig in seinen Fällen vor Gericht aus. Als er zum Senator gewählt und dann zum Vorsitzenden des Rechtsausschusses ernannt wurde, leitete ich die Gerichtsmedizin von Virginia, und er bat mich oft, ihn in seinem Kampf gegen das Verbrechen zu unterstützen. Als er mich gestern anrief und mir ankündigte, dass er vorbeikommen würde, um mir etwas Wichtiges zu übergeben, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Nachts schlief ich kaum. Als er die Küche betrat und den schlichten weißen Umschlag aus seiner Jackentasche nahm, war ich am Boden zerstört. Während er jetzt neben mir stand, erschien es vollkommen logisch, dass Benton ihm so sehr vertraut hatte. Er hatte gewusst, dass Senator Lord mich sehr schätzte und mich nie im Stich lassen würde. Wie typisch für Benton, dass er einen Plan gehabt hatte, von dem er wusste, dass er ausgeführt würde, auch wenn er selbst sich nicht mehr darum kümmern konnte. Wie typisch für ihn, mein Verhalten nach seinem Tod so präzise vorherzusehen. »Kay«, sagte Senator Lord, während ich heulte, »ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, und ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun. Kaum etwas ist mir je schwerer gefallen, als Benton dieses Versprechen zu geben. Ich wollte nicht glauben, dass dieser Tag kommen würde, aber heute ist es so weit, und ich bin für dich da.« Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Nie zuvor hat mich jemand gebeten, so etwas zu tun, und ich wurde um eine Menge Dinge gebeten.« »Er war nicht wie andere«, sagte ich gefasst und zwang mich, mich zu beruhigen. »Das weißt du, Frank. Gott sei Dank.« Senator Lord war eine eindrucksvolle Erscheinung, und seine Haltung zeugte von der Würde seines Amts. Er hatte dichtes graues Haar und leuchtend blaue Augen, war groß und schlank und trug - typisch für ihn - einen konservativen dunklen Anzug, eine auffällige bunte Krawatte, Manschettenknöpfe, Taschenuhr und Krawattennadel. Ich stand von meinem Stuhl auf, holte tief Luft, nahm ein paar Taschentücher aus der Schachtel, wischte mir das Gesicht ab und putzte mir die Nase. »Es war sehr nett von dir zu kommen«, sagte ich. »Was kann ich sonst noch für dich tun?«, fragte er traurig lächelnd. »Es reicht, dass du hier bist. Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Mühe es dich gekostet hat. Bei deinem Terminkalender. « »Ich gebe zu, dass ich von Florida hergeflogen hin. Übrigens, ich habe mich nach Lucy erkundigt, sie leistet Großartiges dort unten«, sagte er. Lucy, meine Nichte, arbeitete für das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, AT F. Seit kurzem war sie dem Büro in Miami zugeteilt. Ich hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. »Weiß sie von dem Brief?«, fragte ich Senator Lord. »Nein.« Er sah aus dem Fenster auf den wunderschönen Tag. »Du wirst sie anrufen müssen. Und ich sollte noch erwähnen, dass sie sich von dir ziemlich vernachlässigt fühlt.« »Von mir?«, sagte ich überrascht. »Sie ist diejenige, die nicht zu erreichen ist. Nicht ich arbeite schließlich undercover, um Waffenhändler und dergleichen zur Strecke zu bringen. Sie kann nicht einmal anrufen, außer sie ist im Büro oder in einer Telefonzelle.« »Du bist auch nicht leicht zu erreichen. Seit Bentons Tod bist du mit dem Kopf woanders. Du wirst vermisst, und ich glaube nicht, dass dir das schon aufgefallen ist«, sagte er. »Ich kann das bestätigen. Auch ich habe Mühe, zu dir vorzudringen. « Erneut stiegen mir Tränen in die Augen. »Und wenn ich dich erwische, was sagst du dann? Alles in Ordnung. Viel zu tun. Ganz zu schweigen, dass du mich kein einziges Mal besucht hast. Früher hast du mir hin und wieder sogar eine deiner speziellen Suppen gebracht. Du hast die vernachlässigt, die dich lieben. Du hast dich selbst vernachlässigt.« Er hatte ein paarmal verstohlen auf die Uhr geblickt. Ich stand wieder auf. »Fliegst du zurück nach Florida?«, fragte ich mit zittriger Stimme. »Nein, nach Washington«, sagte er. »Ich muss bei Face the Nation auftreten. Wieder mal. Ich habe es so satt, Kay.« »Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, sagte ich. »Die Welt da draußen ist voller Schmutz, Kay. Wenn bestimmte Leute wüssten, dass ich mit dir allein in deinem Haus bin, würden sie ein paar bösartige Gerüchte in Umlauf bringen. Dessen bin ich sicher.« »Dann wärest du besser nicht gekommen.« »Nichts hätte mich davon abgehalten. Und ich sollte mich wegen Washington nicht beschweren. Du hast genug, womit du fertigwerden musst.« »Für deinen unbescholtenen Charakter lege ich jederzeit die Hand ins Feuer«, sagte ich. »Wenn es darauf ankäme, würde das nichts nützen.« Ich führte ihn durch das makellose Haus, das ich entworfen hatte, an schönen Möbeln und Kunstgegenständen und den alten medizinischen Instrumenten vorbei, die ich sammelte, über farbenfrohe Teppiche und Hartholzböden. Alles entsprach genau meinem Geschmack, und doch war alles anders als zu der Zeit, als Benton noch gelebt hatte. Ich kümmerte mich derzeit genauso wenig um mein Zuhause wie um mich selbst. Ich war zu einer herzlosen Verwalterin meines Lebens geworden, und das offenbarte sich, wohin ich auch blickte. Senator Lord ließ seinen Blick über meine offene Aktentasche auf der Couch im großen Zimmer schweifen, über die Akten, die Korrespondenz und die Zettel, die verstreut auf dem gläsernen Beistelltisch und auf dem Boden herumlagen. Sofakissen waren zerdrückt, ein schmutziger Aschenbecher stand herum, weil ich wieder angefangen hatte zu rauchen. Er machte mir keine Vorwürfe. »Kay, ist dir klar, dass ich nach diesem Besuch nur noch begrenzt Kontakt zu dir halten kann?«, sagte Senator Lord. »Wegen der Sache, die ich gerade erwähnt habe.« »O Gott, schau dir nur dieses Chaos an«, platzte ich angewidert heraus. »Ich scheine keine Ordnung mehr halten zu können.« »Es gab Gerüchte«, fuhr er vorsichtig fort. »Ich will nicht in die Details gehen. Verschleierte Drohungen.« Er klang zornig. »Nur weil wir befreundet sind.« »Und ich war so ordentlich.« Ich lachte verzweifelt auf. »Benton und ich stritten immer wegen meines Hauses, wegen meiner Scheiße. Meiner perfekt gestylten, perfekt arrangierten Scheiße.« Meine Stimme wurde lauter, als Schmerz und Wut höher aufflackerten als zuvor. »Wenn er etwas umstellte oder in die falsche Schublade legte ... So geht es einem, wenn man älter wird und immer allein gelebt hat und alles auf seine gottverdammte eigene Art gemacht hat.« »Kay, hörst du mir zu? Ich möchte nicht, dass du meinst, mir liegt nichts an dir, wenn ich mich nur selten melde, wenn ich dich nicht zum Mittagessen einlade oder bei einer Gesetzesvorlage um deinen Rat frage.« »Im Augenblick kann ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann Tony und ich geschieden wurden«, sagte ich voll Bitterkeit. »Wann? 1983? Er hat mich verlassen. Na und? Ich brauchte weder ihn noch irgendjemand anders. Ich habe mir meine Welt so erschaffen, wie ich sie wollte. Meine Karriere, meinen Besitz, meine Aktien. Und schau nur.« Ich stand noch immer im Flur und machte eine ausholende Handbewegung, die mein schönes Haus aus Stein und alles, was sich darin befand, umfasste. »Na und? Na und, verdammt noch mal?« Ich blickte Senator Lord in die Augen. »Benton könnte mitten im Haus Müll abladen! Er könnte das verdammte Ding einreißen! Ich wünschte nur, nichts davon wäre von Bedeutung gewesen, Frank.« Ich wischte die Tränen der Wut ab. »Ich wünschte, ich könnte noch einmal von vorn anfangen und würde ihn nie wegen irgendetwas kritisieren. Ich möchte ihn nur zurück. O Gott, ich möchte ihn zurück. Jeden Morgen wache ich auf, ohne daran zu denken, und dann fällt es mir wieder ein, und ich kann kaum aufstehen.« Tränen liefen mir übers Gesicht. Jeder Nerv in meinem Körper schien verrückt zu spielen. »Du hast Benton sehr glücklich gemacht«, sagte Senator Lord leise und voll Mitgefühl. »Du hast ihm mehr als alles andere bedeutet. Er hat mir erzählt, wie gut du zu ihm warst, wie gut du die Schwierigkeiten in seinem Leben verstanden hast, die entsetzlichen Dinge, die er mit ansehen musste, als er diese grauenhaften Fälle für das FBI bearbeitete. Und zuinnerst weißt du das auch.« Ich holte tief Luft und lehnte mich gegen die Tür. »Und ich bin sicher, er möchte, dass du jetzt wieder glücklich bist, ein besseres Leben führst. Und wenn du dich dagegen wehrst, dann wird sich deine Liebe für Benton Wesley als schädlich und falsch erweisen, als etwas, was dein Leben zerstört. Letztlich als Fehler. Verstehst du, was ich meine?« »Ja«, sagte ich. »Natürlich. Ich weiß genau, was er jetzt möchte. Ich weiß, was ich möchte. So möchte ich es nicht. Das ist mehr, als ich ertragen kann. Manchmal hab ich gedacht, dass ich zerbreche, einfach auseinanderfalle und irgendwo in einem Krankenhaus lande. Oder in meinem eigenen verdammten Leichenschauhaus.« »Das wirst du nicht.« Er nahm meine Hand in seine. »Wenn ich etwas von dir weiß, dann dass du standhalten wirst. Das hast du immer getan. Diese Zeit ist die schwierigste in deinem Leben, aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Das verspreche ich dir, Kay.« Ich umarmte ihn. »Danke«, flüsterte ich. »Danke, dass du gekommen bist, dass du den Brief nicht in irgendeinem Ordner hast liegen lassen, dass du ihn nicht vergessen hast, dass es dir nicht gleichgültig war.« »Du wirst mich anrufen, wenn du mich brauchst?« Es war mehr ein Befehl als eine Frage. Ich öffnete die Haustür. »Aber vergiss nicht, was ich gesagt habe, und versprich mir, dass du dich nicht vernachlässigt fühlen wirst.« »Ich verstehe.« »Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Denk dran. Mein Büro weiß immer, wo ich bin.« Ich sah dem schwarzen Lincoln nach, dann ging ich ins große Zimmer und machte ein Feuer im Kamin, obwohl es nicht so kalt war, dass man es gebraucht hätte. Aber ich sehnte mich verzweifelt nach etwas Warmem und Lebendigem, um die Leere zu füllen, die Senator Lord zurückgelassen hatte. Wieder und wieder las ich Bentons Brief und hörte in Gedanken seine Stimme. Ich stellte ihn mir mit hochgekrempelten Hemdsärmeln vor, die Adern an seinen kräftigen Unterarmen traten hervor, in den starken, eleganten Händen hielt er den silbernen Montblanc-Füller, den ich ihm geschenkt hatte, weil er zu Bentons Präzision und Unverfälschtheit passte. Die Tränen nahmen kein Ende, und ich hielt das Blatt mit seinen aufgedruckten Initialen hoch, damit seine Handschrift nicht verschmierte. Sein Stil und seine Ausdrucksweise waren immer zielgerichtet und knapp gewesen, und ich empfand seine Worte als Trost und als Qual, während ich sie zwanghaft analysierte und nach einem Hinweis, einer Bedeutung und einem Tonfall suchte, die ich bislang übersehen hatte. Zwischendurch glaubte ich nahezu, dass er mir auf kryptische Weise mitteilte, sein Tod sei nicht wirklich, sondern Teil einer Intrige, eines Plans gewesen, irgendetwas, was das FBI, die CIA oder sonst wer in Szene gesetzt hatte. Dann war ich wieder mit der Wahrheit konfrontiert, die es mir kalt ums Herz werden ließ. Benton war gefoltert und ermordet worden. DNA, Röntgenaufnahmen der Zähne und seine persönlichen Dinge hatten bestätigt, dass die unkenntlichen Reste er waren. Ich überlegte, wie ich seiner Bitte heute Abend Folge leisten sollte, und hielt es für undurchführbar. Es war eine lächerliche Vorstellung, dass Lucy zum Abendessen nach Richmond, Virginia, fliegen würde. Ich versuchte sie trotzdem zu erreichen, denn darum hatte Benton mich gebeten. Eine Viertelstunde später rief sie mich von ihrem Handy aus zurück. »Ich habe gehört, dass du mich sprechen willst. Was gibt's?«, fragte sie gutgelaunt. »Das ist schwer zu erklären«, begann ich. »Ich wünschte nur, dass ich mich nicht immer zuerst an dein Büro wenden müsste, wenn ich mit dir reden will.« »Ich auch.« »Und ich kann auch gar nicht viel sagen ...« Ich wurde wieder ganz aufgewühlt. »Was ist denn los?«, fragte sie mich. »Benton hat mir einen Brief geschrieben ...« »Wir reden ein andermal weiter«, unterbrach sie mich, und ich verstand, oder zumindest nahm ich das an. Handys waren nicht sicher. »Fahr rechts ran«, sagte Lucy zu jemand anders. »Tut mir leid«, sagte sie zu mir. »Wir machen einen Boxenstopp bei Los Bobos, um uns eine Colada reinzuziehen.« »Eine was?« »Viel Koffein und Zucker in einem Schnapsglas.« »Er wollte, dass ich ihn jetzt, das heißt heute lese. Er wollte, dass du ... Ach, egal. Es ist alles so albern.« Ich versuchte so zu klingen, als ginge es mir blendend. »Ich muss jetzt los«, sagte Lucy zu mir. »Kannst du später noch einmal anrufen?« »Mach ich«, sagte sie in demselben enervierenden Tonfall. »Mit wem bist du unterwegs?« Ich versuchte, das Gespräch zu verlängern, weil ich ihre Stimme brauchte und nicht mit dem Echo ihrer plötzlichen Kälte im Ohr zurückbleiben wollte. »Meiner Psycho-Partnerin«, sagte sie. »Grüße sie von mir.« »Sie lässt grüßen«, sagte Lucy zu ihrer Partnerin Jo, die bei der DEA, der Drogenfahndung, arbeitete. Sie waren beide einer Spezialeinheit zugeteilt, die zuständig war für ein Gebiet mit hohem Drogenkonsum und -schmuggel und bereits eine Reihe von überaus gefährlichen Razzien durchgeführt hatte. Jos und Lucys Beziehung war auch in anderer Hinsicht eine Partnerschaft, aber die beiden waren sehr diskret. Ich war mir nicht sicher, ob das ATF oder die DEA davon wussten. »Bis später«, sagte Lucy zu mir und legte auf.
2
Captain Pete Marino vom Richmond Police Department und ich kannten uns so lange, dass es manchmal schien, als könnten wir die Gedanken des jeweils anderen lesen. Deswegen war ich nicht wirklich überrascht, als er mich anrief, noch bevor ich Gelegenheit hatte, ihn ausfindig zu machen. »Du klingst verschnupft«, sagte er. »Hast du eine Erkältung? « »Nein. Gut, dass du anrufst. Ich wollte dich gerade anrufen. « »Tatsächlich?« Ich hörte, dass er rauchte, und vermutete ihn in seinem privaten Pick-up oder in einem Polizeiauto. In beiden befanden sich Funkgeräte und Scanner, die einen Mordslärm verursachten. »Wo bist du?«, fragte ich ihn. »Ich fahre herum und höre die Scannermeldungen«, sagte er, als hätte er das Verdeck heruntergelassen und würde den schönen Tag genießen. »Und zähle die Stunden bis zu meiner Pensionierung. Ist das Leben nicht großartig? Fehlt nur noch eine Frau in meinem Arm.« Sein Sarkasmus war schneidend. »Was ist los mit dir?«, fragte ich. »Ich nehme an, du hast von der verwesten Leiche gehört, die sie vorhin im Hafen von Richmond gefunden haben«, sagte er. »Angeblich müssen die Leute dabei kotzen. Bin bloß froh, dass mich das nichts angeht.« Mein Verstand weigerte sich zu funktionieren. Ich wusste nicht, wovon er sprach. Ich hörte, dass jemand anders versuchte, mich telefonisch zu erreichen. Ich nahm das schnurlose Telefon in die andere Hand, während ich in mein Arbeitszimmer ging und den Stuhl vor dem Schreibtisch wegzog. »Was für eine verweste Leiche?«, fragte ich ihn. »Marino, einen Augenblick. Ich hab einen Anruf auf der anderen Leitung. Bleib dran.« Ich drückte auf einen Knopf. »Scarpetta«, sagte ich. »Ich bin's, Jack«, sagte mein Stellvertreter Jack Fielding. »Im Hafen wurde in einem Frachtcontainer eine Leiche gefunden. Ziemlich stark verwest.« »Das hat Marino mir gerade erzählt«, sagte ich. »Sie klingen, als hätten Sie einen Schnupfen. Ich glaube, ich kriege auch eine Erkältung. Und Chuck kommt später, weil er sich nicht wohlfühlt. Sagt er jedenfalls.« »Wurde der Container gerade von einem Schiff entladen? «, unterbrach ich ihn. »Von der Sirius, wie der Stern. Ziemlich gruselige Angelegenheit. Wie soll ich vorgehen?« Ich begann, Notizen auf einen Block zu kritzeln, meine Handschrift noch unleserlicher als sonst, mein zentrales Nervensystem so satt wie eine kaputte Festplatte. »Ich fahre hin«, sagte ich, ohne zu zögern, während Bentons Worte noch in meinem Kopf nachklangen. Und wieder einmal startete ich durch und rannte los. Diesmal vielleicht sogar noch schneller. »Das müssen Sie nicht, Dr. Scarpetta«, sagte Fielding, als würde er plötzlich die Verantwortung übernehmen. »Ich werde hinfahren. Heute ist Ihr freier Tag.« »Wen kontaktiere ich, wenn ich dort bin?«, fragte ich. Ich wollte nicht, dass er es noch mal versuchte. Fielding bat mich seit Monaten, eine Pause einzulegen, für ein oder zwei Wochen Urlaub oder sogar ein Sabbatical zu nehmen. Ich hatte es satt, dass die Leute mich besorgt ansahen. Mich ärgerte die Unterstellung, dass Bentons Tod meine professionellen Leistungen beeinträchtigte, dass ich meine Kollegen und andere Leute mied und einen erschöpften und zerstreuten Eindruck machte. »Detective Anderson hat uns verständigt. Sie ist dort«, sagte Fielding. »Wer?« »Muss neu sein. Wirklich, Dr. Scarpetta, ich kümmere mich darum. Warum ruhen Sie sich nicht aus? Bleiben Sie zu Hause.« Mir fiel ein, dass Marino auf der anderen Leitung wartete. Ich schaltete um, um ihm zu sagen, dass ich ihn zurückrufen würde, sobald das andere Gespräch beendet wäre, aber er hatte bereits aufgelegt. »Sagen Sie mir, wie ich dorthin komme«, sagte ich zu meinem Stellvertreter. »Sie nehmen meinen Pro-bono-Rat also nicht an?« »Von meinem Haus aus nehme ich den Downtown Expressway, und dann?« Er erklärte es mir. Ich legte auf und hastete in mein Schlafzimmer, Bentons Brief in der Hand. Ich wusste nicht, wo ich ihn aufbewahren sollte. Ich konnte ihn nicht einfach in eine Schublade oder einen Aktenschrank legen. Womöglich würde ich ihn verschlampen, oder meine Zugehfrau fände ihn, ebenso wenig wollte ich ihn an einem Ort aufheben, wo ich zufällig darüber stolpern und erneut zusammenbrechen würde. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, mein Herz raste, Adrenalin schoss mir ins Blut, während ich auf den festen weißen Umschlag starrte, auf dem in Bentons bescheidener, schöner Handschrift »Kay« stand. Schließlich verfiel ich auf den kleinen feuerfesten Safe im Boden meines Kleiderschranks. Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern, wo ich den Zettel mit der Zahlenkombination hingetan hatte. »Ich verliere noch den Verstand«, rief ich laut. Die Kombination war, wo ich sie immer aufbewahrte, zwischen den Seiten 670 und 671 der siebten Ausgabe von Hunter's Tropical Medicine. Ich legte den Brief in den Safe, ging ins Bad und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann rief ich Rose, meine Sekretärin, an und bat sie, in etwa eineinhalb Stunden einen Abholdienst in den Hafen von Richmond zu schicken. »Sagen Sie ihnen, dass der Leichnam in einem ziemlich erbärmlichen Zustand ist«, wies ich sie an. »Wie kommen Sie hin?«, fragte Rose. »Ich würde Ihnen ja raten, erst hierherzukommen und den Suburban zu nehmen, aber Chuck hat ihn zum Ölwechsel gebracht.« »Ich dachte, er ist krank.« »Er ist vor einer Viertelstunde aufgetaucht und hat den Suburban geholt.« »Na gut, dann nehme ich meinen eigenen Wagen. Rose, ich werde das Luma-Lite brauchen und eine Dreißig-Meter- Verlängerungsschnur. Jemand soll auf dem Parkplatz damit auf mich warten. Ich melde mich, kurz bevor ich dort bin.« »Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Jean ziemlich aus dem Häuschen ist.« »Was ist passiert?«, fragte ich überrascht. Jean Adams war die Verwaltungschefin des Leichenschauhauses und zeigte selten Gefühlsregungen, ganz zu schweigen davon, dass sie aus dem Häuschen geriet. »Offenbar ist die ganze Kaffeekasse verschwunden. Sie wissen, dass es nicht das erste Mal ist ...« »Verdammt!«, sagte ich. »Wo wurde sie aufbewahrt?« »Eingeschlossen in Jeans Schreibtischschublade, wie immer. Es sieht nicht so aus, als wäre das Schloss aufgebrochen worden, aber sie hat heute Morgen nachgeschaut, und das Geld war nicht mehr da. Einhundertelf Dollar und fünfunddreißig Cent.« »Das muss ein Ende haben«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob Sie schon das Neueste wissen«, fuhr Rose fort. »Aus dem Aufenthaltsraum verschwinden Lunchpakete. Cleta hat aus Versehen abends ihr Handy auf ihrem Schreibtisch liegen lassen, und am nächsten Morgen war es weg. Das Gleiche ist Dr. Riley passiert. Er hat einen teuren Kugelschreiber in seinem Laborkittel vergessen. Am nächsten Morgen war er nicht mehr da.« »Die Putzkolonne?« »Vielleicht«, sagte Rose. »Aber meiner Meinung nach, Dr. Scarpetta - und ich will wirklich niemanden beschuldigen -, ist es jemand aus dem Haus.« »Sie haben recht. Wir sollten niemanden beschuldigen. Gibt es auch gute Nachrichten?« »Bislang nicht«, sagte Rose sachlich. Rose arbeitete für mich, seit ich zum Chief Medical Examiner Virginias ernannt worden war, das heißt, sie hatte mein Leben nahezu während meiner gesamten Laufbahn organisiert. Sie verfügte über die bemerkenswerte Fähigkeit, praktisch alles zu erfahren, was um sie herum vorging, ohne sich darin verwickeln zu lassen. Ihr Ruf war tadellos, und obwohl das Personal ein bisschen Angst vor ihr hatte, war sie die Erste, an die man sich wandte, wenn es Schwierigkeiten gab. »Seien Sie vorsichtig, Dr. Scarpetta«, sagte sie. »Sie klingen furchtbar. Warum lassen Sie Jack nicht hinfahren und bleiben ausnahmsweise mal zu Hause?« »Ich nehme meinen Wagen«, sagte ich, als eine Woge des Schmerzes über mich hereinbrach, die auch meiner Stimme anzuhören war. Rose bemerkte es und ging mit Schweigen darüber hinweg. Ich hörte, wie sie auf ihrem Schreibtisch Papiere ordnete. Ich wusste, dass sie mich irgendwie trösten wollte, aber das hätte ich nie zugelassen. »Vergessen Sie nicht zu wechseln, bevor Sie wieder einsteigen «, sagte sie schließlich. »Was zu wechseln?« »Ihre Kleidung. Bevor Sie wieder in Ihr Auto steigen«, sagte sie, als hätte ich noch nie mit einer verwesten Leiche zu tun gehabt. »Danke, Rose«, sagte ich.
3
Ich schaltete die Alarmanlage ein und verschloss das Haus, dann machte ich Licht in der Garage und öffnete einen großen Spind aus Zedernholz mit Belüftungsschlitzen oben und unten. Darin befanden sich Wander- und hohe Gummistiefel, dicke Lederhandschuhe und ein Barbour-Mantel, dessen wasserdichte Oberfläche mich an Wachs erinnerte. Hier bewahrte ich Socken, Unterwäsche, Overalls und andere Dinge auf, die ich nie mit ins Haus nahm. Nach Gebrauch landeten sie in dem riesigen Waschbecken aus rostfreiem Stahl, in der Waschmaschine und dem Trockner, die nicht für normale Bekleidung bestimmt waren. Ich warf einen Overall, schwarze Leder-Reeboks und eine Baseballmütze mit der Aufschrift OCME (Office of Chief Medical Examiner) in den Kofferraum. Ich überprüfte den Inhalt des großen Halliburton-Aluminiumkoffers, den ich stets zu Tatorten mitnahm, und vergewisserte mich, dass genügend Latexhandschuhe, extradicke Plastiktüten und Wegwerftücher darin waren, ebenso die Kameraausrüstung und Filme. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg, Bentons Worte ließen mich noch immer nicht los. Ich versuchte, seine Stimme auszublenden, seine Augen und sein Lächeln und wie sich seine Haut anfühlte. Ich wollte ihn vergessen, und genau das war es, was mir am wenigsten gelang. Ich schaltete das Radio ein, während ich auf dem Downtown Expressway bis zur I-95 fuhr und die Skyline von Richmond in der Sonne funkelte. Ich hielt an der Lombardy Toll Plaza, als mein Autotelefon klingelte. Es war Marino. »Wollte nur sagen, dass ich auch vorbeischaue«, sagte er. Ich wechselte die Spur und schnitt beinahe einen silberfarbenen Toyota, den ich im toten Winkel des Rückspiegels nicht gesehen hatte. Der Fahrer hupte laut, überholte mich und brüllte mir Obszönitäten zu, die ich ignorierte. »Fahr zur Hölle«, rief ich ihm verärgert hinterher. »Was?«, schrie mir Marino ins Ohr. »Irgendein idiotischer Autofahrer.« »Ah, gut. Hast du schon mal was von Wutattacken im Straßenverkehr gehört, Doc?« »Ja, ich habe gerade eine.« Ich nahm die Ausfahrt an der Ninth Street und ließ Rose wissen, dass ich in zwei Minuten da wäre. Als ich auf den Parkplatz fuhr, erwartete mich Fielding mit der Ausrüstung und dem Verlängerungskabel. »Der Suburban ist noch nicht zurück?«, fragte ich. »Nein«, sagte er und verstaute die Sachen in meinem Kofferraum. »Das wird eine Begrüßung geben, wenn Sie mit dem Wagen vorfahren. Ich sehe schon die Hafenarbeiter vor mir und die gutaussehende blonde Frau in dem schwarzen Mercedes anstarren. Vielleicht sollten Sie mit meinem Wagen fahren.« Mein durchtrainierter Stellvertreter hatte gerade eine Scheidung hinter sich gebracht und das Ereignis gefeiert, indem er seinen Mustang gegen eine rote Corvette eingetauscht hatte. »Das ist eine ziemlich gute Idee«, sagte ich trocken. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Solange es sich um einen Achtzylinder handelt.« »Ja, ja, hab verstanden. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Sie wissen, wie Sie hinkommen?« »Tu ich.« Seiner Wegbeschreibung folgend fuhr ich nach Süden und war fast in Petersburg, als ich abbog und an der Rückseite der Philip-Morris-Werke entlang und über Gleise fuhr. Die schmale Straße führte mich durch unbebautes, mit Unkraut und Bäumen bewachsenes Gebiet und endete abrupt an einem Kontrollhäuschen. Ich kam mir vor, als würde ich die Grenze zu einem feindseligen Land überschreiten. Jenseits davon befanden sich ein Güterbahnhof und Hunderte waggongroßer orangefarbener Container, die in Dreier- und Viererreihen übereinandergestapelt waren. Ein Wachmann, der seinen Job sehr ernst nahm, trat aus dem Häuschen. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma'am?«, fragte er in sachlich militärischem Tonfall. »Ich bin Dr. Kay Scarpetta«, sagte ich. »Und mit wem sind Sie hier verabredet?« »Ich bin hier, weil es einen Toten gegeben hat«, erklärte ich. »Ich bin Gerichtsmedizinerin.« Ich zeigte ihm meine Papiere. Er nahm sie und studierte sie gewissenhaft. Vermutlich wusste er nicht, was ein Gerichtsmediziner ist, und wollte auch nicht nachfragen. »Sie sind also die Chefin«, sagte er und gab mir die abgewetzte schwarze Brieftasche zurück. »Die Chefin von was?« »Ich bin die Chefin der Gerichtsmedizin von Virginia«, entgegnete ich. »Die Polizei wartet auf mich.« Er ging zurück in sein Häuschen und telefonierte, während meine Ungeduld wuchs. Jedes Mal wenn ich in eine Sicherheitszone wollte, musste ich diese Prozedur über mich ergehen lassen. Früher hatte ich mein Frausein dafür verantwortlich gemacht, und damals stimmte das wahrscheinlich auch - zumindest in einigen Fällen. Mittlerweile war ich jedoch überzeugt, dass die Angst vor Terrorakten, Verbrechen und Prozessen die Erklärung war. Der Wachmann notierte eine Kurzbeschreibung meines Wagens und das Autokennzeichen. Er reichte mir ein Clipboard, auf dem ich unterschreiben musste, und einen Besucherpass. »Sehen Sie die Kiefer dort?«, sagte er und deutete mit dem Finger. »Ich sehe mehrere Kiefern.« »Die kleine schief gewachsene. Dort biegen Sie links ab und fahren zum Wasser, Ma'am«, sagte er. »Einen schönen Tag noch.« Ich fuhr weiter und kam an ein paar roten Klinkergebäuden mit Schildern der Zollbehörde und der Marine vorbei. Der Hafen selbst bestand im Wesentlichen aus riesigen Lagerhallen voller orangefarbener Container, die aufgereiht an Verladedocks standen wie Tiere an Trögen. Im James River lagen zwei Containerschiffe, die Euroclip und die Sirius, beide ungefähr doppelt so lang wie ein Footballfeld. Zig Meter hohe Kräne ragten über swimmingpoolgroßen offenen Luken auf. An Leitkegeln befestigtes gelbes Band sperrte weitläufig einen Container ab, der auf ein Chassis montiert war. Niemand befand sich in der Nähe. Außer einem zivilen blauen Chevrolet Caprice am Rand eines Docks entdeckte ich nichts, was auf Polizeipräsenz hinwies. Die Fahrerin des Wagens sprach durch das Fenster mit einem Mann in weißem Hemd und Krawatte. Nirgendwo wurde gearbeitet. Schauermänner mit Schutzhelmen und reflektierenden Westen standen gelangweilt herum, tranken Limonade oder rauchten. Ich rief mein Büro an und ließ mich mit Fielding verbinden. »Wann wurden wir von dem Fund der Leiche unterrichtet?«, fragte ich ihn. »Moment. Da muss ich nachsehen.« Papier raschelte. »Um genau zehn Uhr dreiundfünfzig.« »Und wann wurde sie gefunden?« »Anderson schien das nicht zu wissen.« »Wie zum Teufel ist es möglich, dass sie so etwas nicht weiß?« »Wie gesagt, ich glaube, sie ist neu.« »Fielding, hier ist weit und breit kein Polizist zu sehen außer ihr, ich nehme zumindest an, dass sie es ist. Was genau hat sie gesagt, als sie den Fund meldete?« »Bei Ankunft tot, verwest, wollte, dass Sie zur Fundstelle kommen.« »Sie wollte ausdrücklich, dass ich komme?« »Na ja, Sie sind immer jedermanns erste Wahl. Das ist nichts Neues. Aber sie sagte, Marino hätte ihr aufgetragen, Sie zu holen.« »Marino?«, sagte ich überrascht. »Er hat sie angewiesen, mich hierherzuzitieren?« »Ja, ich fand auch, dass das ein bisschen voreilig von ihm war.« Mir fiel ein, wie Marino gesagt hatte, er würde kurz vorbeischauen, und ich wurde noch wütender. Erst brachte er eine Anfängerin dazu, mir praktisch einen Befehl zu erteilen, und wenn er es einrichten konnte, würde er vorbeischauen und nachsehen, wie es uns ging? »Fielding, wann haben Sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen? «, fragte ich. »Das ist Wochen her. Er war unglaublich mies gelaunt.« »Nicht halb so mies, wie ich es sein werde, falls er sich irgendwann doch noch entschließen sollte, hier aufzukreuzen«, versprach ich ihm. Hafenarbeiter sahen mir zu, wie ich aus meinem Wagen stieg und die Kofferraumklappe aufschnappen ließ. Ich griff nach Koffer, Overall und Schuhen und spürte ihre Blicke auf mir, während ich zum Zivilfahrzeug ging und mich mit jedem mühsamen Schritt, bei dem der schwere Koffer gegen mein Bein schlug, mehr ärgerte. Der Mann in Hemd und Krawatte schwitzte und wirkte unglücklich, als er die Hand vor die Augen hielt und zu den zwei Hubschraubern vom Fernsehen hinaufblickte, die in hundertdreißig Meter Höhe langsam über dem Hafen kreisten. »Verfluchte Reporter«, murmelte er und wandte sich dann mir zu. »Ich suche nach der Person, die für die gefundene Leiche zuständig ist«, sagte ich. »Das bin ich«, sagte eine weibliche Stimme im Caprice. Ich beugte mich vor und schaute durch das Fenster auf die junge Frau hinter dem Lenkrad. Sie war stark gebräunt, ihr braunes Haar war kurzgeschnitten und glatt nach hinten gekämmt, große Nase, kräftiges Kinn. Ihre Augen blickten hart, sie hatte eine ausgewaschene weite Jeans, schwarze lederne Schnürstiefel und ein weißes T-Shirt an. Ihre Waffe trug sie an der Hüfte, ihr Dienstabzeichen an einer Kette um den Hals. Die Klimaanlage war angeschaltet, aus dem Radio klang Softrock und übertönte die Polizeimeldungen im Scanner. »Detective Anderson, nehme ich an«, sagte ich. »Rene Anderson. Höchstpersönlich. Und Sie müssen der Doc sein, von dem ich schon so viel gehört habe«, sagte sie mit der Arroganz, die viele Leute an den Tag legen, die nicht wissen, was sie tun. »Ich bin Joe Shaw, der Hafenmeister«, stellte sich der Mann mir vor. »Sie müssen diejenige sein, derentwegen mich der Sicherheitsdienst gerade angerufen hat.« Er war ungefähr so alt wie ich, blondes Haar, helle blaue Augen und Haut, die gezeichnet war von zu vielen Jahren an der Sonne. Ich sah seinem Gesichtsausdruck an, dass er Anderson und den gesamten Tag verabscheute. »Haben Sie mir vielleicht etwas Hilfreiches mitzuteilen, bevor ich anfange?«, sagte ich laut zu Anderson, um das Gebläse und die Hubschrauber zu übertönen. »Zum Beispiel, warum keine Polizisten den Fundort absichern?« »Nicht nötig«, sagte Anderson und stieß mit dem Knie die Autotür auf. »Hier kommt ja nicht jeder einfach so rein, wie Sie selbst gemerkt haben.« Ich stellte den Aluminiumkoffer ab. Anderson trat zu mir. Ich war überrascht, wie klein sie war. »Ansonsten kann ich Ihnen nicht viel sagen«, meinte sie. »Wir wissen nicht mehr, als Sie sehen. Einen Container mit einer stinkenden Leiche drin.« »O doch, Sie können mir noch eine ganze Menge mehr sagen, Detective Anderson«, erwiderte ich. »Wie wurde die Leiche entdeckt und wann? Haben Sie sie gesehen? Hat sich ihr jemand genähert? Wurde der Fundort irgendwie kontaminiert? Und die Antwort auf die letzte Frage lautet besser nein, sonst mache ich Sie dafür verantwortlich.« Sie lachte. Ich begann, den Overall über meine Kleider zu streifen. »Niemand ist in ihre Nähe gekommen«, sagte sie. »Dafür haben sich keine Freiwilligen gemeldet.« »Man muss nicht in das Ding rein, um zu wissen, was da drin liegt«, fügte Shaw hinzu. Ich zog die schwarzen Reeboks an und setzte die Baseballmütze auf. Anderson starrte auf meinen Mercedes. »Vielleicht sollte ich auch für den Staat arbeiten«, sagte sie. Ich musterte sie von oben bis unten. »Ich schlage vor, Sie ziehen sich was über, falls Sie mit reinwollen«, sagte ich. »Ich muss ein paar Anrufe machen«, sagte sie und schlenderte davon. »Ich habe nicht vor, den Leuten zu erklären, wie sie ihre Arbeit zu machen haben«, sagte Shaw zu mir. »Aber was zum Teufel ist hier eigentlich los? Da drüben liegt eine Leiche, und die Polizei schickt so eine kleine Zicke wie die da?« Er biss die Zähne zusammen, sein Gesicht war rot und schweißbedeckt. »Wissen Sie, hier verdient man keinen Cent, wenn nichts vorwärtsgeht«, fuhr er fort. »Und seit über zweieinhalb Stunden hat hier niemand einen Finger gekrümmt.« Er bemühte sich sichtlich, in meiner Gegenwart nicht zu fluchen. »Nicht dass es mir nicht leidtut, wenn jemand ins Gras beißt«, fuhr er fort. »Aber mir wäre es lieb, wenn ihr eure Arbeit erledigt und wieder abzieht.« Er blickte noch einmal finster in den Himmel. »Und das gilt auch für die Medien.« »Mr Shaw, was wurde in dem Container verschifft?«, fragte ich ihn. »Deutsche Kamerateile. Das Siegel an der Verriegelung des Containers war nicht aufgebrochen. Deswegen scheint an der Fracht nicht manipuliert worden zu sein.« »Hat der ausländische Spediteur das Siegel angebracht?« »So ist es.« »Das heißt, dass die Person, tot oder lebendig, höchstwahrscheinlich im Container war, bevor er versiegelt wurde? « »So sieht es aus. Die Nummer entspricht der auf dem Eintrag des Zollbeamten, alles ganz normal. Die Ladung war bereits freigegeben. Vor fünf Tagen schon«, sagte Shaw. »Deswegen wurde der Container direkt auf den Anhänger verladen. Dann kam diese Duftwolke raus, und von da an war klar, dass das Ding vorerst hierbleibt.« Ich sah mich gründlich um. Ein leichter Wind schlug schwere Ketten gegen die Kräne, die aus drei Verladeluken gleichzeitig Stahlbalken aus der Euroclip gelöscht hatten, bevor alle Arbeiten gestoppt wurden. Gabelstapler und Sattelschlepper standen verlassen herum. Hafenarbeiter und Schiffsbesatzungen hatten nichts zu tun und ließen uns nicht aus den Augen. Manche standen am Bug ihres Schiffes, andere beobachteten uns durch die Fenster des Deckhauses. Die Luft über dem ölgefleckten Asphalt flirrte, Holzpaletten, Abstandhalter und Rollen lagen herum, ein Frachtzug fuhr quietschend über eine Kreuzung jenseits der Lagerhallen. Der Geruch nach Kreosot war stark, konnte jedoch nicht den Gestank verwesenden menschlichen Fleisches überdecken, der wie Rauch in der Luft hing. »Wo ist das Schiff in See gestochen?«, fragte ich Shaw, als ich einen Streifenwagen bemerkte, der neben meinem Mercedes stehen blieb. »In Antwerpen, Belgien, vor zwei Wochen«, sagte er, während er die Sirius und die Euroclip betrachtete. »Alles Schiffe unter fremder Flagge, die hier vor Anker gehen. Die einzigen amerikanischen Flaggen, die wir hier noch zu sehen bekommen, sind aus Höflichkeit gehisst worden«, fügte er mit einer Spur Enttäuschung in der Stimme hinzu. Ein Mann, der auf der Steuerbordseite der Euroclip stand, beobachtete uns durch ein Fernglas. Mir erschien es seltsam, dass er, so warm wie es war, ein langärmeliges Hemd und eine lange Hose trug. Shaw blinzelte. »Verdammt, die Sonne blendet.« »Was ist mit blinden Passagieren?«, fragte ich. »Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand sich zwei Wochen lang auf hoher See in einem versiegelten Container versteckt.« »Ist mir noch nie untergekommen. Außerdem sind wir nicht der erste Anlaufhafen. Das war Chester, Pennsylvania. Die meisten Schiffe fahren von Antwerpen nach Chester und dann erst hierher und von hier wieder direkt zurück nach Antwerpen. Ein blinder Passagier würde höchstwahrscheinlich in Chester das Weite suchen, statt bis nach Richmond zu fahren. Wir sind ein unbedeutender Hafen, Dr. Scarpetta.« Ich sah ungläubig zu, wie Pete Marino aus dem Streifenwagen stieg, der neben meinem Mercedes parkte. »Letztes Jahr haben vielleicht einhundertzwanzig Hochseeschiffe und Lastkähne unseren Hafen angelaufen«, sagte Shaw. Marino war, seit ich ihn kannte, Detective. Ich hatte ihn noch nie in Uniform gesehen. »Wenn ich blinder Passagier wäre oder illegaler Einwanderer, würde ich versuchen, in einem wirklich großen Hafen wie Miami oder L. A. an Land zu gehen, wo ich in der Menschenmenge untertauchen könnte.« Anderson kam auf uns zu, Kaugummi kauend. »Wir erbrechen das Siegel nur und öffnen die Container, wenn wir etwas Illegales vermuten, Drogen, nichtverzollte Waren«, fuhr Shaw fort. »Hin und wieder filzen wir ein Schiff von oben bis unten, damit die Leute ehrlich bleiben. « »Gott sei Dank muss ich mich nicht mehr so anziehen«, sagte Anderson, als sich Marino uns näherte, sein Auftreten großspurig und kampflustig wie immer, wenn er unsicher und besonders schlechtgelaunt war. »Warum trägt er Uniform?«, fragte ich sie. »Er wurde neu eingeteilt.« »Das sehe ich.« »Seit Deputy Chief Bray da ist, hat es eine Menge Veränderungen im Morddezernat gegeben«, sagte Anderson, als wäre sie stolz darauf. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum man jemanden, der so unschätzbare Arbeit leistete, wieder Dienst in Uniform tun ließ. Ich fragte mich, wann das passiert war. Es kränkte mich, dass Marino mir nichts davon erzählt hatte, und ich schämte mich, dass ich es nicht selbst herausgefunden hatte. Es war Wochen, vielleicht sogar einen Monat her, seit ich zum letzten Mal mit ihm längere Zeit telefoniert hatte. Wann ich ihn zum letzten Mal zu einer Tasse Kaffee in mein Büro oder zu einem Abendessen zu mir nach Hause eingeladen hatte, wusste ich nicht mehr. »Was gibt's?«, fragte er mürrisch zur Begrüßung. Anderson würdigte er keines Blicks. »Ich bin Joe Shaw. Wie geht es Ihnen?« »Beschissen«, erwiderte Marino. »Anderson, haben Sie beschlossen, den Fall ganz allein zu bearbeiten? Oder wollen die anderen nichts mit Ihnen zu tun haben?« Sie starrte ihn zornig an, nahm den Kaugummi aus dem Mund und warf ihn weg, als hätte Marino seinen Geschmack verdorben. »Haben Sie vergessen, die Leute zu Ihrer kleinen Party einzuladen?«, fuhr er fort. »Herrgott noch mal!« Er schäumte vor Wut. »So was ist mir wirklich noch nicht untergekommen! « Ein kurzärmeliges weißes Hemd, das bis oben zugeknöpft war, und eine Ansteckkrawatte schnürten Marino die Luft ab. Sein großer Bauch kämpfte gegen eine dunkelblaue Uniformhose und einen Gürtel aus steifem Leder an, der vollbepackt war mit seiner SIG-Sauer-Pistole, Handschellen, Extramunition, Pfefferspray und dem ganzen Rest. Sein Gesicht war gerötet. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, eine dunkle Oakley-Sonnenbrille verbarg seine Augen. »Du und ich müssen miteinander reden«, sagte ich. Ich versuchte, ihn auf die Seite zu ziehen, aber er gab nicht nach. Er holte eine Marlboro aus der Schachtel, die er immer dabeihatte. »Gefällt dir mein neues Outfit?«, fragte er sarkastisch. »Deputy Chief Bray war der Meinung, ich bräuchte neue Sachen.« »Marino, Sie werden hier nicht gebraucht«, sagte Anderson zu ihm. »Vermutlich ist es Ihnen sogar lieber, wenn niemand erfährt, dass Sie überhaupt hier waren.« »Für Sie immer noch Captain.« Er stieß die Worte mit Wolken von Zigarettenrauch aus. »Sie sollten Ihre oberschlaue Zunge hüten, Babe, weil ich rangmäßig höher stehe als Sie.« Shaw verfolgte den barschen Wortwechsel, ohne einen Ton zu sagen. »Soweit ich weiß, werden weibliche Polizisten nicht mehr mit Babe angesprochen«, sagte Anderson. »Ich habe noch eine Leiche zu besichtigen«, sagte ich. »Der Weg geht durch die Lagerhalle«, sagte Shaw. »Dann los«, sagte ich. Er führte mich und Marino zu einer Tür, die auf den Fluss hinausging. Die Halle war ein riesiger, schlecht beleuchteter, stickiger Raum, in dem es süß nach Tabak roch. Tausende von Ballen lagen in Sackleinen gewickelt auf hölzernen Paletten, Tonnen von Eisenerz und quarzhaltigem Sand standen herum, vermutlich für die Erzeugung von Stahl, sowie Maschinenteile, die nach den Stempeln auf den Kisten für Trinidad bestimmt waren. Ein paar Buchten weiter stand der Container an einem Verladedock. Je näher wir kamen, desto stärker wurde der Geruch. Vor der mit gelbem Band abgesperrten, offenen Containertür blieben wir stehen. Der Gestank war unerträglich und durchdrang alles, als wäre jedes Sauerstoffmolekül damit ersetzt worden, und ich zwang meine Sinne, sich jeglicher Meinung zu enthalten. Fliegen hatten sich eingefunden, und ihr unheilvolles Summen erinnerte mich an ein ferngesteuertes Spielzeugflugzeug. »Waren die Fliegen schon da, als der Container geöffnet wurde?«, fragte ich Shaw. »Nicht so wie jetzt«, sagte er. »Wie nahe waren Sie denn dran?«, fragte ich, als Marino und Anderson zu uns aufschlossen. »Nah genug«, sagte Shaw. »Niemand ist reingegangen?« Ich wollte sicher sein. »Das garantiere ich Ihnen, Ma'am.« Er hielt den Gestank kaum mehr aus. Marino schien völlig unbeeindruckt. Er nahm eine weitere Zigarette und brummte etwas vor sich hin, als er sie anzündete. »Also, Anderson«, sagte er. »Das könnte irgendein Vieh sein, Sie haben ja nicht nachgeschaut. Womöglich ein großer Hund, der versehentlich eingeschlossen wurde. Wär 'ne Schande, wenn Sie den Doc herbeordert und die Medien in Aufregung versetzt hätten und jetzt herausfinden, dass da drin ein armer alter Hafenköter verfault.« Er und ich, wir wussten beide, dass in dem Container weder ein Hund noch ein Schwein oder ein Pferd oder irgendein anderes Tier war. Ich öffnete meinen Koffer, während Marino und Anderson weiter aufeinander einhackten, warf meinen Autoschlüssel hinein und zog mehrere Paare Handschuhe und eine OP-Maske an. Dann brachte ich an meiner Nikon einen Blitz und ein 28-Millimeter-Objektiv an, legte einen 400-Asa-Film ein, damit die Fotos nicht zu körnig würden, und zog sterile Überschuhe über die Reeboks. »Wenn es mitten im Juli aus einem verschlossenen Haus stinkt, machen wir's auch so. Wir schauen durchs Fenster. Brechen wenn nötig ein. Vergewissern uns, dass es sich wirklich um einen menschlichen Kadaver handelt, bevor wir den Gerichtsmediziner rufen«, fuhr Marino fort, seinen neuen Schützling zu unterweisen. Ich duckte mich unter dem gelben Band hindurch und betrat den dunklen Container, in dem erfreulicherweise genug Platz war, um sich frei bewegen zu können, da die ordentlich gestapelten weißen Kartons nur ungefähr die Hälfte der Fläche einnahmen. Ich folgte dem Schein meiner Taschenlampe tiefer hinein und schwenkte sie dabei von einer Seite zur anderen. Ziemlich weit hinten fiel der Lichtkegel auf eine Reihe von Kartons, die vollgesogen waren mit dem rötlichen Sekret, das verwesenden Leichen aus Nase und Mund läuft. Er folgte Schuhen und Unterschenkeln, und dann sprang ein aufgedunsenes bärtiges Gesicht aus der Dunkelheit. Aus den Höhlen getretene milchige Augen starrten mich an, die Zunge war so geschwollen, dass sie aus dem Mund herausragte, als wollte mich der tote Mann verspotten. Meine Schuhe gaben, wo immer ich hintrat, ein saugendes Geräusch von sich. Die Leiche war voll bekleidet und saß in der Ecke, an zwei Seiten von den stählernen Wänden des Containers gestützt. Die Beine waren ausgestreckt, die Hände lagen im Schoß unter einem Karton, der offensichtlich heruntergefallen war. Ich stellte ihn weg und suchte nach Verletzungen, nach Abschürfungen und abgebrochenen Nägeln, die nahelegen würden, dass er versucht hatte, sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Ich entdeckte keine Blutflecken auf seiner Kleidung, keine augenscheinlichen Verletzungen, die darauf schließen ließen, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Ich sah mich nach Lebensmitteln oder Wasser um, nach irgendwelchen Vorräten oder Belüftungslöchern in den Containerwänden, und fand nichts. Ich suchte zwischen allen Kartonreihen, ging in die Hocke, um den stählernen Boden auf Fußspuren zu überprüfen. Die natürlich überall waren. Ich arbeitete mich zentimeterweise voran, meine Knie schmerzten unerträglich. Ich fand einen leeren Papierkorb aus Plastik. Dann zwei Silbermünzen. Ich beugte mich vor. Die eine war eine Deutsche Mark. Die andere kannte ich nicht. Ich ließ alles unberührt. Marino, der an der Containertür stand, schien eine Meile weit weg. »Mein Autoschlüssel ist in meinem Koffer«, rief ich ihm durch die OP-Maske zu. »Ja?«, sagte er und schaute herein. »Kannst du mir das Luma-Lite holen? Ich brauche das faseroptische Zusatzgerät und das Verlängerungskabel. Vielleicht kann Mr Shaw dir zeigen, wo du es einstecken kannst. Es muss eine geerdete Steckdose sein. Und ich brauche einen Adapter.« »Ich liebe es, wenn du versaut redest«, sagte er.
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Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, geboren 1956 in Miami, arbeitete als Gerichtsreporterin und Computerspezialistin in der forensischen Medizin, bevor sie mit ihren Thrillern um Kay Scarpetta internationale Erfolge feierte und mit hohen literarischen Auszeichnungen bedacht wurde. Die Autorin lebt derzeit in New York und Florida.Anette Grube studierte Amerikanistik und Politik. Seit 1988 arbeitet sie als literarische Übersetzerin. Sie hat u. a. Werke von Doris Lessing, T. C. Boyle, Kate Atkinson, Vikram Seth und Arundhati Roy ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2013, 448 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Grube, Anette
- Übersetzer: Anette Grube
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477387
- ISBN-13: 9783442477388
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
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