Blues
Geschichte und Geschichten
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Produktinformationen zu „Blues “
Geschichte und Geschichten
Klappentext zu „Blues “
Der Legende nach schließt jeder wirkliche Blues-Musiker an einer ganz bestimmten Kreuzung im Mississippi-Delta einen Pakt mit dem Teufel. Sonst bleiben musikalische Kreativität und Erfolg im Geschäft und in der Liebe aus. Wer aber die Höllenhunde des Blues auf seinen Fersen hatte, wie der legendäre Robert Johnson, dem noch die Rolling Stones einen ihrer größten Hits, 'Love in Vain', verdanken, den konnte schließlich nur ein eifersüchtiger Ehemann mit vergiftetem Whisky stoppen.
Von dieser »devil's music«, die brave Gospel-Mädchen nicht singen durften und von der gläubige Mütter ihre Söhne - vergeblich - fernzuhalten versuchten, ist hier die Rede. Der Autor, ein profunder Kenner, versteht es, aus der Geschichte des Blues und seiner Interpreten von den Anfängen bis zu den jüngsten Revivalbewegungen mit all ihren Kreuz- und Querverbindungen heraus die subtile und sublime Qualität dieser Musik anschaulich zu machen.
Lese-Probe zu „Blues “
Einleitung: Blues - die Mutter (fast) aller Popmusik Der Blues ist das Einfache. Deshalb ist er so schwer. Man kann ihn auf nur einer Saite spielen, wie Lonnie Pitchford, auf der Gitarre wie Robert Johnson oder Jimi Hendrix, auf dem Piano wie Pinetop Perkins oder Memphis Slim, allein wie Blind Blake oder Corey Harris, mit anderen wie die Memphis Jug Band oder The North Mississippi Allstars, sogar als voll instrumentiertes Orchester wie bei W.C. Handy oder Andy Kirk And His Clouds Of Joy - Blues bleibt immer erkennbar, gebunden an das wenig variable Schema der zwölf Takte, der drei, höchstens vier grundsätzlichen Wechsel der Harmoniestufen I, IV und V* und der Blue Notes, jenen zwischen den Tonarten schwebenden unkorrekten, aber unendlich aufregenden Zwischentönen, die den Blues charakterisieren. Es gibt freilich immer wieder Ausnahme-Blues-Musiker, die sich nicht einmal daran halten. Doch ob sie nun acht, elf oder sechzehn Takte spielen oder in nur einer Harmonie - am Feeling, am einfühlsamen Spiel und an den Blue Notes wird man den Blues-Charakter immer erkennen.Seinen ohnehin vorhandenen Hang zum Metaphysischen drückt am besten die bekannte Legende von der geheimnisvollen Kreuzung aus, zu der sich der noch unvollendete Blues-Sänger begeben muß. Dort wartet er, mit der Gitarre in der Hand, bis aus dem Nichts eine dunkle Gestalt hinter ihm auftaucht. Er dreht sich nicht um, auch nicht, wenn die Gestalt ihm die Gitarre aus der Hand nimmt, sie stimmt, ein paar komplizierte Blues-Riffs darauf spielt und sie ihm wieder zurückgibt. Damit ist der Teufelspakt geschlossen und von nun an kann der Sänger den Blues vollendet auf der Gitarre begleiten - wie Robert Johnson oder all die anderen, denen man es nachsagte.
* Das harmonische Grundschema des Blues basiert auf der AkkordstufenAbfolge:I / I / I / I / IV / IV / I / I / V / I V / I / I /Das charakteristische Text-Schema des Blues ist häufig A A B, also etwa:
"I went to the crossroad, fell down on my knee,I went to
... mehr
the crossroad, fell down on my knee,Asked the Lord above for mercy, save po' Bob if you please."
(Ich ging zu der Kreuzung, fiel auf meine Knie. (2x)Bat den lieben Gott um Gnade, hilf Bob, dem Armen, bitte sehr.)
Rein musikalisch gesehen, ist der Blues zunächst geradezu simpel und schematisch, das macht es so schwierig, ihn einfallsreich und interessant zu spielen. Dazu ist im Grunde eine erhebliche Virtuosität innerhalb des Genres nötig, wie die Einspielungen der Meister zeigen: ausgefeilte Picking Technik, Experimente mit offenen Gitarrenstimmungen, übernahme von Einflüssen anderer Musik-Stile wie Gospel, Ragtime oder Techniken wie das Sliden, der Walking Bass oder das Boogie-Ostinato in unendlichen Variationen. Allerdings: Der Blues ist viel mehr als einfach nur ein Musikstil und entzieht sich somit erfolgreich der grauen Theorie. Man hat ihn. Man singt und spielt ihn oder man hört dem zu, der ihn singt und spielt. Manche leben ihn, freiwillig oder unfreiwillig. Er ist Singular und Plural in einem - "The blues got me und I got these blues". Er ist die Basis aller angloamerikanischen populären Musik, die sich nicht direkt aus der europäischen Folklore ableiten läßt. Er hat Geschwister in Afrika, Brasilien und Hawaii und er hatte ein Baby, das nannte man Rock'n'Roll.
Den Blues ziert keine illustre Verwandtschaft, aber zu ihm gehören ehrliche Leute. Viele seiner Abkömmlinge gingen ins Show-Business: Boogie, Rhythm & Blues, Dixieland, Skiffle, Blues-Rock. Einige studierten und wurden Intellektuelle: Jazz, Free Jazz. Andere zogen in die Metropolen und modernisierten ihn: Soul, Hip-Hop, Rap. Inzwischen taucht er manchmal sogar als Sample bei Moby oder in Techno-Stücken auf. Wenn B. B. King und Eric Clapton ihn zusammen spielen, kauft ein Millionenpublikum das Album, egal, was Puristen, Leute mit Geschmack, Kenner oder Fans davon halten. Das führt immerhin dazu, daß man den Blues nachhaltig wahrnimmt, auch im 21. Jahrhundert. Dessen definitiver Blues-Sänger stand freilich schon im späten 20. Jahrhundert fest: Captain Beefheart alias Don Van Vliet.
Als in den Sechzigern ebenfalls Millionen eine Single der Rolling Stones mit dem Titel "Love In Vain" hören wollten, ahnte kaum jemand, daß es sich um einen Blues von Robert Johnson, dem großartigen Mississippi-Delta-Sänger und Gitarristen, handelte. Erst als Mitte der neunziger Jahre ein weiteres, bis heute andauerndes Blues-Revival einsetzte, das sich insbesondere auf die archivalischen Schätze des Vorkriegs-Blues richtete, wurde zur allgemeinen überraschung eine Gesamtaufnahme der Blues-Klassiker von Robert Johnson über eine halbe Million Mal verkauft. Pop als Blues? Blues als Pop? Einmal so, einmal anders?
Fragen, die nur mit einem deutlichen "Jein" beantwortet werden können. Denn wie das Wort Pop auch, das einerseits eine Abkürzung für "popular culture" ist und den gesamten Bereich populärer Vergnügen umfaßt, andererseits aber einfach populäre Musik von der Heimatschnulze bis zur Noise Avantgarde bedeutet, war der Begriff Blues von Anfang an mit einer Doppelbedeutung behaftet. Schuld daran war kein Geringerer als sein angeblicher Vater W C. Handy selbst.
Dessen eigentlich für Tanzkapellen komponierte Stücke, die er auf den Straßen von Memphis adaptiert, als Notenblätter veröffentlicht und als Blues betitelt hatte, lösten nämlich die erste Blues Welle in Amerika aus. Blues war hier analog zu Bezeichnungen wie Charleston oder Shimmy der Name für eine bestimmte Art von Tanzmusik, die mehr oder weniger nach dem Blues-Schema funktionierte - eher weniger offenbar, denn schon in seinen Megahit "St. Louis Blues" schrieb Handy abwechslungshalber eine Einleitung im Tango-Rhythmus hinein.
Von welchen Blues-Arten soll also in der Folge die Rede sein? Vom Tanz-Blues, vom Blues-Tanz, vom Landeier-Blues oder von dem der Stadtstreuner, vom Blues im Bordell oder vom Revival-Blues im Hörsaal oder Stadttheater? Lassen wir Experten sprechen, doch auch die blicken nicht ganz durch:"Der Blues als eigenständige musikalische Form ist wahrscheinlich in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, doch der Stil und die "Blues-Stimmung" waren schon seit über hundertfünfzig Jahren Bestandteil der Musik der nordamerikanischen Neger. Ein Blues ist ein tief empfundener Song von ganz persönlicher, gefühlsbestimmter Eigenart. Im Blues fanden die Gefühle der Negersänger in allen Teilen des amerikanischen Südens ihren Niederschlag, und als sich die regellose Vielfalt der Plantagenlieder langsam in lose Muster ordnete, wurde der Blues zu einem Teil des Negerlebens selbst."
So romantisierend und gefühlig konnte Samuel B. Charters noch in den fünfziger Jahren sein, als er sein bis heute unverzichtbares Standardwerk "Country Blues" verfaßte. Einen scharfen, witzigen Verstand, Showmanship und geschäftliches Kalkül wollte er seinen Protagonisten nicht so gern zuschreiben.Auch Giles Oakley wandelte 1976 auf dem Pilgerpfad der großen Gefühle. Aber er sah schon mehr: "Für diejenigen, die versuchten eine geordnete Frömmigkeit, eine anerkannte, allgemein gültige Handlungsnorm im Leben aufrechtzuerhalten, die wenigstens im Tod noch Freiheit bringen würde, war es die Musik des Teufels ... Aber für die, die ihn sangen und ihn auch heute noch singen, ist er eine Musik des Gefühls, der direkten Beobachtung und des Feststellens von dem, was ist, und nicht, was sein könnte, unverziert, unvollkommen und ohne Ansprüche."
Davor schon hatte der Franzose Hugues Panassic charakteristische Züge von Blues Texten festgestellt: "Die Texte des Blues - die sich der Sänger oft selber ausdenkt - spiegeln die Lebenseinstellung der Schwarzen wider: Auf eine Melodie mit dramatischem Akzent werden häufig komische, humorvolle Texte gesungen; und mitunter begleiten dramatische Texte voll bitterer Wahrheit eine heitere Melodie."
Der Blues ist schwer zu fassen. Nimmt man ihn zu eng, rutscht er zwischen den Fingern durch; definiert man ihn zu breit, landet man bei Sprüchen wie "Ois is Blues"; legt man ihn einseitig auf Gefühl, Protest oder Unterhaltung fest, macht er sich aus dem Staub. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Blues eine besondere Haltung der Musik, der Welt, Gott und Teufel, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber. Er definierte sich bei jedem einzelnen seiner Interpreten auf ganz besondere, eigenartige, individuelle Art. Ich werde deswegen keine eigene, nur scheinbar objektive Definition des Blues versuchen, sondern verschiedene prägnante Aussagen von Blues-Musikern zitieren, die in ihrer Gesamtheit eine Ahnung von der existenziellen Dimension des Blues ermöglichen.Hier sind einige davon. Die schockierendsten gleich zu Beginn. Leadbelly in der Einleitung zu "Good Morning Blues":
"Now, this is the blues. Never the white man had the blues, `cause nothing to worry about. Now you lay down at night. You roll from one side of the bed to the other all night long. You can't sleep. What's the matter? The Blues has got ya? You git up and sit on your side of your bed in the morning, may have a sister and a brother, a mother and father around, but you don't want no talk out of them. What's the matter? The blues got ya? When you go and put your feet under the table, look down at your plate, got everything you wanna eat. With your shaky head you get up and you say: Lord, I can't eat I can't drink. What's the matter? The blues got ya? Wanna talk to ya. Hear, what you got to tell em:
Good morning blues, blues how do you do?Good morning blues, blues how do you do?I'm dyin allright, good morning, how are you?"
(Also, das ist der Blues. Niemals hatte der weiße Mann den Blues, denn er hatte keine Sorgen. Also, du liegst nachts da. Du wälzt dich die ganze Nacht lang von einer Seite des Betts zur andern. Du kannst nicht schlafen. Was ist los? Der Blues hat dich ~ Du stehst auf und sitzt in der Früh auf deiner Seite vom Bett, kann sein, du hast eine Schwester und einen Bruder, eine Mutter oder einen Vater um dich rum, aber du willst nicht, daß sie mit dir reden. Was ist los? Der Blues hat dich i Dann stehst du auf und stellst deine Füße unter den Tisch, du schaust auf dein Frühstück, alles, was du essen möchtest, ist da. Du stehst auf schüttelst den Kopf und du sagst: Herrgott, ich kann nichts essen und nichts trinken. Was ist los? Der Blues hat dich! Will mit dir reden. Hör, was du ihm zu sagen hast:Guten Morgen Blues, Blues wie geht's dir so?Ich geh grad drauf, Guten Morgen, was machst du.)
Schlechte Zeiten für "weiße, angelsächsische Protestanten" schon damals. Denn selbst den Blues zu haben sprach ihnen einer wie Leadbelly, den sie aus dem Gefängnis gelassen hatten, um sein Repertoire von über fünfhundert Songs anzuzapfen und um sich in den Konzerten beim Anblick des ungeschlachten Mordbuben mit seiner Zwölfsaitigen gepflegt zu gruseln, glatt ab. Und jüngst setzte David Honeyboy Edwards in seiner Autobiografie "The World Don't Owe Me Nothing" noch eins drauf: "Weil sie weiß sind, weiße Musiker, bekommen sie den Ertrag unserer Musik, wenn sie Blues spielen. Sie erhalten mehr Anerkennung für unsere Musik als wir selbst. Andererseits macht es den Blues auch populärer. Ich habe verschiedene Ansichten darüber ... Eine Menge dieser weißen Jungs spielen den Blues wirklich gut. Allerdings hat die Sache einen Haken: Die meisten können ihn überhaupt nicht singen."
Alles klar? Von wegen. So schwarz, wie der Blues gern wäre, ist er nämlich vielleicht gar nicht. So, wie David Honeyboy Edwards selbst einen Schuß Indianerblut in seinen Adern hat, so multikulturell sind die Einflüsse, denen er entsprang: Afrikanisches sowieso, aber dazu aus Hawaii die Slide-Technik, aus den Alpen und den Prärien die Jodler, und wer etwa die Musik der brasilianischen Cangaçeiros mit offenen Ohren hört, weiß auch nicht so recht, wer was von wem hat. Mit Sicherheit ist der Blues nicht von heute auf morgen als fertige Sing- und Spielweise entstanden, sondern hat sich über lange Zeiträume hin und unter spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen entwickelt.
Houston A. Baker jr. beschrieb das in seiner unter Musikern viel zu wenig bekannten Untersuchung "Blues, Ideology, and Afro-American Literature. A vernacular Theory": "Die Blues sind eine Synthese ... Sie vereinigen Work Songs, weltlichen Gruppengesang, Field Hollers, geistliche Harmonien, sprichwörtliche Weisheiten, volkstümliche Philosophie, politische Kommentare, schlüpfrigen Humor, elegische Klagen und noch viel mehr, sie stellen ein Gemisch dar, das in Amerika immer in Bewegung gewesen zu sein scheint - und das die besonderen Erfahrungen von Afrikanern in der Neuen Welt ständig ausgebildet, geformt, verformt und durch neue ersetzt hat."Der Blues ist der entscheidende Beitrag der schwarzen Bevölkerung zur amerikanischen (Musik-)Kultur. Er ist zudem, um mit Baker zu sprechen, die "Matrix afroamerikanischen Lebens" überhaupt. "Die Matrix ist ein Punkt ständigen Inputs und Outputs, ein Netz aus einander überlagernden und sich kreuzenden Impulsen, die sich immer auf produktive Weise voranbewegen. Afroamerikanische Blues stellen solch ein vibrierendes Netzwerk dar." Genau auf diese Weise überlagern und ergänzen sich die individuellen Definitionen der Blues Interpreten. Sie alle befinden sich innerhalb der Blues-Matrix.
Booker (Bukka) White: "Die Grundlage des Blues ist die Arbeit hinter einem Maultier, damals, zu den Zeiten der Sklaverei", oder Champion Jack Dupree: "You got a good woman and lose her, that's the beginning of the blues" (zum Autor, auf die Frage, was denn der Blues für ihn sei).Lightnin' Hopkins: "Also, das ist der Blues - nimm deine Sorge und bau daraus eine kleine Geschichte. Glaub nicht, daß die Sorge deswegen verschwindet. Es ist, wie wenn Mama dir eine Salbe auflegt, wenn dich die Biene gestochen hat - es nimmt den scheußlichen Schmerz weg."
Willie Dixon: "Der Blues ist das überbringen einer Botschaft in einem Song. Aber heutzutage hören die Leute nicht mehr in einen Song hinein, um Information zu bekommen. Sie singen den Song wegen seiner musikalischen oder rhythmischen Qualität und erfassen so niemals den wirklichen Sinn des Songs. Die Leute haben den originalen Blues verloren und den Blues selbst wegen der anderen Erfindungen drum herum. Deswegen beschreibe ich Musik immer so: Die Blues sind die Wurzeln und die anderen Musiken sind die Früchte. Ohne die Wurzeln hat man keine Früchte, also ist es besser, die Wurzeln am Leben zu halten, denn das bedeutet, von nun an bessere Früchte zu haben. Deswegen sage ich, die Blues werden immer da sein, denn die Blues sind die Wurzeln der amerikanischen Musik."Sam Chatmon: "Die Blues kamen teils auch aus New Orleans und dem Jazz. Und man hat sie aus Kirchenliedern abgeleitet. Und ich sag dir, warum die Blues entstanden. Es ist eine Ausdrucksweise, die eine Person hat - er will dir etwas erzählen und er kann es mit seinen Worten nicht tun, also singt er es dir vor."
Wenn man den Blues unter Respektierung seiner vielfachen Wurzeln individualisiert, wird klar, daß eine Blues-Frau und ein Blues-Mann nur sein konnte, wer ihn entweder selbst erfand oder durch kongeniale Interpretation sich aneignete und weiterentwickelte. Ob das im textlichen oder instrumentalen Bereich war, spielte dann kaum eine Rolle. Daß freilich den Instrumentalisten und Sängern in Personalunion der meiste Respekt gebührt, steht für mich und damit in diesem Buch außer Zweifel. Es sind die archaisch-anarchischen, fast mythischen Gestalten der Sängerinnen und Sänger aus der immer besser erforschten Frühzeit des Blues, denen besondere Beachtung gebührt, allen voran der dämonische Robert Johnson, aber auch die derbe Ma Rainey, die kaiserliche Bessie Smith, der kompakte Charlie Patton, der elegante Lonnie Johnson, der schlüpfrige Tampa Red oder der fingerfertige Blind Blake, um nur einige zu nennen. Damit soll nichts gegen rein reproduzierende Musiker und Interpreten gesagt sein, aber sie werden in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle spielen.
Die Hauptrolle spielt ohnehin der Blues selbst. Denn er war und ist spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Basis der gesamten modernen amerikanischen Unterhaltungsmusik, vom Jazz bis zum Rock'n'Roll, vom Schlager bis zum Musical. Obwohl seine Ursprünge nach wie vor im Dunkeln liegen und die Forschung inzwischen afrikanische Einflüsse (etwa aus Mali) stärker einbezieht, wird der Blues erst Ende des 19. Jahrhunderts als eine Musikform greifbar, die die Gesamtheit der Erfahrungen und Gefühlsregungen schwarzer Menschen ausdrücken konnte. Zwei Hauptformen sind zu unterscheiden:
a) Der städtische Blues, der in den dortigen Vergnügungsvierteln entstand und als Vaudeville-Blues meist von einer JazzBand mit einer Sängerin vorgetragen, bald auch von der Plattenindustrie auf so genannten "Race Records" speziell für den schwarzen Markt produziert und verkauft oder von Einzelunterhaltern und kleinen Gruppen in Kneipen und Bordellen dargeboten wurde. Zentren waren unter anderem Chicago, Kansas City, St. Louis, Dallas, Memphis und New Orleans.
b) Der ländliche Blues, heute auch gern "downhome blues" genannt, der von vagabundierenden Einzelsängern, Duos, String- oder Jug-Bands professionell gegen Entgelt erfunden und aufgeführt wurde. Solche Sessions wurden schon sehr bald zu kommerziellen Zwecken von Talent-Suchern der Plattenfirmen mitgeschnitten und auf den Markt gebracht - ein Umstand, dem wir die günstige dokumentarische Lage für den älteren Blues verdanken. Dieser wurde aber wohl auch als privates Freizeit Vergnügen praktiziert, zumindest bis zu dem Tag, an dem ein Folklore-Forscher mit Aufnahmegerät vor der Tür stand.
Entgegen der landläufigen Tanzmusik-Definition sind die Blues weder notwendigerweise langsam noch traurig. Sie umfassen das gesamte Spektrum menschlicher Lebensäußerungen: Freude, Trauer, Liebe, Haß, Witz, Ernst, Tragik, Komik, Lust und Leid. Eine Besonderheit der Texte ist in vielen Fällen ihre Doppeldeutigkeit, der so genannte "Double-Talk", nicht nur im erotisch-sexuellen Bereich, sondern auch im politischen.Es war dies mit Sicherheit eine Selbstschutz-Strategie, um nicht mit den jeweiligen Obrigkeiten in Konflikt zu geraten. In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß der Blues weit unter- und außerhalb der bürgerlichen weißen und, soweit vorhanden, schwarzen Gesellschaftsschichten angesiedelt war, vor allem in der Zeit der Prohibition. Freilich erregte er gerade dadurch das Interesse junger nichtkonformer Weißer, die sich zunächst für die Musik begeisterten, bald aber auch den Lebensstil der schwarzen Protagonisten kopierten - bis heute.
Was die meisten Fans in ihrem Enthusiasmus freilich vergessen, ist, daß der Blues von individuellen Erfahrungen handelt, die einer Gemeinde von Eingeweihten mitgeteilt werden. Man kann die Musik zwar bis ins letzte Detail kopieren und spielen lernen, aber, wie der Delta-Blues-Musiker David Honeyboy Edwards oben lakonisch anmerkte, "sobald sie (die jungen weißen Blues-Musiker) den Mund aufmachen, ist der Ofen aus". Edwards meinte junge Amerikaner, wohlgemerkt. Was er von dem urigen Mississippi-Denglisch-Geknödel hiesiger Muddy-Waters-Imitatoren halten würde, mag man sich lieber nicht vorstellen.
Die Blues-Forschung in den USA ist in mehreren Wellen erfolgt. Pionieren wie John A. Lomax und seinem Sohn Alan, die im Kontext der Folksongs, der Cowboy-Folklore und des Gospels den Blues entdeckt hatten und ihn vor allem in den Gefängnissen der Südstaaten sammelten, taten es in den sechziger Jahren junge Enthusiasten nach, die sich auf die Spuren legendärer Sänger wie etwa Robert Johnson setzten, viele überlebende ausfindig machten und neu aufnahmen. Seither werden verstärkt die regionalen Varianten des Blues untersucht, also etwa der Texas-Blues, der Piedmont-Blues, der Red-River-Blues und viele andere. In jüngster Zeit hat sich die feministische Forschung umfänglich mit den widerständigen Inhalten der Vaudeville-Blues von Sängerinnen wie Alberta Hunter, Bessie Smith, Ma Rainey oder Victoria Spivey beschäftigt und den Subtexten von Gewalt, lesbischer Sexualität und weiblichen Gegenstrategien zum Patriarchat der weißen wie der schwarzen Bosse nachgespürt.
Das Material dazu lieferten die wieder geöffneten Archive der privaten und öffentlichen Sammlungen, die dank der neuen Technologien der Digitalisierung und Entrauschung ein fast verschüttetes Erbe wieder gut hörbar machten. Der Erfolg der Robert-Johnson-Edition trug sicher ebenfalls dazu bei, daß seit 1995 die Blues der zwanziger bis fünfziger Jahre, also der Schellack-Epoche, auf CD-Alben wieder erhältlich sind. Die meisten sind zudem liebevoll und kompetent ediert.Die Rezeption dieser Musik war zur Zeit ihres Entstehens in Deutschland kaum möglich. Die Race Records wurden nicht exportiert, alles Weitere verhinderte die Nazi-Barbarei. Deshalb ist bei uns die Vorstellung vom Blues immer noch stark geprägt von den Blues-Interpreten der Nachkriegszeit, insbesondere vom Chicago-Blues und von der amerikanischen Folksong-Bewegung um Pete Seeger, die eine puristische, dem Kunstlied zuneigende Interpretation traditioneller Songs für besonders authentisch hielt. Da Sänger wie Big Bill Broonzy, Josh White oder Dave van Ronk in den fünfziger Jahren sich dieser Forderung anpaßten, wurden sie zeitweise immens populär, verhinderten damit aber lange Zeit die Rezeption bodenständigerer Blues-Musiker von Slim Harpo bis Howlin' Wolf.
Auch der Rhythm & Blues wurde hierzulande fast ausgelassen, dem Dixieland-Revival der Dutch Swing College Band und Chris Barbers folgte gleich der Rock'n'Roll eines Elvis Presley und des abtrünnigen Bluesers Chuck Berry, der es auf kleine weiße Mädels abgesehen hatte. Die Skiffle-Bewegung, eine Simplifizierung der Jug-Band-Musik, war ein spezifisch englisches Phänomen, das im Wesentlichen mit Lonnie Donegan personifizieren läßt. So stand einer akademisch-idealistisch-puristischen Jazz-Gemeinde europaweit ein kleines, ebenfalls zu jedweder Dogmatik neigendes Häuflein von Blues Enthusiasten gegenüber, das erhebliche Informations-Defizite aufwies. Manche davon wirken sich bis heute aus.
Es ist daher die Absicht dieser Darstellung, einige Akzente anders zu setzen als bisher üblich. Der Autor rechnet deshalb mit heftigem Widerspruch oder lebhafter Zustimmung, hofft auf Anregungen und bittet um Korrekturen, weist aber vorsorglich darauf hin, daß Daten und Fakten in Blues-Biografien selten solide sind und er sich nach bestem Wissen und Gewissen für die plausibelste Variante und die bestmögliche Quelle entschieden hat.
(Ich ging zu der Kreuzung, fiel auf meine Knie. (2x)Bat den lieben Gott um Gnade, hilf Bob, dem Armen, bitte sehr.)
Rein musikalisch gesehen, ist der Blues zunächst geradezu simpel und schematisch, das macht es so schwierig, ihn einfallsreich und interessant zu spielen. Dazu ist im Grunde eine erhebliche Virtuosität innerhalb des Genres nötig, wie die Einspielungen der Meister zeigen: ausgefeilte Picking Technik, Experimente mit offenen Gitarrenstimmungen, übernahme von Einflüssen anderer Musik-Stile wie Gospel, Ragtime oder Techniken wie das Sliden, der Walking Bass oder das Boogie-Ostinato in unendlichen Variationen. Allerdings: Der Blues ist viel mehr als einfach nur ein Musikstil und entzieht sich somit erfolgreich der grauen Theorie. Man hat ihn. Man singt und spielt ihn oder man hört dem zu, der ihn singt und spielt. Manche leben ihn, freiwillig oder unfreiwillig. Er ist Singular und Plural in einem - "The blues got me und I got these blues". Er ist die Basis aller angloamerikanischen populären Musik, die sich nicht direkt aus der europäischen Folklore ableiten läßt. Er hat Geschwister in Afrika, Brasilien und Hawaii und er hatte ein Baby, das nannte man Rock'n'Roll.
Den Blues ziert keine illustre Verwandtschaft, aber zu ihm gehören ehrliche Leute. Viele seiner Abkömmlinge gingen ins Show-Business: Boogie, Rhythm & Blues, Dixieland, Skiffle, Blues-Rock. Einige studierten und wurden Intellektuelle: Jazz, Free Jazz. Andere zogen in die Metropolen und modernisierten ihn: Soul, Hip-Hop, Rap. Inzwischen taucht er manchmal sogar als Sample bei Moby oder in Techno-Stücken auf. Wenn B. B. King und Eric Clapton ihn zusammen spielen, kauft ein Millionenpublikum das Album, egal, was Puristen, Leute mit Geschmack, Kenner oder Fans davon halten. Das führt immerhin dazu, daß man den Blues nachhaltig wahrnimmt, auch im 21. Jahrhundert. Dessen definitiver Blues-Sänger stand freilich schon im späten 20. Jahrhundert fest: Captain Beefheart alias Don Van Vliet.
Als in den Sechzigern ebenfalls Millionen eine Single der Rolling Stones mit dem Titel "Love In Vain" hören wollten, ahnte kaum jemand, daß es sich um einen Blues von Robert Johnson, dem großartigen Mississippi-Delta-Sänger und Gitarristen, handelte. Erst als Mitte der neunziger Jahre ein weiteres, bis heute andauerndes Blues-Revival einsetzte, das sich insbesondere auf die archivalischen Schätze des Vorkriegs-Blues richtete, wurde zur allgemeinen überraschung eine Gesamtaufnahme der Blues-Klassiker von Robert Johnson über eine halbe Million Mal verkauft. Pop als Blues? Blues als Pop? Einmal so, einmal anders?
Fragen, die nur mit einem deutlichen "Jein" beantwortet werden können. Denn wie das Wort Pop auch, das einerseits eine Abkürzung für "popular culture" ist und den gesamten Bereich populärer Vergnügen umfaßt, andererseits aber einfach populäre Musik von der Heimatschnulze bis zur Noise Avantgarde bedeutet, war der Begriff Blues von Anfang an mit einer Doppelbedeutung behaftet. Schuld daran war kein Geringerer als sein angeblicher Vater W C. Handy selbst.
Dessen eigentlich für Tanzkapellen komponierte Stücke, die er auf den Straßen von Memphis adaptiert, als Notenblätter veröffentlicht und als Blues betitelt hatte, lösten nämlich die erste Blues Welle in Amerika aus. Blues war hier analog zu Bezeichnungen wie Charleston oder Shimmy der Name für eine bestimmte Art von Tanzmusik, die mehr oder weniger nach dem Blues-Schema funktionierte - eher weniger offenbar, denn schon in seinen Megahit "St. Louis Blues" schrieb Handy abwechslungshalber eine Einleitung im Tango-Rhythmus hinein.
Von welchen Blues-Arten soll also in der Folge die Rede sein? Vom Tanz-Blues, vom Blues-Tanz, vom Landeier-Blues oder von dem der Stadtstreuner, vom Blues im Bordell oder vom Revival-Blues im Hörsaal oder Stadttheater? Lassen wir Experten sprechen, doch auch die blicken nicht ganz durch:"Der Blues als eigenständige musikalische Form ist wahrscheinlich in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, doch der Stil und die "Blues-Stimmung" waren schon seit über hundertfünfzig Jahren Bestandteil der Musik der nordamerikanischen Neger. Ein Blues ist ein tief empfundener Song von ganz persönlicher, gefühlsbestimmter Eigenart. Im Blues fanden die Gefühle der Negersänger in allen Teilen des amerikanischen Südens ihren Niederschlag, und als sich die regellose Vielfalt der Plantagenlieder langsam in lose Muster ordnete, wurde der Blues zu einem Teil des Negerlebens selbst."
So romantisierend und gefühlig konnte Samuel B. Charters noch in den fünfziger Jahren sein, als er sein bis heute unverzichtbares Standardwerk "Country Blues" verfaßte. Einen scharfen, witzigen Verstand, Showmanship und geschäftliches Kalkül wollte er seinen Protagonisten nicht so gern zuschreiben.Auch Giles Oakley wandelte 1976 auf dem Pilgerpfad der großen Gefühle. Aber er sah schon mehr: "Für diejenigen, die versuchten eine geordnete Frömmigkeit, eine anerkannte, allgemein gültige Handlungsnorm im Leben aufrechtzuerhalten, die wenigstens im Tod noch Freiheit bringen würde, war es die Musik des Teufels ... Aber für die, die ihn sangen und ihn auch heute noch singen, ist er eine Musik des Gefühls, der direkten Beobachtung und des Feststellens von dem, was ist, und nicht, was sein könnte, unverziert, unvollkommen und ohne Ansprüche."
Davor schon hatte der Franzose Hugues Panassic charakteristische Züge von Blues Texten festgestellt: "Die Texte des Blues - die sich der Sänger oft selber ausdenkt - spiegeln die Lebenseinstellung der Schwarzen wider: Auf eine Melodie mit dramatischem Akzent werden häufig komische, humorvolle Texte gesungen; und mitunter begleiten dramatische Texte voll bitterer Wahrheit eine heitere Melodie."
Der Blues ist schwer zu fassen. Nimmt man ihn zu eng, rutscht er zwischen den Fingern durch; definiert man ihn zu breit, landet man bei Sprüchen wie "Ois is Blues"; legt man ihn einseitig auf Gefühl, Protest oder Unterhaltung fest, macht er sich aus dem Staub. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Blues eine besondere Haltung der Musik, der Welt, Gott und Teufel, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber. Er definierte sich bei jedem einzelnen seiner Interpreten auf ganz besondere, eigenartige, individuelle Art. Ich werde deswegen keine eigene, nur scheinbar objektive Definition des Blues versuchen, sondern verschiedene prägnante Aussagen von Blues-Musikern zitieren, die in ihrer Gesamtheit eine Ahnung von der existenziellen Dimension des Blues ermöglichen.Hier sind einige davon. Die schockierendsten gleich zu Beginn. Leadbelly in der Einleitung zu "Good Morning Blues":
"Now, this is the blues. Never the white man had the blues, `cause nothing to worry about. Now you lay down at night. You roll from one side of the bed to the other all night long. You can't sleep. What's the matter? The Blues has got ya? You git up and sit on your side of your bed in the morning, may have a sister and a brother, a mother and father around, but you don't want no talk out of them. What's the matter? The blues got ya? When you go and put your feet under the table, look down at your plate, got everything you wanna eat. With your shaky head you get up and you say: Lord, I can't eat I can't drink. What's the matter? The blues got ya? Wanna talk to ya. Hear, what you got to tell em:
Good morning blues, blues how do you do?Good morning blues, blues how do you do?I'm dyin allright, good morning, how are you?"
(Also, das ist der Blues. Niemals hatte der weiße Mann den Blues, denn er hatte keine Sorgen. Also, du liegst nachts da. Du wälzt dich die ganze Nacht lang von einer Seite des Betts zur andern. Du kannst nicht schlafen. Was ist los? Der Blues hat dich ~ Du stehst auf und sitzt in der Früh auf deiner Seite vom Bett, kann sein, du hast eine Schwester und einen Bruder, eine Mutter oder einen Vater um dich rum, aber du willst nicht, daß sie mit dir reden. Was ist los? Der Blues hat dich i Dann stehst du auf und stellst deine Füße unter den Tisch, du schaust auf dein Frühstück, alles, was du essen möchtest, ist da. Du stehst auf schüttelst den Kopf und du sagst: Herrgott, ich kann nichts essen und nichts trinken. Was ist los? Der Blues hat dich! Will mit dir reden. Hör, was du ihm zu sagen hast:Guten Morgen Blues, Blues wie geht's dir so?Ich geh grad drauf, Guten Morgen, was machst du.)
Schlechte Zeiten für "weiße, angelsächsische Protestanten" schon damals. Denn selbst den Blues zu haben sprach ihnen einer wie Leadbelly, den sie aus dem Gefängnis gelassen hatten, um sein Repertoire von über fünfhundert Songs anzuzapfen und um sich in den Konzerten beim Anblick des ungeschlachten Mordbuben mit seiner Zwölfsaitigen gepflegt zu gruseln, glatt ab. Und jüngst setzte David Honeyboy Edwards in seiner Autobiografie "The World Don't Owe Me Nothing" noch eins drauf: "Weil sie weiß sind, weiße Musiker, bekommen sie den Ertrag unserer Musik, wenn sie Blues spielen. Sie erhalten mehr Anerkennung für unsere Musik als wir selbst. Andererseits macht es den Blues auch populärer. Ich habe verschiedene Ansichten darüber ... Eine Menge dieser weißen Jungs spielen den Blues wirklich gut. Allerdings hat die Sache einen Haken: Die meisten können ihn überhaupt nicht singen."
Alles klar? Von wegen. So schwarz, wie der Blues gern wäre, ist er nämlich vielleicht gar nicht. So, wie David Honeyboy Edwards selbst einen Schuß Indianerblut in seinen Adern hat, so multikulturell sind die Einflüsse, denen er entsprang: Afrikanisches sowieso, aber dazu aus Hawaii die Slide-Technik, aus den Alpen und den Prärien die Jodler, und wer etwa die Musik der brasilianischen Cangaçeiros mit offenen Ohren hört, weiß auch nicht so recht, wer was von wem hat. Mit Sicherheit ist der Blues nicht von heute auf morgen als fertige Sing- und Spielweise entstanden, sondern hat sich über lange Zeiträume hin und unter spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen entwickelt.
Houston A. Baker jr. beschrieb das in seiner unter Musikern viel zu wenig bekannten Untersuchung "Blues, Ideology, and Afro-American Literature. A vernacular Theory": "Die Blues sind eine Synthese ... Sie vereinigen Work Songs, weltlichen Gruppengesang, Field Hollers, geistliche Harmonien, sprichwörtliche Weisheiten, volkstümliche Philosophie, politische Kommentare, schlüpfrigen Humor, elegische Klagen und noch viel mehr, sie stellen ein Gemisch dar, das in Amerika immer in Bewegung gewesen zu sein scheint - und das die besonderen Erfahrungen von Afrikanern in der Neuen Welt ständig ausgebildet, geformt, verformt und durch neue ersetzt hat."Der Blues ist der entscheidende Beitrag der schwarzen Bevölkerung zur amerikanischen (Musik-)Kultur. Er ist zudem, um mit Baker zu sprechen, die "Matrix afroamerikanischen Lebens" überhaupt. "Die Matrix ist ein Punkt ständigen Inputs und Outputs, ein Netz aus einander überlagernden und sich kreuzenden Impulsen, die sich immer auf produktive Weise voranbewegen. Afroamerikanische Blues stellen solch ein vibrierendes Netzwerk dar." Genau auf diese Weise überlagern und ergänzen sich die individuellen Definitionen der Blues Interpreten. Sie alle befinden sich innerhalb der Blues-Matrix.
Booker (Bukka) White: "Die Grundlage des Blues ist die Arbeit hinter einem Maultier, damals, zu den Zeiten der Sklaverei", oder Champion Jack Dupree: "You got a good woman and lose her, that's the beginning of the blues" (zum Autor, auf die Frage, was denn der Blues für ihn sei).Lightnin' Hopkins: "Also, das ist der Blues - nimm deine Sorge und bau daraus eine kleine Geschichte. Glaub nicht, daß die Sorge deswegen verschwindet. Es ist, wie wenn Mama dir eine Salbe auflegt, wenn dich die Biene gestochen hat - es nimmt den scheußlichen Schmerz weg."
Willie Dixon: "Der Blues ist das überbringen einer Botschaft in einem Song. Aber heutzutage hören die Leute nicht mehr in einen Song hinein, um Information zu bekommen. Sie singen den Song wegen seiner musikalischen oder rhythmischen Qualität und erfassen so niemals den wirklichen Sinn des Songs. Die Leute haben den originalen Blues verloren und den Blues selbst wegen der anderen Erfindungen drum herum. Deswegen beschreibe ich Musik immer so: Die Blues sind die Wurzeln und die anderen Musiken sind die Früchte. Ohne die Wurzeln hat man keine Früchte, also ist es besser, die Wurzeln am Leben zu halten, denn das bedeutet, von nun an bessere Früchte zu haben. Deswegen sage ich, die Blues werden immer da sein, denn die Blues sind die Wurzeln der amerikanischen Musik."Sam Chatmon: "Die Blues kamen teils auch aus New Orleans und dem Jazz. Und man hat sie aus Kirchenliedern abgeleitet. Und ich sag dir, warum die Blues entstanden. Es ist eine Ausdrucksweise, die eine Person hat - er will dir etwas erzählen und er kann es mit seinen Worten nicht tun, also singt er es dir vor."
Wenn man den Blues unter Respektierung seiner vielfachen Wurzeln individualisiert, wird klar, daß eine Blues-Frau und ein Blues-Mann nur sein konnte, wer ihn entweder selbst erfand oder durch kongeniale Interpretation sich aneignete und weiterentwickelte. Ob das im textlichen oder instrumentalen Bereich war, spielte dann kaum eine Rolle. Daß freilich den Instrumentalisten und Sängern in Personalunion der meiste Respekt gebührt, steht für mich und damit in diesem Buch außer Zweifel. Es sind die archaisch-anarchischen, fast mythischen Gestalten der Sängerinnen und Sänger aus der immer besser erforschten Frühzeit des Blues, denen besondere Beachtung gebührt, allen voran der dämonische Robert Johnson, aber auch die derbe Ma Rainey, die kaiserliche Bessie Smith, der kompakte Charlie Patton, der elegante Lonnie Johnson, der schlüpfrige Tampa Red oder der fingerfertige Blind Blake, um nur einige zu nennen. Damit soll nichts gegen rein reproduzierende Musiker und Interpreten gesagt sein, aber sie werden in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle spielen.
Die Hauptrolle spielt ohnehin der Blues selbst. Denn er war und ist spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Basis der gesamten modernen amerikanischen Unterhaltungsmusik, vom Jazz bis zum Rock'n'Roll, vom Schlager bis zum Musical. Obwohl seine Ursprünge nach wie vor im Dunkeln liegen und die Forschung inzwischen afrikanische Einflüsse (etwa aus Mali) stärker einbezieht, wird der Blues erst Ende des 19. Jahrhunderts als eine Musikform greifbar, die die Gesamtheit der Erfahrungen und Gefühlsregungen schwarzer Menschen ausdrücken konnte. Zwei Hauptformen sind zu unterscheiden:
a) Der städtische Blues, der in den dortigen Vergnügungsvierteln entstand und als Vaudeville-Blues meist von einer JazzBand mit einer Sängerin vorgetragen, bald auch von der Plattenindustrie auf so genannten "Race Records" speziell für den schwarzen Markt produziert und verkauft oder von Einzelunterhaltern und kleinen Gruppen in Kneipen und Bordellen dargeboten wurde. Zentren waren unter anderem Chicago, Kansas City, St. Louis, Dallas, Memphis und New Orleans.
b) Der ländliche Blues, heute auch gern "downhome blues" genannt, der von vagabundierenden Einzelsängern, Duos, String- oder Jug-Bands professionell gegen Entgelt erfunden und aufgeführt wurde. Solche Sessions wurden schon sehr bald zu kommerziellen Zwecken von Talent-Suchern der Plattenfirmen mitgeschnitten und auf den Markt gebracht - ein Umstand, dem wir die günstige dokumentarische Lage für den älteren Blues verdanken. Dieser wurde aber wohl auch als privates Freizeit Vergnügen praktiziert, zumindest bis zu dem Tag, an dem ein Folklore-Forscher mit Aufnahmegerät vor der Tür stand.
Entgegen der landläufigen Tanzmusik-Definition sind die Blues weder notwendigerweise langsam noch traurig. Sie umfassen das gesamte Spektrum menschlicher Lebensäußerungen: Freude, Trauer, Liebe, Haß, Witz, Ernst, Tragik, Komik, Lust und Leid. Eine Besonderheit der Texte ist in vielen Fällen ihre Doppeldeutigkeit, der so genannte "Double-Talk", nicht nur im erotisch-sexuellen Bereich, sondern auch im politischen.Es war dies mit Sicherheit eine Selbstschutz-Strategie, um nicht mit den jeweiligen Obrigkeiten in Konflikt zu geraten. In diesem Zusammenhang muß betont werden, daß der Blues weit unter- und außerhalb der bürgerlichen weißen und, soweit vorhanden, schwarzen Gesellschaftsschichten angesiedelt war, vor allem in der Zeit der Prohibition. Freilich erregte er gerade dadurch das Interesse junger nichtkonformer Weißer, die sich zunächst für die Musik begeisterten, bald aber auch den Lebensstil der schwarzen Protagonisten kopierten - bis heute.
Was die meisten Fans in ihrem Enthusiasmus freilich vergessen, ist, daß der Blues von individuellen Erfahrungen handelt, die einer Gemeinde von Eingeweihten mitgeteilt werden. Man kann die Musik zwar bis ins letzte Detail kopieren und spielen lernen, aber, wie der Delta-Blues-Musiker David Honeyboy Edwards oben lakonisch anmerkte, "sobald sie (die jungen weißen Blues-Musiker) den Mund aufmachen, ist der Ofen aus". Edwards meinte junge Amerikaner, wohlgemerkt. Was er von dem urigen Mississippi-Denglisch-Geknödel hiesiger Muddy-Waters-Imitatoren halten würde, mag man sich lieber nicht vorstellen.
Die Blues-Forschung in den USA ist in mehreren Wellen erfolgt. Pionieren wie John A. Lomax und seinem Sohn Alan, die im Kontext der Folksongs, der Cowboy-Folklore und des Gospels den Blues entdeckt hatten und ihn vor allem in den Gefängnissen der Südstaaten sammelten, taten es in den sechziger Jahren junge Enthusiasten nach, die sich auf die Spuren legendärer Sänger wie etwa Robert Johnson setzten, viele überlebende ausfindig machten und neu aufnahmen. Seither werden verstärkt die regionalen Varianten des Blues untersucht, also etwa der Texas-Blues, der Piedmont-Blues, der Red-River-Blues und viele andere. In jüngster Zeit hat sich die feministische Forschung umfänglich mit den widerständigen Inhalten der Vaudeville-Blues von Sängerinnen wie Alberta Hunter, Bessie Smith, Ma Rainey oder Victoria Spivey beschäftigt und den Subtexten von Gewalt, lesbischer Sexualität und weiblichen Gegenstrategien zum Patriarchat der weißen wie der schwarzen Bosse nachgespürt.
Das Material dazu lieferten die wieder geöffneten Archive der privaten und öffentlichen Sammlungen, die dank der neuen Technologien der Digitalisierung und Entrauschung ein fast verschüttetes Erbe wieder gut hörbar machten. Der Erfolg der Robert-Johnson-Edition trug sicher ebenfalls dazu bei, daß seit 1995 die Blues der zwanziger bis fünfziger Jahre, also der Schellack-Epoche, auf CD-Alben wieder erhältlich sind. Die meisten sind zudem liebevoll und kompetent ediert.Die Rezeption dieser Musik war zur Zeit ihres Entstehens in Deutschland kaum möglich. Die Race Records wurden nicht exportiert, alles Weitere verhinderte die Nazi-Barbarei. Deshalb ist bei uns die Vorstellung vom Blues immer noch stark geprägt von den Blues-Interpreten der Nachkriegszeit, insbesondere vom Chicago-Blues und von der amerikanischen Folksong-Bewegung um Pete Seeger, die eine puristische, dem Kunstlied zuneigende Interpretation traditioneller Songs für besonders authentisch hielt. Da Sänger wie Big Bill Broonzy, Josh White oder Dave van Ronk in den fünfziger Jahren sich dieser Forderung anpaßten, wurden sie zeitweise immens populär, verhinderten damit aber lange Zeit die Rezeption bodenständigerer Blues-Musiker von Slim Harpo bis Howlin' Wolf.
Auch der Rhythm & Blues wurde hierzulande fast ausgelassen, dem Dixieland-Revival der Dutch Swing College Band und Chris Barbers folgte gleich der Rock'n'Roll eines Elvis Presley und des abtrünnigen Bluesers Chuck Berry, der es auf kleine weiße Mädels abgesehen hatte. Die Skiffle-Bewegung, eine Simplifizierung der Jug-Band-Musik, war ein spezifisch englisches Phänomen, das im Wesentlichen mit Lonnie Donegan personifizieren läßt. So stand einer akademisch-idealistisch-puristischen Jazz-Gemeinde europaweit ein kleines, ebenfalls zu jedweder Dogmatik neigendes Häuflein von Blues Enthusiasten gegenüber, das erhebliche Informations-Defizite aufwies. Manche davon wirken sich bis heute aus.
Es ist daher die Absicht dieser Darstellung, einige Akzente anders zu setzen als bisher üblich. Der Autor rechnet deshalb mit heftigem Widerspruch oder lebhafter Zustimmung, hofft auf Anregungen und bittet um Korrekturen, weist aber vorsorglich darauf hin, daß Daten und Fakten in Blues-Biografien selten solide sind und er sich nach bestem Wissen und Gewissen für die plausibelste Variante und die bestmögliche Quelle entschieden hat.
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Autoren-Porträt von Carl-Ludwig Reichert
Reichert, Carl-LudwigCarl-Ludwig Reichert, geboren 1946, lebt in München. Seit seiner Schulzeit schreibt und publiziert er Lieder und Texte, widmet sich zahlreichen Mundart-, Rock-, Blues- und Folk-Projekten und arbeitet als Autor, Herausgeber, Übersetzer und Kolumnist für Rundfunk und Zeitungen. Er war 1972 Mitbegründer der Band Sparifankal, einer Bayernrock-Legende, und spielt heute mit bei der Band Wuide Wachl, über die Geoff Muldaur, eine der großen Stimmen der Folk- und Blues-Szene, sagt: »I don't know the hell what they 're saying, but somehow I'm behind them a hundred percent.« Veröffentlichungen von Carl-Ludwig Reichert unter anderem: 'Frank Zappa' (2000), 'Blues' (2001), 'Marie-Luise Fleißer' (2001), 'Folk' (2008).
Bibliographische Angaben
- Autor: Carl-Ludwig Reichert
- 2001, 2. Aufl., 272 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,6 x 21,2 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423242590
- ISBN-13: 9783423242592
Rezension zu „Blues “
»Reichert erweist sich als profunder Kenner und temperamentvoller Erzähler der Geschichte des Blues und seiner InterpretInnen.«Wochenzeitung, Zürich
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