Blut
Ein Kay-Scarpetta-Roman.
Der Hochsicherheitstrakt im Gefängnis von Savannah, Georgia. Eine schreckliche Mordserie versetzt die inhaftierten Frauen in Panik. Dr. Kay Scarpetta erkennt: Hier ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam...
Der Hochsicherheitstrakt im Gefängnis von Savannah, Georgia. Eine schreckliche Mordserie versetzt die inhaftierten Frauen in Panik. Dr. Kay Scarpetta erkennt: Hier ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam...
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Produktinformationen zu „Blut “
Ein Kay-Scarpetta-Roman.
Der Hochsicherheitstrakt im Gefängnis von Savannah, Georgia. Eine schreckliche Mordserie versetzt die inhaftierten Frauen in Panik. Dr. Kay Scarpetta erkennt: Hier ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam genug. Und es soll noch mehr Opfer geben...
»Ein messerscharfer Thriller über die cleverste Rechtsmedizinerin, die je eine Autopsie geleitet hat.« (Irish Examiner)
Der Hochsicherheitstrakt im Gefängnis von Savannah, Georgia. Eine schreckliche Mordserie versetzt die inhaftierten Frauen in Panik. Dr. Kay Scarpetta erkennt: Hier ist jemandem die Todesstrafe nicht grausam genug. Und es soll noch mehr Opfer geben...
»Ein messerscharfer Thriller über die cleverste Rechtsmedizinerin, die je eine Autopsie geleitet hat.« (Irish Examiner)
Klappentext zu „Blut “
Eine rätselhafte Mordserie versetzt die Frauen im Hochsicherheitstrakt von Savannah in Angst und Schrecken. Dr. Kay Scarpetta besucht das Gefängnis, wo jemandem die Todesstrafe offenbar nicht grausam genug ist. Und die Täterin hat es noch auf weit mehr Opfer abgesehen ...
Lese-Probe zu „Blut “
Die Kay-Scarpetta-Romane von Patricia Cornwell 1
... mehr
Eiserne Gleise, rostbraun wie getrocknetes Blut, durchschneiden eine rissige Teerstraße, die tiefer ins Land hineinführt. Als ich sie überquere, schießt mir durch den Kopf, dass die Justizvollzugsanstalt für Frauen auf der falschen Seite dieser Gleise liegt, so wie die schlechteren Wohnviertel einer Stadt. Vielleicht sollte ich das als Warnung deuten und umkehren. Es ist Donnerstag, der 30. Juni, kurz vor vier Uhr nachmittags, also noch genug Zeit, den letzten Flieger nach Boston zu erwischen. Allerdings weiß ich, dass ich jetzt nicht kneifen darf.
An diesem Teil der Küste ist Georgias Landschaft recht abwechslungsreich. Düstere, mit Greisenbart überwucherte Wälder und von gewundenen Bächen durchzogene Sümpfe werden von lichtdurchfluteten Wiesen abgelöst. Schneeweiße Silberreiher und Blaureiher fliegen tief und die Füße nachziehend über dem brackigen Wasser. Dann wird der Wald zu beiden Seiten der Teerstraße, auf der ich mich befinde, wieder dichter. Gekräuselte Kudzu-Ranken wachsen im Unterholz und hüllen die Baumkronen mit ihren schuppigen grünen Blättern ein. Riesige Zypressen mit dicken, knorrigen Knien erheben sich aus den Sümpfen, wie prähistorische Geschöpfe auf der Jagd nach Beute. Ich habe zwar bis jetzt weder einen Alligator noch eine Schlange gesehen, bin aber sicher, dass sie dort draußen lauern und das große, weiße Ungetüm, in dem ich mich dröhnend und rumpelnd fortbewege, mit Blicken verfolgen.
Es ist mir rätselhaft, wie ich an diese Schrottlaube geraten konnte, die die Spur nicht richtig hält und nach einer Mischung von Fastfood und Zigaretten, abgerundet von einem Hauch verfaultem Fisch, stinkt. Jedenfalls ist es nicht das Auto, das ich Bryce, meinen Verwaltungschef, zu reservieren gebeten hatte.
Sein Auftrag bestand darin, eine verkehrssichere, zuverlässige, mittelgroße Limousine zu mieten, vorzugsweise einen Volvo oder einen Toyota Camry mit vier Airbags und Navigationssystem. Als ich vor dem Terminal von einem jungen Mann in einem weißen Transporter ohne Klimaanlage erwartet wurde, in dem es nicht einmal eine Straßenkarte gibt, habe ich ihm mitgeteilt, dass da wohl ein Fehler passiert sein müsse. Offenbar habe man mir versehentlich ein Auto gebracht, das für jemand
anderen bestimmt sei. Doch er wies mich darauf hin, dass mein Name, Kate Scarpetta, auf dem Vertrag stünde. Ich widersprach, ich hieße erstens Kay und fände es zweitens bedeutungslos, auf welchen Namen der Vertrag laute. Ich hätte jedenfalls keinen Transporter bestellt. Die Autovermietung Lowcountry Concierge Service bedaure sehr, meinte der junge Mann, der ziemlich braungebrannt war und ein ärmelloses T-Shirt, Shorts mit Tarnmuster und wasserfeste Schuhe trug. Er habe auch keine Erklärung dafür. Offenbar ein Problem mit dem Computer. Natürlich werde er mir gern ein anderes Auto besorgen, doch das würde im besten Fall bis zum Abend dauern, vielleicht sogar bis morgen.
Schwülwarme Luft weht zum Fenster herein, und der faulige, schwefelartige Geruch von verrottenden Pflanzen, Salzmarschen und Morast steigt mir in die Nase. Der Transporter ruckelt um eine sonnenbeschienene Kurve, wo sich einige Truthahngeier gerade über einen Kadaver hermachen. Die riesigen, hässlichen Vögel mit ihren zottigen Flügeln und den nackten Hälsen flattern schwerfällig davon, während ich den starren Körper eines Waschbären umrunde. Die feuchte Luft trägt einen scharfen Verwesungsgeruch heran, den ich nur zu gut kenne. Ob Mensch oder Tier, spielt keine Rolle. Ich erkenne den Tod schon aus der Entfernung, und wenn ich aussteigen und mir den Kadaver aus der Nähe anschauen würde, könnte ich vermutlich den genauen Grund des Ablebens dieses Waschbären erkennen, den Zeitpunkt bestimmen und wahrscheinlich rekonstruieren, wie er niedergestreckt wurde und wovon.
Die meisten Menschen bezeichnen mich als Rechtsmedizinerin, doch einige halten mich für eine Leichenbeschauerin, und hin und wieder werde ich auch mit einer Polizeiärztin verwechselt. Doch genau genommen bin ich Medizinerin mit Fachgebiet Pathologie und Zusatzausbildungen in forensischer Pathologie und 3-D-bildgebender Radiologie - das heißt dem Einsatz von CT-Geräten, um das Innere einer Leiche zu untersuchen, bevor ich zum Skalpell greife. Außerdem bin ich studierte Juristin, habe den Rang eines Colonel der Reserve bei der Air Force inne und unterhalte deshalb besondere Beziehungen zum Verteidigungsministerium. Im vergangenen Jahr bin ich zur Leiterin des Cambridge Forensic Center ernannt worden, eines Gemeinschaftsprojekts des Pentagon, des Commonwealth of Massachusetts, des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Harvard.
Es ist mein Fachgebiet, festzustellen, was einen Menschen umgebracht hat, sei es nun eine Krankheit, ein Gift, ein Kunstfehler, eine Schusswaffe oder ein selbstgebastelter Sprengsatz. In meinem Beruf muss ich mich stets streng an gesetzliche Vorgaben halten. Ich habe keine andere Wahl, als objektiv zu sein und klinisch zu denken. Eine persönliche Meinung oder eine emotionale Reaktion auf einen Fall darf ich mir nicht erlauben, ganz gleich, wie tragisch oder grausam die Umstände auch sein mögen. Wenn ich selbst betroffen bin, wie zum Beispiel bei dem Mordanschlag vor vier Monaten, muss ich so unerschütterlich bleiben wie ein Fels. Man verlangt von mir Entschlossenheit, Gelassenheit und Ruhe.
»Sie werden mir doch kein Posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln, oder?«, fragte mich General John Briggs, der Chef der Armed Forces Medical Examiners, nachdem ich am 10. Februar beinahe in meiner eigenen Garage umgebracht worden wäre. »Solcher Mist passiert eben dann und wann, Kay. Auf der Welt wimmelt es von Durchgeknallten.«
»Ja, John, solcher Mist passiert eben dann und wann, und es wird nicht das letzte Mal sein«, antwortete ich, als ob alles in bester Ordnung wäre und ich den Zwischenfall bereits weggesteckt hätte, wohlwissend, dass ich in Wirklichkeit nicht so empfand. Nun will ich der Frage auf den Grund gehen, was in Jack Fieldings Leben schiefgelaufen ist. Dawn Kincaid soll den höchstmöglichen Preis für ihre Tat bezahlen: lebenslange Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung.
Ich schaue auf die Uhr, ohne die Hände vom Lenkrad dieses verdammten Transporters zu nehmen, der offenbar an einem schweren Fall von Schüttellähmung leidet. Vielleicht sollte ich umkehren. Der letzte Flug nach Boston geht in knapp zwei Stunden. Ich könnte es also noch schaffen. Doch ich weiß, dass ich nicht in der Maschine sitzen werde. Es mag ein Fehler sein, aber mein Ziel steht fest, als habe sich ein Autopilot meiner bemächtigt, möglicherweise ein waghalsiger oder gar einer, der auf Rache sinnt. Dass ich zornig bin, steht außer Frage. Wie mein Mann Benton Wesley, forensischer Psychologe beim FBI, gestern Abend sagte, als ich in unserem denkmalgeschützten Haus in Cambridge das Essen kochte: »Man will dich reinlegen, Kay. Möglicherweise in eine Falle locken. Aber was mich am meisten besorgt, ist, dass du dir selbst ein Bein stellst. Was du als deinen eigenen Wunsch wahrnimmst, proaktiv und hilfsbereit zu sein, ist in Wahrheit nur dein Bedürfnis, deine Schuldgefühle zu beschwichtigen.«
»Ich bin nicht schuld an Jacks Tod«, widersprach ich.
»Du hast, was ihn angeht, schon immer Schuldgefühle gehabt. Du hast sowieso wegen vieler Dinge Schuldgefühle, die eigentlich nicht dein Problem sind.«
»Ich verstehe.« Ich entfernte den Panzer der gekochten Riesen- Shrimps mit einer Chirurgenschere. »Wenn ich also zu dem Schluss gelange, ich könnte an nützliche Informationen herankommen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, sind das nur meine Schuldgefühle.«
»Du denkst, du müsstest alles in Ordnung bringen. Das war schon immer so. Bereits damals, als du ein kleines Mädchen warst und deinen kranken Vater gepflegt hast.«
»Im Moment kann ich eindeutig nichts in Ordnung bringen. « Ich warf die Panzer in den Müll und gab Salz in den Edelstahltopf mit Wasser, der auf dem Ceranherd, dem Mittelpunkt meiner Küche, blubberte. »Jack wurde als Junge sexuell missbraucht, und dagegen konnte ich nichts tun. Ich konnte nicht verhindern, dass er sein eigenes Leben an die Wand gefahren hat. Und nun wurde er ermordet, und dagegen war ich auch machtlos.« Ich griff nach einem Küchenmesser. »Es ist mir gerade mal gelungen, meine eigene Ermordung zu verhindern.« Als ich Zwiebeln und Knoblauch hackte, fuhr die dünne Stahl- klinge rasch und mit einem Klicken über das antibakteriell beschichtete Polypropylen.
»Du solltest einen Riesenbogen um Savannah machen«, mahnte mich Benton erneut, worauf ich erwiderte, ich müsse hinfliegen, und ihn bat, die Weinflasche zu öffnen und uns beiden zwei Gläser einzuschenken. Wir tranken und stritten weiter. Geistesabwesend stocherten wir im Ergebnis meines mangia bene, vivi felice cucina - Iss gut und lebe das glückliche Kochen. Doch wir waren nicht glücklich. Und das alles nur ihretwegen.
Kathleen Lawler hat ein furchtbares Leben hinter sich und verbüßt derzeit eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung in Verbindung mit Alkohol am Steuer. Inzwischen hat sie mehr Jahre hinter Gittern verbracht als in Freiheit, seit sie in den Siebzigern verurteilt worden ist, weil sie einen Jungen sexuell missbraucht hat, der später mein Stellvertreter Jack Fielding wurde. Nun ist er tot, in den Kopf geschossen von ihrem gemeinsamen Kind der Liebe, wie die Medien Dawn Kincaid nennen. Sie wurde zur Adoption freigegeben, während ihre Mutter wegen der Tat, bei der sie gezeugt wurde, im Gefängnis saß. Es ist eine sehr lange Geschichte. Bei diesem Satz ertappe ich mich in letzter Zeit ziemlich oft, und wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann dass eins unweigerlich zum anderen führt. Kathleen Lawlers katastrophale Vita ist ein ausgezeichnetes Beispiel, um zu illustrieren, was Wissenschaftler mit dem Ausspruch meinen, das Schlagen eines Schmetterlingsflügels könne irgendwo anders auf der Erde einen Orkan auslösen.
Während ich den dröhnenden und rumpelnden Mietwagen durch die zugewucherte, morastige Landschaft lenke, die vermutlich schon zur Zeit der Dinosaurier nicht viel anders ausgesehen hat, frage ich mich, welcher Flügelschlag eines Schmetterlings, welche beinahe unmerkliche Störung wohl Kathleen Lawler den Anstoß gegeben und den von ihr angerichteten Schaden ausgelöst haben mag. Ich stelle sie mir in ihrer fünf Quadratmeter großen Zelle mit der blitzblanken Edelstahltoilette, dem Bett aus grauem Metall und dem kleinen, mit Maschendraht abgedeckten Fenster vor, das den Blick auf einen Gefängnishof mit derbem Gras, Bänken aus Beton und Chemieklos bietet. Ich weiß, wie viele Garnituren Kleidung sie besitzt, keine »Sachen wie in der Freiheit«, hat sie mir in ihren E-Mails erklärt, die ich nicht beantworte. Nur Gefängnisuniformen, Hosen und Oberteile, jeweils zwei Stück. Sie hat jedes Buch in der Gefängnisbibliothek mindestens fünfmal gelesen und mir mitgeteilt, dass sie schriftstellerisches Talent hat. Vor einigen Monaten hat sie mir ein Gedicht über Jack geschickt.
Ich habe das Gedicht wieder und wieder gelesen, es Wort für Wort zerlegt und nach Botschaften zwischen den Zeilen gesucht. Zunächst war ich besorgt, die düstere Anspielung auf den eingeschalteten Gasherd könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kathleen Lawler Selbstmordgedanken hat. Vielleicht ist der Tod für sie ja so anziehend wie ein einladendes Motel, meinte ich zu Benton, der erwiderte, das Gedicht zeige, dass sie eine Soziopathin sei und an einer Persönlichkeitsstörung litte. Sie glaube nicht, dass sie etwas falsch gemacht habe. Sex mit einem zwölfjährigen Jungen in dem Heim für schwererziehbare Jugendliche, wo sie als Therapeutin tätig war, sei für sie etwas Schönes, eine Vereinigung in reiner und vollendeter Liebe. Es sei Schicksal gewesen. Ihre Bestimmung. Diese Sicht der Dinge
sei wahnhaft, sagte Benton.
Vor zwei Wochen brachen die Mails dann schlagartig ab, und mein Anwalt rief mich mit einer Bitte an: Kathleen Lawler wolle mit mir über Jack Fielding sprechen, den Protegé, den ich in den Anfangstagen meiner Karriere ausgebildet und mit dem ich im Laufe von zwanzig Jahren immer wieder zusammengearbeitet habe. Ich war einverstanden, mich mit ihr im Georgia Prison for Women zu treffen, doch nur im Rahmen eines privaten Besuchs. Ich werde weder als Dr. Kay Scarpetta noch als Leiterin des Cambridge Forensic Center auftreten. Heute bin ich nur Kay, und Jack ist das Einzige, was Kay und Kathleen gemeinsam haben. Unser Gespräch wird nicht unter die Schweigepflicht fallen, und es werden auch keine Anwälte, Aufseher oder andere Gefängnismitarbeiter anwesend sein.
Die Lichtverhältnisse ändern sich. Der dichte Nadelwald wird dünner und endet dann an einer tristen baumlosen Fläche. Das Gelände, es erinnert an ein Industriegebiet, ist mit grünen Metallschildern bestückt, die mich warnen, dass die Landstraße, auf der ich mich befinde, nun endet und dass die Zufahrt für Unbefugte verboten ist. Wer keine Zugangsberechtigung hat, muss jetzt umkehren. Ich fahre an einem Schrottplatz vorbei, wo sich verbogene und zerbeulte Autos und Lastwagen türmen. Danach kommt eine Gärtnerei mit Gewächshäusern und riesigen Kübeln, in denen Ziergräser, Bambus und Palmen wachsen. Direkt vor mir erstreckt sich eine große Rasenfläche mit Blumenbeeten voller bunter Petunien und Ringelblumen. Ich fühle mich wie in einem Stadtpark oder auf einem Golfplatz. Das Verwaltungsgebäude mit seinen weißen Säulen und roten Backsteinmauern bildet einen starken Kontrast zu den blauen Betontrakten, die ein Metalldach haben und von einem hohen Zaun umgeben sind. Doppelte Rollen aus rasiermesserscharfem Natodraht schimmern und funkeln in der Sonne wie die Klingen von Skalpellen.
Das Georgia Prison for Women ist eine Modelleinrichtung und gilt als herausragendes Beispiel für eine aufgeklärte und menschenwürdige Wiedereingliederung von Straftäterinnen. Viele durchlaufen während ihrer Haft eine Ausbildung als Klempnerin, Elektrikerin, Kosmetikerin, Schreinerin, Mechanikerin, Dachdeckerin, Landschaftsgärtnerin, Köchin oder Kellnerin. Gebäude und Gelände werden von den Insassinnen selbst instand gehalten. Sie kochen das Essen, arbeiten in der Bibliothek und im Schönheitssalon, leisten Hilfsdienste in der Krankenstation, geben ihre eigene Zeitschrift heraus und sind angehalten, hinter Gittern zumindest ihren High-School-Abschluss nachzuholen. Alle hier müssen etwas zur Gemeinschaft beitragen und bekommen dafür eine neue Chance, mit Ausnahme der Gefangenen im Hochsicherheitstrakt, auch Haus Bravo genannt, wo Kathleen Lawler vor zwei Wochen einquartiert wurde, also um die Zeit, als ihre E-Mails an mich so plötzlich abbrachen.
Ich stelle meinen Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und werfe einen Blick auf mein iPhone, in der Hoffnung, dass nichts Wichtiges geschehen ist, was meine Aufmerksamkeit erfordert, und dass Benton mir geschrieben hat. Und das hat er. »Wo du bist, soll es bald gewittern. Sei vorsichtig und gib mir Bescheid, wie es gelaufen ist. Ich liebe dich«, schreibt mein sachlicher, praktischer Ehemann, der mir stets den neuesten Wetterbericht oder andere nützliche Informationen zukommen lässt, wenn er an mich denkt. Ich liebe ihn auch, mir geht es gut, und ich werde ihn in ein paar Stunden anrufen, antworte ich, während ich beobachte, wie einige Männer in Anzug und Krawatte, begleitet von einem Aufseher, aus dem Verwaltungsgebäude kommen. Die Männer sehen aus wie Anwälte, vielleicht auch Vertreter der Strafvollzugsbehörde, denke ich und warte, bis sie in einem Zivilfahrzeug weggefahren sind. Dabei frage ich mich, wer sie sind und was sie hierhergeführt hat. Ich stecke das Telefon in meine Handtasche und schiebe sie unter den Sitz. Ich werde nichts mitnehmen als meinen Führerschein, einen unbeschrifteten Umschlag und den Autoschlüssel.
Die Sommersonne senkt sich auf mich wie eine schwere heiße Hand. Im Südwesten haben sich Wolken gebildet und ballen sich dick zusammen, und die Luft duftet nach Lavendel und Scheineller. Ich folge einem Betonweg, der zwischen blühenden Büschen und gepflegten Blumenbeeten hindurchführt, und werde von unsichtbaren Augen aus den schmalen Fenstern rings um den Gefängnishof beobachtet. Häftlinge haben nichts Besseres zu tun, als in eine Welt hinauszustarren, an der sie nicht mehr teilhaben können, und dabei Informationen zu sammeln. Die CIA könnte sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Ich spüre, wie ihr kollektives Bewusstsein meinen scheppernden weißen Transporter mit Nummernschildern aus South Carolina zur Kenntnis nimmt. Ebenso wie meine Kleidung, heute nicht das übliche Kostüm oder eine strapazierfähige Arbeitsuniform, sondern eine Khakihose, in der ein blauweiß gestreiftes Baumwollhemd steckt, dazu Slipper aus geflochtenem Leder und ein passender Gürtel. Ich trage keinen Schmuck, nur eine Titanuhr mit schwarzem Kunststoffarmband und meinen Ehering. Also ist es nicht leicht, aus meinem Äußeren auf meine Finanzen, meine Identität und meinen Beruf zu schließen. Nur der Transporter stört das Bild, das ich vermitteln wollte.
Eigentlich wollte ich wie eine blonde Frau mittleren Alters und mit lässiger Frisur wirken, die keine dramatisch wichtigen oder auch nur interessanten Dinge im Leben tut. Und dann dieses zerschrammte, ruckelnde weiße Monstrum, dessen Heckscheiben so dunkel getönt sind, dass sie fast schwarz aussehen. All das fällt mir ein, während ich spüre, wie die Frauen mich betrachten. Den meisten werde ich nie begegnen, obwohl ich einige Namen kenne, nämlich die der Insassinnen, deren berüchtigte Fälle durch die Medien gingen und deren grausige Taten auf Fachtagungen erörtert wurden. Ich widerstehe der Versuchung, mich umzuschauen oder mir anmerken zu lassen, dass ich mir der Blicke bewusst bin, und frage mich, welcher der dunklen Schlitze wohl ihr Fenster ist.
Für Kathleen Lawler hat dieser Besuch sicher eine große emotionale Bedeutung. Vermutlich denkt sie in letzter Zeit an kaum etwas anderes mehr. Für Menschen wie sie bin ich die letzte Verbindung zu denen, die sie verloren oder umgebracht haben. Ich bin sozusagen der Ersatz für den Toten.
Übersetzung: Karin Dufner
1. Auflage 2012 Copyright © 2011 by CEI Enterprises, Inc. Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2012 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de
Eiserne Gleise, rostbraun wie getrocknetes Blut, durchschneiden eine rissige Teerstraße, die tiefer ins Land hineinführt. Als ich sie überquere, schießt mir durch den Kopf, dass die Justizvollzugsanstalt für Frauen auf der falschen Seite dieser Gleise liegt, so wie die schlechteren Wohnviertel einer Stadt. Vielleicht sollte ich das als Warnung deuten und umkehren. Es ist Donnerstag, der 30. Juni, kurz vor vier Uhr nachmittags, also noch genug Zeit, den letzten Flieger nach Boston zu erwischen. Allerdings weiß ich, dass ich jetzt nicht kneifen darf.
An diesem Teil der Küste ist Georgias Landschaft recht abwechslungsreich. Düstere, mit Greisenbart überwucherte Wälder und von gewundenen Bächen durchzogene Sümpfe werden von lichtdurchfluteten Wiesen abgelöst. Schneeweiße Silberreiher und Blaureiher fliegen tief und die Füße nachziehend über dem brackigen Wasser. Dann wird der Wald zu beiden Seiten der Teerstraße, auf der ich mich befinde, wieder dichter. Gekräuselte Kudzu-Ranken wachsen im Unterholz und hüllen die Baumkronen mit ihren schuppigen grünen Blättern ein. Riesige Zypressen mit dicken, knorrigen Knien erheben sich aus den Sümpfen, wie prähistorische Geschöpfe auf der Jagd nach Beute. Ich habe zwar bis jetzt weder einen Alligator noch eine Schlange gesehen, bin aber sicher, dass sie dort draußen lauern und das große, weiße Ungetüm, in dem ich mich dröhnend und rumpelnd fortbewege, mit Blicken verfolgen.
Es ist mir rätselhaft, wie ich an diese Schrottlaube geraten konnte, die die Spur nicht richtig hält und nach einer Mischung von Fastfood und Zigaretten, abgerundet von einem Hauch verfaultem Fisch, stinkt. Jedenfalls ist es nicht das Auto, das ich Bryce, meinen Verwaltungschef, zu reservieren gebeten hatte.
Sein Auftrag bestand darin, eine verkehrssichere, zuverlässige, mittelgroße Limousine zu mieten, vorzugsweise einen Volvo oder einen Toyota Camry mit vier Airbags und Navigationssystem. Als ich vor dem Terminal von einem jungen Mann in einem weißen Transporter ohne Klimaanlage erwartet wurde, in dem es nicht einmal eine Straßenkarte gibt, habe ich ihm mitgeteilt, dass da wohl ein Fehler passiert sein müsse. Offenbar habe man mir versehentlich ein Auto gebracht, das für jemand
anderen bestimmt sei. Doch er wies mich darauf hin, dass mein Name, Kate Scarpetta, auf dem Vertrag stünde. Ich widersprach, ich hieße erstens Kay und fände es zweitens bedeutungslos, auf welchen Namen der Vertrag laute. Ich hätte jedenfalls keinen Transporter bestellt. Die Autovermietung Lowcountry Concierge Service bedaure sehr, meinte der junge Mann, der ziemlich braungebrannt war und ein ärmelloses T-Shirt, Shorts mit Tarnmuster und wasserfeste Schuhe trug. Er habe auch keine Erklärung dafür. Offenbar ein Problem mit dem Computer. Natürlich werde er mir gern ein anderes Auto besorgen, doch das würde im besten Fall bis zum Abend dauern, vielleicht sogar bis morgen.
Schwülwarme Luft weht zum Fenster herein, und der faulige, schwefelartige Geruch von verrottenden Pflanzen, Salzmarschen und Morast steigt mir in die Nase. Der Transporter ruckelt um eine sonnenbeschienene Kurve, wo sich einige Truthahngeier gerade über einen Kadaver hermachen. Die riesigen, hässlichen Vögel mit ihren zottigen Flügeln und den nackten Hälsen flattern schwerfällig davon, während ich den starren Körper eines Waschbären umrunde. Die feuchte Luft trägt einen scharfen Verwesungsgeruch heran, den ich nur zu gut kenne. Ob Mensch oder Tier, spielt keine Rolle. Ich erkenne den Tod schon aus der Entfernung, und wenn ich aussteigen und mir den Kadaver aus der Nähe anschauen würde, könnte ich vermutlich den genauen Grund des Ablebens dieses Waschbären erkennen, den Zeitpunkt bestimmen und wahrscheinlich rekonstruieren, wie er niedergestreckt wurde und wovon.
Die meisten Menschen bezeichnen mich als Rechtsmedizinerin, doch einige halten mich für eine Leichenbeschauerin, und hin und wieder werde ich auch mit einer Polizeiärztin verwechselt. Doch genau genommen bin ich Medizinerin mit Fachgebiet Pathologie und Zusatzausbildungen in forensischer Pathologie und 3-D-bildgebender Radiologie - das heißt dem Einsatz von CT-Geräten, um das Innere einer Leiche zu untersuchen, bevor ich zum Skalpell greife. Außerdem bin ich studierte Juristin, habe den Rang eines Colonel der Reserve bei der Air Force inne und unterhalte deshalb besondere Beziehungen zum Verteidigungsministerium. Im vergangenen Jahr bin ich zur Leiterin des Cambridge Forensic Center ernannt worden, eines Gemeinschaftsprojekts des Pentagon, des Commonwealth of Massachusetts, des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Harvard.
Es ist mein Fachgebiet, festzustellen, was einen Menschen umgebracht hat, sei es nun eine Krankheit, ein Gift, ein Kunstfehler, eine Schusswaffe oder ein selbstgebastelter Sprengsatz. In meinem Beruf muss ich mich stets streng an gesetzliche Vorgaben halten. Ich habe keine andere Wahl, als objektiv zu sein und klinisch zu denken. Eine persönliche Meinung oder eine emotionale Reaktion auf einen Fall darf ich mir nicht erlauben, ganz gleich, wie tragisch oder grausam die Umstände auch sein mögen. Wenn ich selbst betroffen bin, wie zum Beispiel bei dem Mordanschlag vor vier Monaten, muss ich so unerschütterlich bleiben wie ein Fels. Man verlangt von mir Entschlossenheit, Gelassenheit und Ruhe.
»Sie werden mir doch kein Posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln, oder?«, fragte mich General John Briggs, der Chef der Armed Forces Medical Examiners, nachdem ich am 10. Februar beinahe in meiner eigenen Garage umgebracht worden wäre. »Solcher Mist passiert eben dann und wann, Kay. Auf der Welt wimmelt es von Durchgeknallten.«
»Ja, John, solcher Mist passiert eben dann und wann, und es wird nicht das letzte Mal sein«, antwortete ich, als ob alles in bester Ordnung wäre und ich den Zwischenfall bereits weggesteckt hätte, wohlwissend, dass ich in Wirklichkeit nicht so empfand. Nun will ich der Frage auf den Grund gehen, was in Jack Fieldings Leben schiefgelaufen ist. Dawn Kincaid soll den höchstmöglichen Preis für ihre Tat bezahlen: lebenslange Haft ohne Möglichkeit der Begnadigung.
Ich schaue auf die Uhr, ohne die Hände vom Lenkrad dieses verdammten Transporters zu nehmen, der offenbar an einem schweren Fall von Schüttellähmung leidet. Vielleicht sollte ich umkehren. Der letzte Flug nach Boston geht in knapp zwei Stunden. Ich könnte es also noch schaffen. Doch ich weiß, dass ich nicht in der Maschine sitzen werde. Es mag ein Fehler sein, aber mein Ziel steht fest, als habe sich ein Autopilot meiner bemächtigt, möglicherweise ein waghalsiger oder gar einer, der auf Rache sinnt. Dass ich zornig bin, steht außer Frage. Wie mein Mann Benton Wesley, forensischer Psychologe beim FBI, gestern Abend sagte, als ich in unserem denkmalgeschützten Haus in Cambridge das Essen kochte: »Man will dich reinlegen, Kay. Möglicherweise in eine Falle locken. Aber was mich am meisten besorgt, ist, dass du dir selbst ein Bein stellst. Was du als deinen eigenen Wunsch wahrnimmst, proaktiv und hilfsbereit zu sein, ist in Wahrheit nur dein Bedürfnis, deine Schuldgefühle zu beschwichtigen.«
»Ich bin nicht schuld an Jacks Tod«, widersprach ich.
»Du hast, was ihn angeht, schon immer Schuldgefühle gehabt. Du hast sowieso wegen vieler Dinge Schuldgefühle, die eigentlich nicht dein Problem sind.«
»Ich verstehe.« Ich entfernte den Panzer der gekochten Riesen- Shrimps mit einer Chirurgenschere. »Wenn ich also zu dem Schluss gelange, ich könnte an nützliche Informationen herankommen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, sind das nur meine Schuldgefühle.«
»Du denkst, du müsstest alles in Ordnung bringen. Das war schon immer so. Bereits damals, als du ein kleines Mädchen warst und deinen kranken Vater gepflegt hast.«
»Im Moment kann ich eindeutig nichts in Ordnung bringen. « Ich warf die Panzer in den Müll und gab Salz in den Edelstahltopf mit Wasser, der auf dem Ceranherd, dem Mittelpunkt meiner Küche, blubberte. »Jack wurde als Junge sexuell missbraucht, und dagegen konnte ich nichts tun. Ich konnte nicht verhindern, dass er sein eigenes Leben an die Wand gefahren hat. Und nun wurde er ermordet, und dagegen war ich auch machtlos.« Ich griff nach einem Küchenmesser. »Es ist mir gerade mal gelungen, meine eigene Ermordung zu verhindern.« Als ich Zwiebeln und Knoblauch hackte, fuhr die dünne Stahl- klinge rasch und mit einem Klicken über das antibakteriell beschichtete Polypropylen.
»Du solltest einen Riesenbogen um Savannah machen«, mahnte mich Benton erneut, worauf ich erwiderte, ich müsse hinfliegen, und ihn bat, die Weinflasche zu öffnen und uns beiden zwei Gläser einzuschenken. Wir tranken und stritten weiter. Geistesabwesend stocherten wir im Ergebnis meines mangia bene, vivi felice cucina - Iss gut und lebe das glückliche Kochen. Doch wir waren nicht glücklich. Und das alles nur ihretwegen.
Kathleen Lawler hat ein furchtbares Leben hinter sich und verbüßt derzeit eine zwanzigjährige Haftstrafe wegen fahrlässiger Tötung in Verbindung mit Alkohol am Steuer. Inzwischen hat sie mehr Jahre hinter Gittern verbracht als in Freiheit, seit sie in den Siebzigern verurteilt worden ist, weil sie einen Jungen sexuell missbraucht hat, der später mein Stellvertreter Jack Fielding wurde. Nun ist er tot, in den Kopf geschossen von ihrem gemeinsamen Kind der Liebe, wie die Medien Dawn Kincaid nennen. Sie wurde zur Adoption freigegeben, während ihre Mutter wegen der Tat, bei der sie gezeugt wurde, im Gefängnis saß. Es ist eine sehr lange Geschichte. Bei diesem Satz ertappe ich mich in letzter Zeit ziemlich oft, und wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann dass eins unweigerlich zum anderen führt. Kathleen Lawlers katastrophale Vita ist ein ausgezeichnetes Beispiel, um zu illustrieren, was Wissenschaftler mit dem Ausspruch meinen, das Schlagen eines Schmetterlingsflügels könne irgendwo anders auf der Erde einen Orkan auslösen.
Während ich den dröhnenden und rumpelnden Mietwagen durch die zugewucherte, morastige Landschaft lenke, die vermutlich schon zur Zeit der Dinosaurier nicht viel anders ausgesehen hat, frage ich mich, welcher Flügelschlag eines Schmetterlings, welche beinahe unmerkliche Störung wohl Kathleen Lawler den Anstoß gegeben und den von ihr angerichteten Schaden ausgelöst haben mag. Ich stelle sie mir in ihrer fünf Quadratmeter großen Zelle mit der blitzblanken Edelstahltoilette, dem Bett aus grauem Metall und dem kleinen, mit Maschendraht abgedeckten Fenster vor, das den Blick auf einen Gefängnishof mit derbem Gras, Bänken aus Beton und Chemieklos bietet. Ich weiß, wie viele Garnituren Kleidung sie besitzt, keine »Sachen wie in der Freiheit«, hat sie mir in ihren E-Mails erklärt, die ich nicht beantworte. Nur Gefängnisuniformen, Hosen und Oberteile, jeweils zwei Stück. Sie hat jedes Buch in der Gefängnisbibliothek mindestens fünfmal gelesen und mir mitgeteilt, dass sie schriftstellerisches Talent hat. Vor einigen Monaten hat sie mir ein Gedicht über Jack geschickt.
Ich habe das Gedicht wieder und wieder gelesen, es Wort für Wort zerlegt und nach Botschaften zwischen den Zeilen gesucht. Zunächst war ich besorgt, die düstere Anspielung auf den eingeschalteten Gasherd könnte ein Hinweis darauf sein, dass Kathleen Lawler Selbstmordgedanken hat. Vielleicht ist der Tod für sie ja so anziehend wie ein einladendes Motel, meinte ich zu Benton, der erwiderte, das Gedicht zeige, dass sie eine Soziopathin sei und an einer Persönlichkeitsstörung litte. Sie glaube nicht, dass sie etwas falsch gemacht habe. Sex mit einem zwölfjährigen Jungen in dem Heim für schwererziehbare Jugendliche, wo sie als Therapeutin tätig war, sei für sie etwas Schönes, eine Vereinigung in reiner und vollendeter Liebe. Es sei Schicksal gewesen. Ihre Bestimmung. Diese Sicht der Dinge
sei wahnhaft, sagte Benton.
Vor zwei Wochen brachen die Mails dann schlagartig ab, und mein Anwalt rief mich mit einer Bitte an: Kathleen Lawler wolle mit mir über Jack Fielding sprechen, den Protegé, den ich in den Anfangstagen meiner Karriere ausgebildet und mit dem ich im Laufe von zwanzig Jahren immer wieder zusammengearbeitet habe. Ich war einverstanden, mich mit ihr im Georgia Prison for Women zu treffen, doch nur im Rahmen eines privaten Besuchs. Ich werde weder als Dr. Kay Scarpetta noch als Leiterin des Cambridge Forensic Center auftreten. Heute bin ich nur Kay, und Jack ist das Einzige, was Kay und Kathleen gemeinsam haben. Unser Gespräch wird nicht unter die Schweigepflicht fallen, und es werden auch keine Anwälte, Aufseher oder andere Gefängnismitarbeiter anwesend sein.
Die Lichtverhältnisse ändern sich. Der dichte Nadelwald wird dünner und endet dann an einer tristen baumlosen Fläche. Das Gelände, es erinnert an ein Industriegebiet, ist mit grünen Metallschildern bestückt, die mich warnen, dass die Landstraße, auf der ich mich befinde, nun endet und dass die Zufahrt für Unbefugte verboten ist. Wer keine Zugangsberechtigung hat, muss jetzt umkehren. Ich fahre an einem Schrottplatz vorbei, wo sich verbogene und zerbeulte Autos und Lastwagen türmen. Danach kommt eine Gärtnerei mit Gewächshäusern und riesigen Kübeln, in denen Ziergräser, Bambus und Palmen wachsen. Direkt vor mir erstreckt sich eine große Rasenfläche mit Blumenbeeten voller bunter Petunien und Ringelblumen. Ich fühle mich wie in einem Stadtpark oder auf einem Golfplatz. Das Verwaltungsgebäude mit seinen weißen Säulen und roten Backsteinmauern bildet einen starken Kontrast zu den blauen Betontrakten, die ein Metalldach haben und von einem hohen Zaun umgeben sind. Doppelte Rollen aus rasiermesserscharfem Natodraht schimmern und funkeln in der Sonne wie die Klingen von Skalpellen.
Das Georgia Prison for Women ist eine Modelleinrichtung und gilt als herausragendes Beispiel für eine aufgeklärte und menschenwürdige Wiedereingliederung von Straftäterinnen. Viele durchlaufen während ihrer Haft eine Ausbildung als Klempnerin, Elektrikerin, Kosmetikerin, Schreinerin, Mechanikerin, Dachdeckerin, Landschaftsgärtnerin, Köchin oder Kellnerin. Gebäude und Gelände werden von den Insassinnen selbst instand gehalten. Sie kochen das Essen, arbeiten in der Bibliothek und im Schönheitssalon, leisten Hilfsdienste in der Krankenstation, geben ihre eigene Zeitschrift heraus und sind angehalten, hinter Gittern zumindest ihren High-School-Abschluss nachzuholen. Alle hier müssen etwas zur Gemeinschaft beitragen und bekommen dafür eine neue Chance, mit Ausnahme der Gefangenen im Hochsicherheitstrakt, auch Haus Bravo genannt, wo Kathleen Lawler vor zwei Wochen einquartiert wurde, also um die Zeit, als ihre E-Mails an mich so plötzlich abbrachen.
Ich stelle meinen Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und werfe einen Blick auf mein iPhone, in der Hoffnung, dass nichts Wichtiges geschehen ist, was meine Aufmerksamkeit erfordert, und dass Benton mir geschrieben hat. Und das hat er. »Wo du bist, soll es bald gewittern. Sei vorsichtig und gib mir Bescheid, wie es gelaufen ist. Ich liebe dich«, schreibt mein sachlicher, praktischer Ehemann, der mir stets den neuesten Wetterbericht oder andere nützliche Informationen zukommen lässt, wenn er an mich denkt. Ich liebe ihn auch, mir geht es gut, und ich werde ihn in ein paar Stunden anrufen, antworte ich, während ich beobachte, wie einige Männer in Anzug und Krawatte, begleitet von einem Aufseher, aus dem Verwaltungsgebäude kommen. Die Männer sehen aus wie Anwälte, vielleicht auch Vertreter der Strafvollzugsbehörde, denke ich und warte, bis sie in einem Zivilfahrzeug weggefahren sind. Dabei frage ich mich, wer sie sind und was sie hierhergeführt hat. Ich stecke das Telefon in meine Handtasche und schiebe sie unter den Sitz. Ich werde nichts mitnehmen als meinen Führerschein, einen unbeschrifteten Umschlag und den Autoschlüssel.
Die Sommersonne senkt sich auf mich wie eine schwere heiße Hand. Im Südwesten haben sich Wolken gebildet und ballen sich dick zusammen, und die Luft duftet nach Lavendel und Scheineller. Ich folge einem Betonweg, der zwischen blühenden Büschen und gepflegten Blumenbeeten hindurchführt, und werde von unsichtbaren Augen aus den schmalen Fenstern rings um den Gefängnishof beobachtet. Häftlinge haben nichts Besseres zu tun, als in eine Welt hinauszustarren, an der sie nicht mehr teilhaben können, und dabei Informationen zu sammeln. Die CIA könnte sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Ich spüre, wie ihr kollektives Bewusstsein meinen scheppernden weißen Transporter mit Nummernschildern aus South Carolina zur Kenntnis nimmt. Ebenso wie meine Kleidung, heute nicht das übliche Kostüm oder eine strapazierfähige Arbeitsuniform, sondern eine Khakihose, in der ein blauweiß gestreiftes Baumwollhemd steckt, dazu Slipper aus geflochtenem Leder und ein passender Gürtel. Ich trage keinen Schmuck, nur eine Titanuhr mit schwarzem Kunststoffarmband und meinen Ehering. Also ist es nicht leicht, aus meinem Äußeren auf meine Finanzen, meine Identität und meinen Beruf zu schließen. Nur der Transporter stört das Bild, das ich vermitteln wollte.
Eigentlich wollte ich wie eine blonde Frau mittleren Alters und mit lässiger Frisur wirken, die keine dramatisch wichtigen oder auch nur interessanten Dinge im Leben tut. Und dann dieses zerschrammte, ruckelnde weiße Monstrum, dessen Heckscheiben so dunkel getönt sind, dass sie fast schwarz aussehen. All das fällt mir ein, während ich spüre, wie die Frauen mich betrachten. Den meisten werde ich nie begegnen, obwohl ich einige Namen kenne, nämlich die der Insassinnen, deren berüchtigte Fälle durch die Medien gingen und deren grausige Taten auf Fachtagungen erörtert wurden. Ich widerstehe der Versuchung, mich umzuschauen oder mir anmerken zu lassen, dass ich mir der Blicke bewusst bin, und frage mich, welcher der dunklen Schlitze wohl ihr Fenster ist.
Für Kathleen Lawler hat dieser Besuch sicher eine große emotionale Bedeutung. Vermutlich denkt sie in letzter Zeit an kaum etwas anderes mehr. Für Menschen wie sie bin ich die letzte Verbindung zu denen, die sie verloren oder umgebracht haben. Ich bin sozusagen der Ersatz für den Toten.
Übersetzung: Karin Dufner
1. Auflage 2012 Copyright © 2011 by CEI Enterprises, Inc. Copyright für die deutschsprachige Ausgabe © 2012 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg www.hoca.de
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Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, 1956 in Miami, Florida, geboren, arbeitete als Polizeireporterin und in der Rechtsmedizin, bevor sie mit ihren bahnbrechenden Thrillern um die Gerichtsmedizinerin Dr. Kay Scarpetta begann. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin war sie Leiterin der Abteilung für Angewandte Forensik an der National Forensic Academy der University of Tennessee. Patricia Cornwells Bücher wurden mit allen renommierten Preisen ausgezeichnet und erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten. Zuletzt erschienen die Kay-Scarpetta-Romane "Bastard" und "Blut". "Knochenbett" ist der zwanzigste Scarpetta-Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2012, 1, 460 Seiten, Maße: 14,6 x 21,5 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4260057650023
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