Blutland - Von der Liebe verschlungen
Roman
Die unschuldig aussehende Prinzessin Ahnastasia ist ein Raubtier.
Als ihre Familie ermordet wird, schwört sie Rache, doch sie ist allein. Einzig der Musiker Casper Sterling kann ihr helfen. Und dieser wird hineingezogen in eine Geschichte aus Blut und Leidenschaft.
Als ihre Familie ermordet wird, schwört sie Rache, doch sie ist allein. Einzig der Musiker Casper Sterling kann ihr helfen. Und dieser wird hineingezogen in eine Geschichte aus Blut und Leidenschaft.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blutland - Von der Liebe verschlungen “
Die unschuldig aussehende Prinzessin Ahnastasia ist ein Raubtier.
Als ihre Familie ermordet wird, schwört sie Rache, doch sie ist allein. Einzig der Musiker Casper Sterling kann ihr helfen. Und dieser wird hineingezogen in eine Geschichte aus Blut und Leidenschaft.
Als ihre Familie ermordet wird, schwört sie Rache, doch sie ist allein. Einzig der Musiker Casper Sterling kann ihr helfen. Und dieser wird hineingezogen in eine Geschichte aus Blut und Leidenschaft.
Klappentext zu „Blutland - Von der Liebe verschlungen “
Blutland eine Welt, die von Blut und Magie regiert wird und in der selbst die harmlosesten Dinge tödlich sein können. Wie Prinzessin Ahnastasia. Die unschuldig aussehende junge Frau ist ein Raubtier, ebenso gefährlich wie verführerisch. Aber als ihre Familie ermordet wird und Ahna selbst nur durch einen Zufall überlebt, ist sie das erste Mal in ihrem Leben hilflos. Sie schwört Rache, doch dazu braucht sie den Musiker Casper Sterling. Sie zieht ihn hinein in ihren Kampf um den Thron und er zieht sie in einen Sturm der Leidenschaft, aus dem es kein Entrinnen gibt ...
Lese-Probe zu „Blutland - Von der Liebe verschlungen “
Blutland - Von der Liebe verschlungen von Delilah S. Dawson 1.
Ich weiß nicht, was mich mehr anzog: seine Musik oder sein Blut. Gefangen im Dunkel und geschwächt bis an die Schwelle des Todes, erwachte ich, nur um ihn auszusaugen bis auf die Seele, bis seine Noten und sein Blut bis auf die letzten Tröpfchen in meine Adern fließen würden. Wer auch immer er war, er war mein Untergebener, meine Beute, und sein Leben gebührte mir. Wozu ist man schließlich Prinzessin, wenn man seine Untertanen nicht erlegen darf?
Sein Blut war gewürzt mit Wein, so viel konnte ich erkennen. Während ich der Musik zuhörte und mich zwang, ruhiger zu atmen und mein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, ging mir auf, dass ich das Lied, das er spielte, gar nicht kannte. Es war keines der frostländischen Schlaflieder meiner Kindheit, und auch nichts, was bei Hofe gefragt war. Ich konnte sogar das Geräusch seiner Fingerspitzen hören, die über die Tasten strichen, und das, ohne dass es durch Seidenhandschuhe gedämpft wurde. Eigenartig. Kein Wunder, dass ich ihn riechen konnte, wer auch immer er war - er schützte seine köstliche Haut nicht vor der Welt. Vor mir.
Er hörte auf zu spielen und seufzte, und meine Instinkte übernahmen die Kontrolle. Ich stürzte mich auf diesen berauschenden Duft. Aber mein Versuch, zuzuschlagen, wurde schmerzhaft vereitelt durch . . . etwas. Leder. Ich war gefangen, eingesperrt in einem Kasten und darin zusammen gerollt zu einem Ball, Kehrseite nach unten. Als er wieder zu spielen begann, ließ ich meine Hand seitwärts an das muffige Leder wandern. Mit einer meiner bösartigen Klauen begann ich, mir einen Weg nach draußen zu bahnen.
... mehr
Ein winziger Lichtstrahl fiel herein, in düsterem Orange. Frische Luft drang an mein Gesicht, und damit sein Duft. Es erforderte jedes Quäntchen der mir so mühsam anerzogenen Geduld, still und reglos zu bleiben, und nicht wild zu strampeln und herumzutasten, um mich zu befreien aus was immer mich da gefangen hielt wie einen Kraken aus der Tiefe. In meinen Gedanken erklang die Stimme meiner Mutter, in ihrem unverkennbaren königlichen Tonfall.
Lautlosigkeit. List. Schnelligkeit. So bringt man dem Feind den Untergang, Prinzessin. Du bist das Raubtier der Raubtiere. Die Königin der Bestien. Jetzt töte ihn. Langsam.
Meine Fingernägel waren überlang gewachsen und schärfer, als bei Hofe in Mode war, und so fiel der Rest des Leders in einem langen Stück ab. Ich hob die Klappe mit einer Hand an und spähte vorsichtig hinaus.
Es war ein Raum mit hoher Decke und Holzfußboden; er war düster und fast leer. Stühle mit spindeldürren Beinen standen auf runden Tischen. Gegenüber, beleuchtet von einem orangefarbenen Gasscheinwerfer, befand sich eine Bühne, und auf dieser Bühne stand ein Cembalo, und an diesem Cembalo spielte mein Mittagessen.
Als ich ihn dort sah, zog sich die Prinzessin zurück, und die Bestie übernahm das Regiment. In Kauerhaltung, die Finger zu Klauen gekrümmt, schlängelte ich mich durch das Loch aus diesem Kasten hinaus, ohne den Blick von meiner Beute zu wenden. Er hatte die Kreatur, die aus den Schatten Jagd auf ihn machte, noch nicht bemerkt. Seine Augen waren geschlossen, und er sang etwas Schwermütiges, irgendetwas über jemanden namens Jude. Ich war nicht Jude, also spielte es keine Rolle.
Der kultivierte Teil meines Gehirns registrierte kaum, dass ich hochhackige Schuhe und raschelnden Taft trug. Ich war sehr gut in der Lage, in meinen besten Kleidern zu schleichen, schließlich tat ich das schon seit meinen Kindertagen in Leinenschürzchen mit Hermelinkragen. Während ich in den Schatten an der Wand entlangschlüpfte und in Richtung Bühne glitt, pochte der Hunger in mir, im Takt zu meinem Herzschlag und seinen langsamen Tastenanschlägen. Es fühlte sich an, als sei ein ganzes Leben vergangen, seit ich zuletzt etwas zu mir genommen hatte. Und vielleicht war es ja so. Noch nie hatte ich mich derart ausgetrocknet gefühlt.
Es gelang mir, den Raum zu durchqueren, ohne dabei entdeckt zu werden. Währenddessen jammerte er weiter über diese Jude, und seine rauchige Stimme war so traurig, dass sie sogar das Tier in mir rührte. Ich hielt inne, um ihn zu betrachten, hinter tiefroten Samtvorhängen, die eindeutig schon bessere Tage gesehen hatten. Aber ich sah keinen Mann. Nur Nahrung. Und in diesem Sinne präsentierte er sich mir regelrecht auf einem Silbertablett: Er lief mit offenem Hemd herum, ohne Stiefel, und auch Handschuhe waren nirgendwo zu sehen. So exponiert und mit dem Alkoholgeruch, der von ihm ausging, war er ein leichtes Ziel.
Er unterbrach sein seltsames Lied und griff nach einer grünen Flasche. Er setzte sie an die Lippen, die gerötet waren von Blut und Gefühlen. Ich sah zu, wie er den Kopf in den Nacken warf, wie sich sein Adamsapfel bewegte, und ein ohrenbetäubendes Brüllen überkam mich. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Innerhalb eines Herzschlages war ich über die Bühne und fiel ihn an.
Und so klein ich auch war, der Schwung meines Angriffs warf ihn rücklings von der Bank. Die Flasche schlitterte über den Boden, und er machte einen erbärmlich unbeholfenen Versuch, danach zu greifen. Mit einer Hand hielt ich sein langes Haar gepackt, mit der anderen drückte ich seinen Brustkorb zu Boden, und meine langen Klauen gruben sich in sein Fleisch, aus dem winzige Blutstropfen hervortraten und die Luft würzten. Ich atmete tief ein und genoss den Duft. Er war so gut wie tot. Ich lächelte und ließ meine Reißzähne sehen.
Seine rotgeränderten Augen begegneten meinem Blick. Er verstand, und mit einem animalischen Glitzern, das mich überraschte, erwiderte er mein Lächeln. Plötzlich krachte etwas gegen meinen Kopf, und er rollte mich auf den Rücken und taumelte mit einem wilden Auflachen auf die Füße. Rote Flüssigkeit lief über mein Haar und mein Gesicht, und ich schüttelte mir mit einem Fauchen grüne Glasscherben von den Schultern. Der dreiste Bastard hatte mich mit seiner Flasche geschlagen. Wenn ich nicht schon vorgehabt hätte, ihn zu töten, dann hatte ich jetzt guten Grund dazu.
Ich wischte mir mit dem Handrücken den brennenden Wein aus den Augen und umkreiste ihn. Ich war schwindlig vor Hunger, beinahe benommen, und er machte sich meine geschwächte Verfassung zunutze, indem er vorwärtssprang und mir mit dem gesplitterten Ende seiner zerbrochenen Flasche den Unterarm aufschlitzte. Ich fauchte wieder und ging ihm an die Kehle - doch im letzten Moment ließ mich etwas abrupt innehalten. Er roch nicht so gut, nicht mehr.
Die Bestie in mir zog sich zurück, und ich richtete mich auf. Meine Arme hingen, nun nutzlos, herab. Er hatte einen Finger im Mund, und als er den mit einem dramatischen Plop wieder herauszog, waren seine Lippen rotgefärbt von meinem Blud. Jetzt roch er genauso wie ich. Und weniger nach Nahrung.
»Nicht heute Nacht, Josephine«, sagte er mit einem rotzfrechen Grinsen.
Ich kämpfte darum, mich aufrecht zu halten und nicht zu wanken. Jetzt, da er von meinem Blud gekostet hatte, hatte die Bestie in mir nicht länger Kontrolle über mich, und es gab nichts mehr, was mich aufrecht hielt. Ich war leer wie eine Wolke, leicht wie eine Schneeflocke und hungrig über den Hunger hinaus. Mein Herz schlug kaum noch, und ich fühlte mich mehr als nur ein wenig verwirrt.
»Ohje«,sagte ich mit einer Hand an meinem tropfnassen Haar. »Ich glaube tatsächlich, ich könnte ohnmächtig werden. Und du hast auch noch mein Kleid ruiniert. Dein Herr wird dich einfach ausweiden und vierteilen lassen.«
Und dann fiel ich tatsächlich in Ohnmacht. Während die Welt um mich schwarz wurde, fühlte ich seine Hände, die mich auffingen, sein köstliches - wenn auch nicht mehr unerträglich aufreizendes - Blut, das nur Millimeter von mir entfernt durch seine Adern floss.
»Ganz ruhig, kleines Mädchen«, sagte er. Ich roch Wein und Trauer an ihm, und noch etwas anderes, tief und moschusartig, und irgendwie nicht richtig.
Sanft half er mir, zu Boden zu sinken, während ich im Fieberwahn kaum noch flüstern konnte: »Ich bin kein kleines Mädchen, und du bist der Diener mit dem schlechtesten Benehmen, das mir je untergekommen ist.«
Die Welt versank in Finsternis, und sein Lachen und seine Musik verfolgten mich bis in meine Träume.
2.
Noch bevor meine Augen sich öffneten, und ehe ich ganz wach war, trank ich schon. Vier große Schlucke, und ich lechzte nach mehr. Ich packte die leere Glasphiole, die mir an den Mund gehalten wurde, und schleuderte sie zu Boden.
»Mehr«, krächzte ich. »Ich verlange mehr.«
Eine weitere Phiole erschien, und aufseufzend schluckte ich wieder. Jemand lachte leise. Das Blut rann durch meine Kehle, kühl und warm zugleich. Es schmeckte exotisch. Musste das hierzulande gängige Aroma sein.
»Wie lange warst du denn in diesem alten Koffer versteckt?«
Ich öffnete die Augen. Plötzlich war mir die so gar nicht damenhafte Natur meiner Zwangslage deutlich bewusst: Ich lag auf dem Boden, die Beine auf staubigen Holzdielen ausgestreckt. Um meine Schultern lag der Arm eines Mannes, und seine unbedeckte menschliche Hand hielt eine Phiole an meine Lippen, während ich das Blut trank, so gierig wie ein Kind, das Süßigkeiten nascht. Mein Haar war in Unordnung, und einige der üppigen Locken um mein Gesicht waren rot gefärbt mit etwas, das roch wie alter Wein. Ich schlug auch diese Phiole zu Boden - natürlich erst, nachdem ich sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte.
»Du Schurke«, knurrte ich so damenhaft, wie ich konnte. »Du frevlerischer Hund. Wie kannst du es wagen, mich anzurühren? Ich werde dein Blut als Tinte benutzen.«
Ich riss mich aus seinem Griff los und versuchte, aufzustehen, aber meine Beine waren zu schwach. Ohne seinen Körper hinter mir kippte ich direkt nach hinten über und plumpste auf den Rücken wie ein Fisch. Was immer man mir angetan hatte, zwei Phiolen Blut waren nicht genug, um mich wieder auf die Beine zu bringen.
Doch - was war mir eigentlich angetan worden? Und von wem?
»Du«, befahl ich und musterte ihn mit schmalen Augen.
Er hockte einige Fuß von mir entfernt, die Ellbogen lässig auf den Knien, und beobachtete mich. Noch nie hatte ich so viel entblößte Haut an einem Diener gesehen, der nicht als Mahlzeit offeriert wurde. Seine Augen waren strahlend blau und betrachteten mich mit Neugier und einer bemerkenswerten Abwesenheit von Angst und Respekt.
»Was hast du mit mir gemacht, du Schlachtvieh?«
Er lachte leise und grinste dabei. Er hatte Grübchen. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich dir das Leben gerettet habe, direkt nachdem du mich angegriffen hast. Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Sieht so aus, als hätte man dich ausgeblutet.«
»Ausgeblutet?«
»Du kannst ja nicht einmal stehen, kleines Mädchen.«
Ich wollte eine Hand heben, um ihm die Kehle zu zerquetschen, aber mein Arm war tonnenschwer. Das Gefühl der Benommenheit kam wieder, ein Gefühl, als läge ein Fels- brocken auf meiner Brust. Ich rang um Luft. Etwas bewegte sich, und ich sah eine frische Phiole mit Blut in seiner Hand aufblitzen, die er durch seine Finger hin-und herwandern ließ. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen, und ich musste ein ungebührliches Sabbern unterdrücken.
»Gib mir das«, verlangte ich heiser im Befehlston.
»Zuerst sagst du mir, wer du bist.«
Daraufhin fing ich an zu keuchen, während ich zusah, wie er das Blut zwischen seinen Fingern hin-und herschob. Er mochte ja mein eigenes Blud zu sich genommen und damit die Bestie in mir ruhiggestellt haben, aber trotzdem roch er noch immer nach Nahrung. Hätte ich ihm nur die Kehle herausreißen können- ich hätte mich bis zu den Ohren in seinem Hals vergraben und voller Ekstase getrunken. Aber ich zwang die Vorstellung davon aus meinem Kopf und begegnete seinem finsteren Blick aus stahlblauen Augen, während ich darum kämpfte, die Kontrolle über die innere Bestie zu behalten, die sich wieder an die Oberfläche drängte.
»Damit wir uns richtig verstehen«, sagte ich und sprach dabei jedes einzelne Wort besonders deutlich aus. »Ich bin nicht klein, und ich bin kein Mädchen. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, und ich bin eine Prinzessin. Und du, wer auch immer du sein magst, bist mein Untertan. Du schuldest mir Ehrerbietung, Treue und Blut.«
»Dann komm und hol es dir«, antwortete er unerwartet gut gelaunt und mit spöttischem Grinsen. Er hielt die Phiole in die Höhe, und das Glas schimmerte im bernsteinfarbenen Licht.
»Du weißt sehr gut, dass ich das nicht kann«, stieß ichhervor und kämpfte darum, mich zu beherrschen. Noch nie war ich so hilflos gewesen, und er verspottete mich auch noch. Das war untragbar. Sobald ich wieder bei Kräften war, würde er dafür bezahlen.
»Dann werden wir wohl verhandeln müssen, nicht wahr?«
»Ich verhandle nicht.«
»Dann viel Glück, Prinzessin.«
Er stand auf und ging zurück zu seinem Cembalo. Langes kastanienbraunes Haar fiel ihm wirr über das fleckige weiße Hemd, und ich gelobte im Stillen, dass ich eines Tages einen Mopp daraus machen würde. Rasender Zorn verzehrte mich. Zorn und Hunger.
Als spüre er meine Wut, drehte er sich um, zwinkerte mir mit einem seiner verdammungswürdigen blauen Augen zu - und dann warf er die Phiole in die Luft. Ich schluckte schwer, als ich zusehen musste, wie das kostbare Glasröhrchen in einem perfekten Bogen herumwirbelte. Dann zerschellte es auf dem Boden, und ich stieß ein unmenschliches Heulen aus und versuchte, mich über die abgenutzten Dielen zu schleppen. Ich war eine Prinzessin, aber in diesem Moment hätte ich liebend gern das Blut inmitten winziger Glassplitter von dem schmutzigen Boden aufgeleckt. Doch ich konnte mich nicht bewegen, nicht einen Zentimeter. Alle Ausbildung und Erziehung, alles Jagen auf der Welt hatten mich nicht auf eine derartige, absolute Hilflosigkeit vorbereitet.
»Warte«, keuchte ich, und meine schwarzen Hände kratzten über die Bodenbretter. Bei dem Geräusch meiner langen weißen Krallen, die nutzlos über das Holz schrammten, zuckte ich zusammen. Er musste recht haben, nur eine Ausblutung konnte mich so tief sinken lassen, dass ich wimmerte wie ein Kätzchen. Und voll Verzweiflung bettelte.
»Hmm?« Er drehte sich um, um mich noch einmal mit diesen verhassten Grübchen anzugrinsen.
»Lass uns verhandeln.«
»Ich wusste, dass du mir zustimmen würdest.« Er kam wieder zurück und holte noch eine Phiole aus seiner Hemdtasche. Dann ließ er sich im Schneidersitz auf dem Boden wieder, gerade außerhalb meiner Reichweite, und fing an, auch diese durch seine Finger wandern zu lassen. Das Gefühl, das ich dabei verspürte, erinnerte mich an eine Wolfshündin, die einst meinem Vater gehört hatte, an die Art, wie sie unter ihrem juwelenbesetzten Halsband schluckte, wenn mein Vater sie zwang, einen Knochen auf ihrer Schnauze zu balancieren, bis er ihr das Zeichen gab, dass sie ihn fressen durfte. Ich musste auch schlucken.
»Zuerst einmal, wer bist du wirklich?«, fragte er.
Ich schloss die Augen und kämpfte darum, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich hatte noch nie gebettelt, und noch nie hatte ich mich in einer Position befunden, in der ich nicht über absolute Macht verfügte. Und ganz eindeutig war ich noch nie so hilflos gewesen, zu nackten Füßen eines Pinkies, eines Knechtes, eines armseligen Menschlings. Meine Hände ballten sich zu Fäusten in den eisblauen Taft meines Kleides, und meine Krallen zerrissen die Rüschen und gruben sich schmerzhaft in meine Handflächen.
»Ich bin Prinzessin Ahnastasia Feodor. Meine Mutter ist die Bludzarina von Frostland, und wir residieren im Eispalast zu Moskovia.«
Bei der Erwähnung meines Namens zeigte sich eine Reihe eigenartiger Emotionen auf seinem Gesicht, von Erkennen zu Verstehen, bis hin zu etwas, das wie Mitleid aussah.
»Dann habe ich schlechte Neuigkeiten, Prinzessin. Ich lese regelmäßig Zeitung. Du wurdest vor vier Jahren für tot erklärt. Es heißt, man habe dich entführt und deine Asche in deinem gravierten Phiolenkästchen in den Palast zurückgeschickt.«
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich mich noch schwächer und benommener fühlen könnte, als es ohnehin schon der Fall war, aber Angst und Wut versetzten meinen kaum noch atmenden Körper in Aufruhr. Ich, entführt und ausgeblutet? Ich stellte mir meine Eltern vor, in ihren Händen das goldene Kästchen, das sie mir an meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten, als Behältnis für Phiolen mit Blut, das nur den hochwertigsten Dienern mit dem besten Stammbaum entnommen wurde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das majestätische Gesicht meiner Mutter wohl bei meiner Bestattungszeremonie ausgesehen haben mochte, ob ihre sorgfältig einstudierte Maske wohl zerbrochen war, während meine angebliche Asche im Wind eines Schneesturms davonwehte. Ob sie geweint hatte? Wusste sie überhaupt, wie das ging?
Ich schluckte schwer. Meine Kehle fühlte sich an wie ein Reibeisen. »Das kann nicht sein.«
Er neigte den Kopf und musterte mich blinzelnd von oben bis unten. Ich war es gewohnt, in den Augen eines Bludmannes Ehrfurcht, Angst und höfliche Bewunderung zu sehen. Aber noch nie hatte ein Mensch mir so schamlos ins Gesicht gesehen, mit einem Blick, der bis in meine Seele zu reichen schien und das, was er dort sah, in Frage stellte. Doch genau das tat dieser Mann. Und der Ausdruck, der daraufhin auf seinem Gesicht erschien, zeigte unwillkommenes Mitgefühl. Sein prüfender Blick ließ mich zurückweichen.
»Du siehst wie die Abbildung auf den Flugblättern aus, auch wenn die Zeichnungen dich etwas jünger zeigen. Wenn du ausgeblutet wurdest und jahrelang in diesem Koffer versteckt warst, könntest du es sein, denke ich. Wenn du wirklich Prinzessin Ahnastasia bist, dann wird deine Schwester ebenfalls vermisst, und dein Bruder kränkelt.« Er senkte den Blick und spielte wieder mit der Blutphiole herum, und meine Augen folgten ihm. »Ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen soll, aber deine Eltern sind tot. Sie wurden vor einigen Monaten hingerichtet, bei einem Putsch der Zigeunerhexe Ravenna. Sie ist nur noch einen Herzschlag davon entfernt, die absolute Kontrolle über Frostland zu erlangen. Sag mir, Prinzessin: Woran kannst du dich noch erinnern?«
»Ich habe nicht . . . ich kann nicht . . .« Ich stockte und schloss die Augen. Sie waren zu trocken für Tränen. »Ich brauche mehr Blut«, flüsterte ich. »Bitte.«
Mit einem weiteren mitleidigen Blick entkorkte er die Phiole in der Hand. Ich gestattete ihm, mich in eine sitzende Position zu bringen, und schluckte das Blut so vornehm wie möglich hinunter. Dabei war ich so voller Kummer, dass es sich anfühlte, als würde ich einen Felsbrocken schlucken. Nachdem ich die Phiole geleert und den Rand des Glases abgeleckt hatte, murmelte ich: »Mehr.«
Er kam dem nach und holte eine weitere Phiole aus seiner Hemdtasche. Bis dahin war ich wieder genug bei Kräften, um seine Hand wegzuschlagen und die Phiole selbst zu halten, aber ich ließ zu, dass er seinen Arm um meinen Rücken gelegt hielt, um mich zu stützen. Meine Krallen waren grässlich lang und begannen sich an den kleinen Fingern schon zu unmodischen Korkenziehern zu verdrehen. Wenigstens würde meine Mutter mich nie so zu sehen bekommen. Ich verzog das Gesicht, als ich die Phiole auf den Boden legte. Der Blutverlust, der übergroße Kummer - das alles war einfach zu viel.
»Das ist alles Blut, das ich habe.« Er steckte die leeren Phiolen wieder in die Tasche und wischte sich die Hände ab, als würde er die Glasröhrchen nicht gerne berühren. »Ich fürchte, vor heute Nachmittag ist keine neue Lieferung zu erwarten. Niemand kommt vormittags ins Seven Scars, außer mir und Tom Pain. Stimmt's, Tommy?«
Und dann roch ich etwas überaus Seltsames. Ein Tier. Ein Raubtier wie ich, aber fremdartig und irgendwie nicht bedrohlich. Ein grollendes Geräusch erklang, und eine merkwürdige Kreatur tappte aus den Schatten. Sie war schwer, schwarz und pelzig, mit einem großen, grünen Auge, das mich philosophisch musterte. Das andere Auge war vernarbt, eine hässliche Schmarre im Gesicht der Kreatur. Etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen.
»Was ist das für ein Monster?«
»Das ist kein Monster. Es ist eine Katze.«
Als er die Hand ausstreckte, um die knurrende Kreatur zu streicheln, fiel mir plötzlich auf, dass ich von allein aufrecht saß. Endlich hatte ich wieder genug Kraft, um mich ohne Unterstützung aufrecht zu halten. Der Mann war auf das Tier konzentriert, und ich rutschte unauffällig zu der zerbrochenen Blutphiolehin, zog meine Finger durch die rote Pfütze und leckte sie mit neu erwachter Verzweiflung ab.
»Was denn, gibt es keine Katzen in Frostland?«, fragte er. »Ich dachte, Katzen gibt es überall. Der alte Tommy lebt schon länger hier im Seven Scars, als es jeder Katze erlaubt sein sollte, zu leben. Man sagt, Katzen haben neun Leben, und er ist schon bei seinem zehnten.«
Der Mann kraulte das Katzending unter dem Kinn, und das Tier schloss genussvoll sein Auge und rieb seinen Kopf an ihm auf völlig schamlose Art, die dabei auch noch Überlegenheit ausstrahlte. Ich begann die Katze zu mögen. Der Mann dagegen . . .
»Ich habe deine Frage beantwortet«, sagte ich, während mit meiner Kraft auch mein Hochmut zurückkehrte. »Jetzt wirst du meine beantworten. Wer bist du? Und was bist du? Du hast den falschen Geruch.«
»Ich bin Casper Sterling.« Es war beunruhigend, diese Art, wie er mich unverwandt ansah. Ich weigerte mich, zu blinzeln, während ich auf die Antworten wartete, die er mir schuldete. »Ich bin der größte Musikant in London, vielleicht in der ganzen Welt von Sang. Und ich bin die meiste Zeit betrunken.«
»Das ist es nicht, was so falsch an dir riecht. Ich kenne den Geruch von Alkohol. Da ist noch etwas anderes.«
»Ich habe deine Frage beantwortet, Prinzessin«, knurrte er. »Jetzt wird verhandelt.«
»Ich will zugeben, dass ich dir etwas schulde«, antwortete ich ruhig. »Und du schuldest mir ebenfalls etwas. Also sind wir quitt.«
Er lachte, düster, nüchtern und unbekümmert.
»Ich schulde dir etwas? Wir sind quitt? Bockmist. Du hast mich angegriffen, und ich habe dir trotzdem das Leben gerettet. Du schuldest mir was. Punkt.«
»Du hast mich geschnitten. Da wo ichherkomme, habendiejenigen, die das Leben Adeliger bedrohen, noch Glück, wenn sie nur ausgeweidet, gevierteilt und den Bludlemmingen und Schneewölfen zum Fraß vorgeworfen werden. Wenn du mein Diener wärst und mich absichtlich verletzt hättest, so wie du es tatsächlich getan hast, würde man deine gesamte Familie auf den Gefrorenen Hügeln pfählen und in einem Festakt bei lebendigem Leib verspeisen. Deine Schuld mir gegenüber ist weit größer als umgekehrt, denn durch Spezies und Geburt bin ich dir naturgegeben überlegen.«
Ich funkelte ihn an. Er funkelte zurück. Dann stand er auf und kam zu mir, und seine nackten Füße streiften den zerrissenen und verblichenen Taft meines Rocks. Er bückte sich, bis sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war, und bleckte mir die Zähne. Mir! Ich konnte seine Böswilligkeit und den Alkohol spüren, die von ihm ausgingen.
»Also dann, verletze mich. Mach schon. Beiß mich. Mach mir ein Ende. Ich habe alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat. Ich würde es begrüßen, Prinzessin.«
Die Worte kamen als ein Knurren zwischen blitzenden Zähnen heraus, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hob eine zitternde, schwarzgeschuppte Hand. Unsere Blicke trafen sich - seine Pupillen waren wie Stecknadeln in dämmerigem Blau. Mit jedem bisschen Kraft, das ich aufbringen konnte, voll Wut über seine niedere Natur und sein Mitleid, drückte ich meine scharfen Klauen um seine Kehle. Ich konnte seinen Puls dort hämmern sehen, konnte die Wut, die in ihm pochte, riechen. Ich packte noch fester zu und wartete auf das nasse Aufplatzen seiner Haut, das harte Krachen seiner Wirbelknochen.
»Tu es!« Seine Lippen zogen sich zurück und entblößten Eckzähne, die schärfer waren, als ich erwartet hatte. »Mach ein Ende! Schick mich zurück in das Grab, wo ich hingehöre, du gottverdammtes Monster!«
Ich fauchte und drückte zu.
Doch ich schaffte es nicht einmal, seine Haut zu durchbohren.
Ich ließ seinen Hals los, und meine Kehle bebte mit einem Schluchzen. Ich konnte mir nicht einmal nehmen, was mir gehörte. Er hatte recht - ich war ein Monster. Ein gebrochenes Monster.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte er leise.
Ich fiel wieder zu Boden und krümmte mich schluchzend zusammen. Eine einzelne Träne rollte mir über die Wange, fiel auf mein Handgelenk und hinterließ eine pinkfarbene Spur. Das bisschen Kraft, das ich hatte sammeln können, war aufgebraucht. Ich brauchte mehr Blut, wenn ich ihn töten wollte. Und ich würde ihn töten, denn jeder Mensch, der königliche Tränen sieht, erblickt damit sein eigenes Verderben.
»Ich werde dir ein Ende machen«, flüsterte ich. »Ich werde Blut auftreiben und wieder zu Kräften kommen, und dann werde ich dich vollkommen aussaugen. Nichts wird wundervoller sein als dein Tod.«
Der Blick, mit dem er mich musterte, war eigenartig. »Tu das«, antwortete er mit einer Stimme, die klang wie reißendes Papier.
Und schon wieder begann ich, das Bewusstsein zu verlieren, aber ich fühlte seine Arme, die mich vom Boden aufhoben und irgendwo hintrugen. Die Samtvorhänge streiften meine Stiefel wie ein vorbeiziehendes Flüstern.
Das Letzte, was ich hörte, bevor ich ohnmächtig wurde, war sein Flüstern: »Selbst der Tod ist besser als das hier.«
3.
Mein erster Gedanke, als ich wieder aufwachte, war, dass dieses ständige In-Ohnmacht-Fallen doch schrecklich ungehobelt war. Mein zweiter Gedanke war, dass, wer auch immer mir die Stiefel ausgezogen hatte, ich denjenigen küssen wollte. Mein dritter Gedanke, während ich meine Füße streckte, war, dass ich eben denjenigen nach dem Küssen würde töten müssen, denn schließlich kann man doch nicht so einfach mal eine Prinzessin entkleiden ohne ihre Erlaubnis. Mein vierter Gedanke war, dass ich keine Prinzessin mehr war. Wenn meine Mutter wirklich tot war, dann war ich jetzt die Zarina.
Da plötzlich fiel mir auf, dass Casper mich beobachtete.
Ich hielt meine Augen geschlossen und stellte mich schlafend. Gleichzeitig versuchte ich meine körperliche Verfassung zu analysieren. Zwar erinnerte ich mich an alles, was geschehen war, seit ich in diesem schrecklichen Koffer aufgewacht war, aber ich hatte noch immer keine Ahnung, wo ich war, welcher Tag oder überhaupt welches Jahr war, oder was mein Geiselnehmer/Retter von mir eigentlich wollte. Ich musste mir eine Strategie überlegen, aber meine Gedanken waren so durcheinander wie ein Schneesturm in einer mondlosen Nacht.
»Ich weiß, dass du wach bist, Prinzessin. Ich kann sehen, wie du die Füße bewegst.« »Du schon wieder, Knecht?« Ich versuchte, mich aufzusetzen, und knallte mit der Stirn gegen etwas Hartes.
»Die Decke ist ziemlich niedrig«, meinte er trocken, als ich zurückfiel. »Etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. Das hier ist nicht der Eispalast.«
Meine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, und es gelang mir, mich auf einen Ellbogen zu rollen. Er saß auf der anderen Seite des kleinen Zimmers - eigentlich eher ein größerer Wandschrank - auf einem Stuhl und zog gerade ein Paar glänzender kniehoher Stiefel mit silbernen Schuhkappen an. Eigentlich wollte ich etwas Abfälliges erwidern, aber er war einfach zu interessant. Der ungepflegte, unbekümmerte, betrunkene Taugenichts von vorhin hatte sich in eine attraktive Kreatur, einen regelrechten Dandy, verwandelt. Enge Wildlederhosen, ein gerüschtes Hemd mit federleichten Schichten aus Spitze und ein edelsteinbesetzter Mantel, der im Dämmerlicht glitzerte. Sein Haar fiel ihm in glänzenden Wellen über die Schultern. Er erinnerte mich an Mutters Lieblings-Hauspinkie, ausstaffiert für eine Parade, wenngleich da etwas vage Bedrohliches an ihm war. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, seine Körperhaltung, sein Duft oder sein wölfisches Grinsen - aber unter der Oberfläche von Casper Sterling lauerte etwas Gefährliches.
»Zeit für meinen Auftritt.« Er stand auf und betrachtete sein Erscheinungsbild prüfend in einem Spiegel, der an der Wand hing. »Du musst genau da bleiben, wo du bist. Ich habe mir ein paar alte Flugblätter angesehen, und jeder, der nicht allzu betrunken ist, würde dich in Sekundenschnelle erkennen. Also denke schon mal darüber nach, was du tun kannst, um das zu ändern - angefangen bei deinem Haar.«
Meine bloße Hand fuhr an die langen, weißblonden Locken, die sich über die Seite des Bettes kräuselten. Du meine Güte, hatte er die Nadeln herausgezogen, während ich schlief? Der Gedanke an diese langgliedrigen Finger in meinem Haar empörte mich. Und er erwartete allen Ernstes von mir, dass ich das änderte, was mir am besten an mir gefiel? Die eisblauen Augen meiner moskovitischen Herkunft konnte ich nicht ändern, also war mein Haar die einzige logische Wahl. Und dann wurden mir erst die Konsequenzen dessen, was er gesagt hatte, klar.
»Warum sollte ich mich verkleiden?« Ich straffte die Schultern und schob das Kinn vor, meiner undamenhaften Position zum Trotz. »Ich bin die Prinzessin. Bald werde ich Zarina sein. Sobald die Obrigkeit von meinem Aufenthaltsort Kenntnis erlangt, wird man mich in den Eispalast zurückbringen. Du könntest sogar eine Belohnung für deine Mühe erhalten.«
Bevor wir dich ausbluten und dein Herz auf Toast essen, fügte ich im Stillen hinzu.
»Wir sind hier nicht in Frostland. Und Frostland ist nicht mehr, was es noch vor vier Jahren war. Dort gibt es Bürgerunruhen und Gerüchte über eine Revolte gegen das brutale Regiment des Bludadels. Auf deinen Kopf ist ein hoher Preis ausgesetzt, und falls du es tatsächlich lebend bis nach Hause zurück schaffen solltest, würde Ravenna dich töten lassen. Falls das Volk dich noch immer will, weiß es nichts davon. Alle sind vollkommen ihrer Macht unterworfen. Fasziniert oder schikaniert oder nur mit Propaganda abgefüttert. Vielleicht auch alles zusammen.«
»Du lügst.« Jedes meiner Worte troff vor Eiseskälte.
»Warum sollte ich lügen? Wir sind hier in London, und ich bin ein abgehalfterter Musiker, der in einer drittklassigen Bludbar Melodien für Kupferlinge klimpert. Ich bin ein tanzender Affe. Wenn ich dir weh tun wollte, dann hätte ich dich den Coppers übergeben, als du noch schliefst, und die Belohnung eingestrichen. « Er band seine Krawatte und ließ das Grinsen mit den Grübchen aufblitzen. »Es liegt bei eintausend Silberlingen, weißt du. Man hält dich zwar für tot- aber irgendjemand ist sich nicht ganz sicher.«
Äußerlich blähten sich meine Nasenflügel vor Zorn. Doch innerlich zerbrach ich, und die Risse zogen sich durch mich hin durch wie durch einen Gletscher, der im Begriff war, in die bodenlose Tiefe zu stürzen. Wenn er die Wahrheit sagte, dann waren meine Eltern tot, und der wunderschöne Palast, in dem ich ein geborgenes Leben geführt hatte, war über tausend Meilen entfernt und nicht mehr sicher für mich. Das Meer, die Berge, die Wildnis der Tundra, all das stand zwischen mir und meinem Zuhause. Nur die Erkenntnis, dass jemand meinen Tod wollte, stellte das noch in den Schatten. Und es fehlte nicht viel, dass dieser Jemand seinen Willen bekommen hätte.
»Ich muss zurück.« Ich musste herausfinden, was Ravenna die Kontrolle über mein Land und das letzte meiner Geschwister verlieh. Wenn die Lage so schlimm war, wie er sie beschrieben hatte, dann war es meine Pflicht ihnen gegenüber und mein Geburtsrecht.
»Zuerst mal würde ich mir Gedanken darüber machen, aufzustehen. Sieht so aus, als hätte man dich ausgeblutet bis an die Schwelle des Todes. Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«
Er beugte sich vor, in einen goldenen Strahl der untergehenden Sonne, der durch ein kleines einem Bullauge ähnlichen Fenster fiel. Die blutunterlaufenen Augäpfel ließen das Blau seiner Pupillen noch stärker strahlen. Ich holte tief Luft und stellte fest, dass sein Geruch mich beschäftigte. Er war kein Bludmann, das war sicher. Aber was war er dann?
Und wo war ich die letzten vier Jahre lang gewesen?
»Das Letzte, woran ich mich deutlich erinnere, ist, dass ich am Brunnen im Hinterhof saß. Er war von einer dünnen Eisschicht bedeckt, so wie auf Blut brulee. Ich habe Muster in das Eis gezeichnet, den Kois darunter beim Schwimmen zugesehen und versucht, mit meinen Fingern durch die Kruste zu greifen.«
»Und dann?«
»Und dann war ich im Dunkeln und plante deinen Tod.«
»Wie nett.«
»Ich bin nicht nett«, grollte ich. Mit ein wenig Mühe zog ich mich in eine sitzende Position hoch, am anderen Ende des Bettes, wo die Dachsparren nicht so niedrig waren. »Nett ist für Kindermädchen und Stallburschen. Ich bin ein Mitglied des Königshauses. Ich bin Pragmatikerin. Und ich bin ein Morgenmuffel. Warum riechst du so anders?«
»Das geht dich verdammt noch mal nichts an.«
»Deine Einstellung gefällt mir nicht.«
»Ich bin nicht dein Knecht.«
Ich fauchte. »Wenn du mein Diener wärst -«
»Schau mal, das ist ja alles ganz süß, du mit deinen Drohungen die ganze Zeit. Aber du bist schwach, du wirst gesucht, und du bist in meiner Gewalt. Gewöhn dich dran. Ich muss in fünf Minuten auf der Bühne sein, oder ich habe kein Geld, um mehr Blut für dich zu kaufen. Kann ich mich darauf verlassen, dass du hierbleibst?«
Endlich etwas, womit ich arbeiten konnte.
Ich schenkte ihm mein betörendstes Lächeln, das meine kleinen spitzen Zähne sehen ließ, und klimperte mit den Wimpern. »Natürlich. Ich werde einfach ein Nickerchen machen, während ich warte, und danach können wir ein Transportmittel organisieren. «
Er lachte leise, und meine Wangen wurden heiß.
»Weißt du, vor zwei Jahren wäre ich darauf noch hereingefallen. Aber seitdem ist eine ganze Menge passiert, und ich erkenne eine Lügnerin, wenn ich sie sehe.«
Meine Hände ballten sich zu Fäusten in die kratzige Decke auf seinem Bett. Langsam gewöhnte ich mich an das Gefühl meiner überlangen Nägel, die sich in Stoff gruben. Inzwischen machte es mir nicht mehr so viel aus. Aber als ich meine Füße auf den Boden setzte und mich in Angriffsposition duckte, drückte er mir seelenruhig eine behandschuhte Hand gegen die Schulter und schubste mich hart zurück auf das Bett.
Ich prustete empört auf und kämpfte gegen die Schwerkraft an, aber ich war noch immer sehr schwach. Mich aufzusetzen, hatte mich schon alle Kraft gekostet, die ich hatte. Das Gefühl der Schande, das da anfing, wo die Schwäche aufhörte, brachte mich fast um.
»Ich traue dir nicht, Prinzessin. Ich weiß nicht, was du denkst und was du tun wirst, aber ich traue dir nicht.« Er kramte in einer schiefen Schublade herum und hielt dann eine Hand voll Seidenkrawatten in die Höhe.
»Das würdest du nicht wagen.«
»Du kannst mich nicht daran hindern.« Er grinste.
Ich wehrte mich, aber es half nichts. Er summte leise vor sich hin, während er meine Hände an den Handgelenken zusammenband. Als er nach meinen Knöcheln griff, die nur von Strümpfen bedeckt waren, ließ mich tief anerzogene Schicklichkeit schwach nach ihm treten.
»Niemand«, japste ich, »hat jemals meine Knöchel berührt.«
»Niemand hat jemals gedroht, mich zu töten, und das zehnmal auf zehn verschiedene Arten an einem einzigen Tag.«
Geschickt schnappte er sich meine Knöchel und wand ein rotweinfarbenes Seidenband darum. »Aber ich brauche diesen Job. Mittlerweile habe ich mich durch jedes Theater und jede Bar der Stadt gesoffen, und nach dem hier wäre meine nächste Station Deep Darkside und Beggar's Row. So tief will ich nicht sinken.«
Er redete mit sich selbst. Ich war gefesselt an Händen und Füßen, zusammengeschnürt wie eine Fliege in einem Spinnennetz - oder, ehrlicher gesagt, wie eine Spinne, vorübergehend gefesselt von einer sehr törichten Fliege. Mein Verstand schaltete von Flucht auf List um, und ich hielt ganz still und ließ ihn weitermachen. Je mehr ich über meine Beute lernen konnte, die zu meinem Geiselnehmer geworden war, umso besser standen meine Chancen, ihn zu schlagen.
»Was ist passiert?«, fragte ich sanft.
»Ich bin gestorben. Du weißt nicht, wie das ist. Oder, vielleicht weißt du es ja doch, jetzt. Aber die Musik ist alles, was ich noch habe. Ich war berühmt. Gefeiert, in zwei verschiedenen Welten. Und beide Male habe ich alles verloren. Ein Mädchen, von dem ich dachte, dass ich es liebe, hat mir erzählt, dass der Verlust meine Erlösung sein würde. Aber weißt du was? Ich fühle mich nicht erlöst.«
»Niemand ist je völlig selig«, fügte ich besänftigend hinzu.
Er holte eine Münze aus seiner Tasche und begann, sie über seine Fingerknöchel hin-und herwandern zu lassen. Seine Augen waren geschlossen, und ein Ausdruck von Schmerz huschte über sein Gesicht. Immer schneller drehte sich die Münze in den letzten Strahlen der abendlichen Sonne, glitzerte im Licht und zeigte mir das in Kupfer gegossene Gesicht eines freundlichen älteren Herrn mit Schnurrbart. Ich bewegte keinen Muskel und beobachtete einfach nur meine Beute, wie ich es gelernt hatte. Er schluckte schwer, und ich konzentrierte mich auf seine Lippen, auf die sinnliche Krümmung der Unterlippe, und wartete darauf, was er als Nächstes enthüllen würde.
»Oi, Maestro«, rief da jemand mit blecherner Stimme von irgendwo hinter der geschlossenen Tür. »Das ist deine letzte Chance, Kumpel. Wenn du nicht in der Gosse enden willst, dann kommst du besser runter und fängst an zu spielen.«
»Noch mehr Drohungen«, murmelte er leise. »Heute muss Montag sein.«
Er überprüfte noch einmal die Knoten, und als er merkte, dass ich es geschafft hatte, sie nur ein winziges bisschen zu lockern, zog er sie so fest zusammen, dass ich auf ganz undamenhafte Art aufkreischte.
»Wie kannst du es wagen -«
»Du weißt ganz genau, wie ich es wagen kann.« Er ließ den Blick über mich schweifen und atmete tief ein, als wolle er die Luft riechen. »Denke einfach nur daran, wenn du deine Kraft wiedergewonnen hast, dass ich dir viel Schlimmeres hätte antun können.« Er leckte sich über die Lippen, während sein Blick auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides ruhte, so düster, dass es mich siedend heiß durchfuhr. Ich zeigte ihm die Zähne.
Er tätschelte mir übers Haar, und ich schüttelte ihn mit einem Fauchen ab. Die Bewegung erschöpfte mich über alle Maßen, aber ich hasste den Gedanken, dass seine schmutzigen Bauernhände mich anfassten. In meinem Kopf tötete ich ihn zum tausendsten Mal, lachend, während sein Blut meine Zähne färbte.
»Ich werde nicht an das denken, was du nicht getan hast«, flüsterte ich, während ich mich auf der Seite zusammenrollte und bereitmachte, zu schlafen, in Ohnmacht zu fallen, oder was auch immer mich da ständig überkam. »Ich werde nur an das hier denken.«
© Bastei Verlag
Ein winziger Lichtstrahl fiel herein, in düsterem Orange. Frische Luft drang an mein Gesicht, und damit sein Duft. Es erforderte jedes Quäntchen der mir so mühsam anerzogenen Geduld, still und reglos zu bleiben, und nicht wild zu strampeln und herumzutasten, um mich zu befreien aus was immer mich da gefangen hielt wie einen Kraken aus der Tiefe. In meinen Gedanken erklang die Stimme meiner Mutter, in ihrem unverkennbaren königlichen Tonfall.
Lautlosigkeit. List. Schnelligkeit. So bringt man dem Feind den Untergang, Prinzessin. Du bist das Raubtier der Raubtiere. Die Königin der Bestien. Jetzt töte ihn. Langsam.
Meine Fingernägel waren überlang gewachsen und schärfer, als bei Hofe in Mode war, und so fiel der Rest des Leders in einem langen Stück ab. Ich hob die Klappe mit einer Hand an und spähte vorsichtig hinaus.
Es war ein Raum mit hoher Decke und Holzfußboden; er war düster und fast leer. Stühle mit spindeldürren Beinen standen auf runden Tischen. Gegenüber, beleuchtet von einem orangefarbenen Gasscheinwerfer, befand sich eine Bühne, und auf dieser Bühne stand ein Cembalo, und an diesem Cembalo spielte mein Mittagessen.
Als ich ihn dort sah, zog sich die Prinzessin zurück, und die Bestie übernahm das Regiment. In Kauerhaltung, die Finger zu Klauen gekrümmt, schlängelte ich mich durch das Loch aus diesem Kasten hinaus, ohne den Blick von meiner Beute zu wenden. Er hatte die Kreatur, die aus den Schatten Jagd auf ihn machte, noch nicht bemerkt. Seine Augen waren geschlossen, und er sang etwas Schwermütiges, irgendetwas über jemanden namens Jude. Ich war nicht Jude, also spielte es keine Rolle.
Der kultivierte Teil meines Gehirns registrierte kaum, dass ich hochhackige Schuhe und raschelnden Taft trug. Ich war sehr gut in der Lage, in meinen besten Kleidern zu schleichen, schließlich tat ich das schon seit meinen Kindertagen in Leinenschürzchen mit Hermelinkragen. Während ich in den Schatten an der Wand entlangschlüpfte und in Richtung Bühne glitt, pochte der Hunger in mir, im Takt zu meinem Herzschlag und seinen langsamen Tastenanschlägen. Es fühlte sich an, als sei ein ganzes Leben vergangen, seit ich zuletzt etwas zu mir genommen hatte. Und vielleicht war es ja so. Noch nie hatte ich mich derart ausgetrocknet gefühlt.
Es gelang mir, den Raum zu durchqueren, ohne dabei entdeckt zu werden. Währenddessen jammerte er weiter über diese Jude, und seine rauchige Stimme war so traurig, dass sie sogar das Tier in mir rührte. Ich hielt inne, um ihn zu betrachten, hinter tiefroten Samtvorhängen, die eindeutig schon bessere Tage gesehen hatten. Aber ich sah keinen Mann. Nur Nahrung. Und in diesem Sinne präsentierte er sich mir regelrecht auf einem Silbertablett: Er lief mit offenem Hemd herum, ohne Stiefel, und auch Handschuhe waren nirgendwo zu sehen. So exponiert und mit dem Alkoholgeruch, der von ihm ausging, war er ein leichtes Ziel.
Er unterbrach sein seltsames Lied und griff nach einer grünen Flasche. Er setzte sie an die Lippen, die gerötet waren von Blut und Gefühlen. Ich sah zu, wie er den Kopf in den Nacken warf, wie sich sein Adamsapfel bewegte, und ein ohrenbetäubendes Brüllen überkam mich. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Innerhalb eines Herzschlages war ich über die Bühne und fiel ihn an.
Und so klein ich auch war, der Schwung meines Angriffs warf ihn rücklings von der Bank. Die Flasche schlitterte über den Boden, und er machte einen erbärmlich unbeholfenen Versuch, danach zu greifen. Mit einer Hand hielt ich sein langes Haar gepackt, mit der anderen drückte ich seinen Brustkorb zu Boden, und meine langen Klauen gruben sich in sein Fleisch, aus dem winzige Blutstropfen hervortraten und die Luft würzten. Ich atmete tief ein und genoss den Duft. Er war so gut wie tot. Ich lächelte und ließ meine Reißzähne sehen.
Seine rotgeränderten Augen begegneten meinem Blick. Er verstand, und mit einem animalischen Glitzern, das mich überraschte, erwiderte er mein Lächeln. Plötzlich krachte etwas gegen meinen Kopf, und er rollte mich auf den Rücken und taumelte mit einem wilden Auflachen auf die Füße. Rote Flüssigkeit lief über mein Haar und mein Gesicht, und ich schüttelte mir mit einem Fauchen grüne Glasscherben von den Schultern. Der dreiste Bastard hatte mich mit seiner Flasche geschlagen. Wenn ich nicht schon vorgehabt hätte, ihn zu töten, dann hatte ich jetzt guten Grund dazu.
Ich wischte mir mit dem Handrücken den brennenden Wein aus den Augen und umkreiste ihn. Ich war schwindlig vor Hunger, beinahe benommen, und er machte sich meine geschwächte Verfassung zunutze, indem er vorwärtssprang und mir mit dem gesplitterten Ende seiner zerbrochenen Flasche den Unterarm aufschlitzte. Ich fauchte wieder und ging ihm an die Kehle - doch im letzten Moment ließ mich etwas abrupt innehalten. Er roch nicht so gut, nicht mehr.
Die Bestie in mir zog sich zurück, und ich richtete mich auf. Meine Arme hingen, nun nutzlos, herab. Er hatte einen Finger im Mund, und als er den mit einem dramatischen Plop wieder herauszog, waren seine Lippen rotgefärbt von meinem Blud. Jetzt roch er genauso wie ich. Und weniger nach Nahrung.
»Nicht heute Nacht, Josephine«, sagte er mit einem rotzfrechen Grinsen.
Ich kämpfte darum, mich aufrecht zu halten und nicht zu wanken. Jetzt, da er von meinem Blud gekostet hatte, hatte die Bestie in mir nicht länger Kontrolle über mich, und es gab nichts mehr, was mich aufrecht hielt. Ich war leer wie eine Wolke, leicht wie eine Schneeflocke und hungrig über den Hunger hinaus. Mein Herz schlug kaum noch, und ich fühlte mich mehr als nur ein wenig verwirrt.
»Ohje«,sagte ich mit einer Hand an meinem tropfnassen Haar. »Ich glaube tatsächlich, ich könnte ohnmächtig werden. Und du hast auch noch mein Kleid ruiniert. Dein Herr wird dich einfach ausweiden und vierteilen lassen.«
Und dann fiel ich tatsächlich in Ohnmacht. Während die Welt um mich schwarz wurde, fühlte ich seine Hände, die mich auffingen, sein köstliches - wenn auch nicht mehr unerträglich aufreizendes - Blut, das nur Millimeter von mir entfernt durch seine Adern floss.
»Ganz ruhig, kleines Mädchen«, sagte er. Ich roch Wein und Trauer an ihm, und noch etwas anderes, tief und moschusartig, und irgendwie nicht richtig.
Sanft half er mir, zu Boden zu sinken, während ich im Fieberwahn kaum noch flüstern konnte: »Ich bin kein kleines Mädchen, und du bist der Diener mit dem schlechtesten Benehmen, das mir je untergekommen ist.«
Die Welt versank in Finsternis, und sein Lachen und seine Musik verfolgten mich bis in meine Träume.
2.
Noch bevor meine Augen sich öffneten, und ehe ich ganz wach war, trank ich schon. Vier große Schlucke, und ich lechzte nach mehr. Ich packte die leere Glasphiole, die mir an den Mund gehalten wurde, und schleuderte sie zu Boden.
»Mehr«, krächzte ich. »Ich verlange mehr.«
Eine weitere Phiole erschien, und aufseufzend schluckte ich wieder. Jemand lachte leise. Das Blut rann durch meine Kehle, kühl und warm zugleich. Es schmeckte exotisch. Musste das hierzulande gängige Aroma sein.
»Wie lange warst du denn in diesem alten Koffer versteckt?«
Ich öffnete die Augen. Plötzlich war mir die so gar nicht damenhafte Natur meiner Zwangslage deutlich bewusst: Ich lag auf dem Boden, die Beine auf staubigen Holzdielen ausgestreckt. Um meine Schultern lag der Arm eines Mannes, und seine unbedeckte menschliche Hand hielt eine Phiole an meine Lippen, während ich das Blut trank, so gierig wie ein Kind, das Süßigkeiten nascht. Mein Haar war in Unordnung, und einige der üppigen Locken um mein Gesicht waren rot gefärbt mit etwas, das roch wie alter Wein. Ich schlug auch diese Phiole zu Boden - natürlich erst, nachdem ich sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte.
»Du Schurke«, knurrte ich so damenhaft, wie ich konnte. »Du frevlerischer Hund. Wie kannst du es wagen, mich anzurühren? Ich werde dein Blut als Tinte benutzen.«
Ich riss mich aus seinem Griff los und versuchte, aufzustehen, aber meine Beine waren zu schwach. Ohne seinen Körper hinter mir kippte ich direkt nach hinten über und plumpste auf den Rücken wie ein Fisch. Was immer man mir angetan hatte, zwei Phiolen Blut waren nicht genug, um mich wieder auf die Beine zu bringen.
Doch - was war mir eigentlich angetan worden? Und von wem?
»Du«, befahl ich und musterte ihn mit schmalen Augen.
Er hockte einige Fuß von mir entfernt, die Ellbogen lässig auf den Knien, und beobachtete mich. Noch nie hatte ich so viel entblößte Haut an einem Diener gesehen, der nicht als Mahlzeit offeriert wurde. Seine Augen waren strahlend blau und betrachteten mich mit Neugier und einer bemerkenswerten Abwesenheit von Angst und Respekt.
»Was hast du mit mir gemacht, du Schlachtvieh?«
Er lachte leise und grinste dabei. Er hatte Grübchen. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich dir das Leben gerettet habe, direkt nachdem du mich angegriffen hast. Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Sieht so aus, als hätte man dich ausgeblutet.«
»Ausgeblutet?«
»Du kannst ja nicht einmal stehen, kleines Mädchen.«
Ich wollte eine Hand heben, um ihm die Kehle zu zerquetschen, aber mein Arm war tonnenschwer. Das Gefühl der Benommenheit kam wieder, ein Gefühl, als läge ein Fels- brocken auf meiner Brust. Ich rang um Luft. Etwas bewegte sich, und ich sah eine frische Phiole mit Blut in seiner Hand aufblitzen, die er durch seine Finger hin-und herwandern ließ. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen, und ich musste ein ungebührliches Sabbern unterdrücken.
»Gib mir das«, verlangte ich heiser im Befehlston.
»Zuerst sagst du mir, wer du bist.«
Daraufhin fing ich an zu keuchen, während ich zusah, wie er das Blut zwischen seinen Fingern hin-und herschob. Er mochte ja mein eigenes Blud zu sich genommen und damit die Bestie in mir ruhiggestellt haben, aber trotzdem roch er noch immer nach Nahrung. Hätte ich ihm nur die Kehle herausreißen können- ich hätte mich bis zu den Ohren in seinem Hals vergraben und voller Ekstase getrunken. Aber ich zwang die Vorstellung davon aus meinem Kopf und begegnete seinem finsteren Blick aus stahlblauen Augen, während ich darum kämpfte, die Kontrolle über die innere Bestie zu behalten, die sich wieder an die Oberfläche drängte.
»Damit wir uns richtig verstehen«, sagte ich und sprach dabei jedes einzelne Wort besonders deutlich aus. »Ich bin nicht klein, und ich bin kein Mädchen. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, und ich bin eine Prinzessin. Und du, wer auch immer du sein magst, bist mein Untertan. Du schuldest mir Ehrerbietung, Treue und Blut.«
»Dann komm und hol es dir«, antwortete er unerwartet gut gelaunt und mit spöttischem Grinsen. Er hielt die Phiole in die Höhe, und das Glas schimmerte im bernsteinfarbenen Licht.
»Du weißt sehr gut, dass ich das nicht kann«, stieß ichhervor und kämpfte darum, mich zu beherrschen. Noch nie war ich so hilflos gewesen, und er verspottete mich auch noch. Das war untragbar. Sobald ich wieder bei Kräften war, würde er dafür bezahlen.
»Dann werden wir wohl verhandeln müssen, nicht wahr?«
»Ich verhandle nicht.«
»Dann viel Glück, Prinzessin.«
Er stand auf und ging zurück zu seinem Cembalo. Langes kastanienbraunes Haar fiel ihm wirr über das fleckige weiße Hemd, und ich gelobte im Stillen, dass ich eines Tages einen Mopp daraus machen würde. Rasender Zorn verzehrte mich. Zorn und Hunger.
Als spüre er meine Wut, drehte er sich um, zwinkerte mir mit einem seiner verdammungswürdigen blauen Augen zu - und dann warf er die Phiole in die Luft. Ich schluckte schwer, als ich zusehen musste, wie das kostbare Glasröhrchen in einem perfekten Bogen herumwirbelte. Dann zerschellte es auf dem Boden, und ich stieß ein unmenschliches Heulen aus und versuchte, mich über die abgenutzten Dielen zu schleppen. Ich war eine Prinzessin, aber in diesem Moment hätte ich liebend gern das Blut inmitten winziger Glassplitter von dem schmutzigen Boden aufgeleckt. Doch ich konnte mich nicht bewegen, nicht einen Zentimeter. Alle Ausbildung und Erziehung, alles Jagen auf der Welt hatten mich nicht auf eine derartige, absolute Hilflosigkeit vorbereitet.
»Warte«, keuchte ich, und meine schwarzen Hände kratzten über die Bodenbretter. Bei dem Geräusch meiner langen weißen Krallen, die nutzlos über das Holz schrammten, zuckte ich zusammen. Er musste recht haben, nur eine Ausblutung konnte mich so tief sinken lassen, dass ich wimmerte wie ein Kätzchen. Und voll Verzweiflung bettelte.
»Hmm?« Er drehte sich um, um mich noch einmal mit diesen verhassten Grübchen anzugrinsen.
»Lass uns verhandeln.«
»Ich wusste, dass du mir zustimmen würdest.« Er kam wieder zurück und holte noch eine Phiole aus seiner Hemdtasche. Dann ließ er sich im Schneidersitz auf dem Boden wieder, gerade außerhalb meiner Reichweite, und fing an, auch diese durch seine Finger wandern zu lassen. Das Gefühl, das ich dabei verspürte, erinnerte mich an eine Wolfshündin, die einst meinem Vater gehört hatte, an die Art, wie sie unter ihrem juwelenbesetzten Halsband schluckte, wenn mein Vater sie zwang, einen Knochen auf ihrer Schnauze zu balancieren, bis er ihr das Zeichen gab, dass sie ihn fressen durfte. Ich musste auch schlucken.
»Zuerst einmal, wer bist du wirklich?«, fragte er.
Ich schloss die Augen und kämpfte darum, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich hatte noch nie gebettelt, und noch nie hatte ich mich in einer Position befunden, in der ich nicht über absolute Macht verfügte. Und ganz eindeutig war ich noch nie so hilflos gewesen, zu nackten Füßen eines Pinkies, eines Knechtes, eines armseligen Menschlings. Meine Hände ballten sich zu Fäusten in den eisblauen Taft meines Kleides, und meine Krallen zerrissen die Rüschen und gruben sich schmerzhaft in meine Handflächen.
»Ich bin Prinzessin Ahnastasia Feodor. Meine Mutter ist die Bludzarina von Frostland, und wir residieren im Eispalast zu Moskovia.«
Bei der Erwähnung meines Namens zeigte sich eine Reihe eigenartiger Emotionen auf seinem Gesicht, von Erkennen zu Verstehen, bis hin zu etwas, das wie Mitleid aussah.
»Dann habe ich schlechte Neuigkeiten, Prinzessin. Ich lese regelmäßig Zeitung. Du wurdest vor vier Jahren für tot erklärt. Es heißt, man habe dich entführt und deine Asche in deinem gravierten Phiolenkästchen in den Palast zurückgeschickt.«
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich mich noch schwächer und benommener fühlen könnte, als es ohnehin schon der Fall war, aber Angst und Wut versetzten meinen kaum noch atmenden Körper in Aufruhr. Ich, entführt und ausgeblutet? Ich stellte mir meine Eltern vor, in ihren Händen das goldene Kästchen, das sie mir an meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten, als Behältnis für Phiolen mit Blut, das nur den hochwertigsten Dienern mit dem besten Stammbaum entnommen wurde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das majestätische Gesicht meiner Mutter wohl bei meiner Bestattungszeremonie ausgesehen haben mochte, ob ihre sorgfältig einstudierte Maske wohl zerbrochen war, während meine angebliche Asche im Wind eines Schneesturms davonwehte. Ob sie geweint hatte? Wusste sie überhaupt, wie das ging?
Ich schluckte schwer. Meine Kehle fühlte sich an wie ein Reibeisen. »Das kann nicht sein.«
Er neigte den Kopf und musterte mich blinzelnd von oben bis unten. Ich war es gewohnt, in den Augen eines Bludmannes Ehrfurcht, Angst und höfliche Bewunderung zu sehen. Aber noch nie hatte ein Mensch mir so schamlos ins Gesicht gesehen, mit einem Blick, der bis in meine Seele zu reichen schien und das, was er dort sah, in Frage stellte. Doch genau das tat dieser Mann. Und der Ausdruck, der daraufhin auf seinem Gesicht erschien, zeigte unwillkommenes Mitgefühl. Sein prüfender Blick ließ mich zurückweichen.
»Du siehst wie die Abbildung auf den Flugblättern aus, auch wenn die Zeichnungen dich etwas jünger zeigen. Wenn du ausgeblutet wurdest und jahrelang in diesem Koffer versteckt warst, könntest du es sein, denke ich. Wenn du wirklich Prinzessin Ahnastasia bist, dann wird deine Schwester ebenfalls vermisst, und dein Bruder kränkelt.« Er senkte den Blick und spielte wieder mit der Blutphiole herum, und meine Augen folgten ihm. »Ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen soll, aber deine Eltern sind tot. Sie wurden vor einigen Monaten hingerichtet, bei einem Putsch der Zigeunerhexe Ravenna. Sie ist nur noch einen Herzschlag davon entfernt, die absolute Kontrolle über Frostland zu erlangen. Sag mir, Prinzessin: Woran kannst du dich noch erinnern?«
»Ich habe nicht . . . ich kann nicht . . .« Ich stockte und schloss die Augen. Sie waren zu trocken für Tränen. »Ich brauche mehr Blut«, flüsterte ich. »Bitte.«
Mit einem weiteren mitleidigen Blick entkorkte er die Phiole in der Hand. Ich gestattete ihm, mich in eine sitzende Position zu bringen, und schluckte das Blut so vornehm wie möglich hinunter. Dabei war ich so voller Kummer, dass es sich anfühlte, als würde ich einen Felsbrocken schlucken. Nachdem ich die Phiole geleert und den Rand des Glases abgeleckt hatte, murmelte ich: »Mehr.«
Er kam dem nach und holte eine weitere Phiole aus seiner Hemdtasche. Bis dahin war ich wieder genug bei Kräften, um seine Hand wegzuschlagen und die Phiole selbst zu halten, aber ich ließ zu, dass er seinen Arm um meinen Rücken gelegt hielt, um mich zu stützen. Meine Krallen waren grässlich lang und begannen sich an den kleinen Fingern schon zu unmodischen Korkenziehern zu verdrehen. Wenigstens würde meine Mutter mich nie so zu sehen bekommen. Ich verzog das Gesicht, als ich die Phiole auf den Boden legte. Der Blutverlust, der übergroße Kummer - das alles war einfach zu viel.
»Das ist alles Blut, das ich habe.« Er steckte die leeren Phiolen wieder in die Tasche und wischte sich die Hände ab, als würde er die Glasröhrchen nicht gerne berühren. »Ich fürchte, vor heute Nachmittag ist keine neue Lieferung zu erwarten. Niemand kommt vormittags ins Seven Scars, außer mir und Tom Pain. Stimmt's, Tommy?«
Und dann roch ich etwas überaus Seltsames. Ein Tier. Ein Raubtier wie ich, aber fremdartig und irgendwie nicht bedrohlich. Ein grollendes Geräusch erklang, und eine merkwürdige Kreatur tappte aus den Schatten. Sie war schwer, schwarz und pelzig, mit einem großen, grünen Auge, das mich philosophisch musterte. Das andere Auge war vernarbt, eine hässliche Schmarre im Gesicht der Kreatur. Etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen.
»Was ist das für ein Monster?«
»Das ist kein Monster. Es ist eine Katze.«
Als er die Hand ausstreckte, um die knurrende Kreatur zu streicheln, fiel mir plötzlich auf, dass ich von allein aufrecht saß. Endlich hatte ich wieder genug Kraft, um mich ohne Unterstützung aufrecht zu halten. Der Mann war auf das Tier konzentriert, und ich rutschte unauffällig zu der zerbrochenen Blutphiolehin, zog meine Finger durch die rote Pfütze und leckte sie mit neu erwachter Verzweiflung ab.
»Was denn, gibt es keine Katzen in Frostland?«, fragte er. »Ich dachte, Katzen gibt es überall. Der alte Tommy lebt schon länger hier im Seven Scars, als es jeder Katze erlaubt sein sollte, zu leben. Man sagt, Katzen haben neun Leben, und er ist schon bei seinem zehnten.«
Der Mann kraulte das Katzending unter dem Kinn, und das Tier schloss genussvoll sein Auge und rieb seinen Kopf an ihm auf völlig schamlose Art, die dabei auch noch Überlegenheit ausstrahlte. Ich begann die Katze zu mögen. Der Mann dagegen . . .
»Ich habe deine Frage beantwortet«, sagte ich, während mit meiner Kraft auch mein Hochmut zurückkehrte. »Jetzt wirst du meine beantworten. Wer bist du? Und was bist du? Du hast den falschen Geruch.«
»Ich bin Casper Sterling.« Es war beunruhigend, diese Art, wie er mich unverwandt ansah. Ich weigerte mich, zu blinzeln, während ich auf die Antworten wartete, die er mir schuldete. »Ich bin der größte Musikant in London, vielleicht in der ganzen Welt von Sang. Und ich bin die meiste Zeit betrunken.«
»Das ist es nicht, was so falsch an dir riecht. Ich kenne den Geruch von Alkohol. Da ist noch etwas anderes.«
»Ich habe deine Frage beantwortet, Prinzessin«, knurrte er. »Jetzt wird verhandelt.«
»Ich will zugeben, dass ich dir etwas schulde«, antwortete ich ruhig. »Und du schuldest mir ebenfalls etwas. Also sind wir quitt.«
Er lachte, düster, nüchtern und unbekümmert.
»Ich schulde dir etwas? Wir sind quitt? Bockmist. Du hast mich angegriffen, und ich habe dir trotzdem das Leben gerettet. Du schuldest mir was. Punkt.«
»Du hast mich geschnitten. Da wo ichherkomme, habendiejenigen, die das Leben Adeliger bedrohen, noch Glück, wenn sie nur ausgeweidet, gevierteilt und den Bludlemmingen und Schneewölfen zum Fraß vorgeworfen werden. Wenn du mein Diener wärst und mich absichtlich verletzt hättest, so wie du es tatsächlich getan hast, würde man deine gesamte Familie auf den Gefrorenen Hügeln pfählen und in einem Festakt bei lebendigem Leib verspeisen. Deine Schuld mir gegenüber ist weit größer als umgekehrt, denn durch Spezies und Geburt bin ich dir naturgegeben überlegen.«
Ich funkelte ihn an. Er funkelte zurück. Dann stand er auf und kam zu mir, und seine nackten Füße streiften den zerrissenen und verblichenen Taft meines Rocks. Er bückte sich, bis sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war, und bleckte mir die Zähne. Mir! Ich konnte seine Böswilligkeit und den Alkohol spüren, die von ihm ausgingen.
»Also dann, verletze mich. Mach schon. Beiß mich. Mach mir ein Ende. Ich habe alles verloren, was mir je etwas bedeutet hat. Ich würde es begrüßen, Prinzessin.«
Die Worte kamen als ein Knurren zwischen blitzenden Zähnen heraus, und ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hob eine zitternde, schwarzgeschuppte Hand. Unsere Blicke trafen sich - seine Pupillen waren wie Stecknadeln in dämmerigem Blau. Mit jedem bisschen Kraft, das ich aufbringen konnte, voll Wut über seine niedere Natur und sein Mitleid, drückte ich meine scharfen Klauen um seine Kehle. Ich konnte seinen Puls dort hämmern sehen, konnte die Wut, die in ihm pochte, riechen. Ich packte noch fester zu und wartete auf das nasse Aufplatzen seiner Haut, das harte Krachen seiner Wirbelknochen.
»Tu es!« Seine Lippen zogen sich zurück und entblößten Eckzähne, die schärfer waren, als ich erwartet hatte. »Mach ein Ende! Schick mich zurück in das Grab, wo ich hingehöre, du gottverdammtes Monster!«
Ich fauchte und drückte zu.
Doch ich schaffte es nicht einmal, seine Haut zu durchbohren.
Ich ließ seinen Hals los, und meine Kehle bebte mit einem Schluchzen. Ich konnte mir nicht einmal nehmen, was mir gehörte. Er hatte recht - ich war ein Monster. Ein gebrochenes Monster.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte er leise.
Ich fiel wieder zu Boden und krümmte mich schluchzend zusammen. Eine einzelne Träne rollte mir über die Wange, fiel auf mein Handgelenk und hinterließ eine pinkfarbene Spur. Das bisschen Kraft, das ich hatte sammeln können, war aufgebraucht. Ich brauchte mehr Blut, wenn ich ihn töten wollte. Und ich würde ihn töten, denn jeder Mensch, der königliche Tränen sieht, erblickt damit sein eigenes Verderben.
»Ich werde dir ein Ende machen«, flüsterte ich. »Ich werde Blut auftreiben und wieder zu Kräften kommen, und dann werde ich dich vollkommen aussaugen. Nichts wird wundervoller sein als dein Tod.«
Der Blick, mit dem er mich musterte, war eigenartig. »Tu das«, antwortete er mit einer Stimme, die klang wie reißendes Papier.
Und schon wieder begann ich, das Bewusstsein zu verlieren, aber ich fühlte seine Arme, die mich vom Boden aufhoben und irgendwo hintrugen. Die Samtvorhänge streiften meine Stiefel wie ein vorbeiziehendes Flüstern.
Das Letzte, was ich hörte, bevor ich ohnmächtig wurde, war sein Flüstern: »Selbst der Tod ist besser als das hier.«
3.
Mein erster Gedanke, als ich wieder aufwachte, war, dass dieses ständige In-Ohnmacht-Fallen doch schrecklich ungehobelt war. Mein zweiter Gedanke war, dass, wer auch immer mir die Stiefel ausgezogen hatte, ich denjenigen küssen wollte. Mein dritter Gedanke, während ich meine Füße streckte, war, dass ich eben denjenigen nach dem Küssen würde töten müssen, denn schließlich kann man doch nicht so einfach mal eine Prinzessin entkleiden ohne ihre Erlaubnis. Mein vierter Gedanke war, dass ich keine Prinzessin mehr war. Wenn meine Mutter wirklich tot war, dann war ich jetzt die Zarina.
Da plötzlich fiel mir auf, dass Casper mich beobachtete.
Ich hielt meine Augen geschlossen und stellte mich schlafend. Gleichzeitig versuchte ich meine körperliche Verfassung zu analysieren. Zwar erinnerte ich mich an alles, was geschehen war, seit ich in diesem schrecklichen Koffer aufgewacht war, aber ich hatte noch immer keine Ahnung, wo ich war, welcher Tag oder überhaupt welches Jahr war, oder was mein Geiselnehmer/Retter von mir eigentlich wollte. Ich musste mir eine Strategie überlegen, aber meine Gedanken waren so durcheinander wie ein Schneesturm in einer mondlosen Nacht.
»Ich weiß, dass du wach bist, Prinzessin. Ich kann sehen, wie du die Füße bewegst.« »Du schon wieder, Knecht?« Ich versuchte, mich aufzusetzen, und knallte mit der Stirn gegen etwas Hartes.
»Die Decke ist ziemlich niedrig«, meinte er trocken, als ich zurückfiel. »Etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. Das hier ist nicht der Eispalast.«
Meine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht, und es gelang mir, mich auf einen Ellbogen zu rollen. Er saß auf der anderen Seite des kleinen Zimmers - eigentlich eher ein größerer Wandschrank - auf einem Stuhl und zog gerade ein Paar glänzender kniehoher Stiefel mit silbernen Schuhkappen an. Eigentlich wollte ich etwas Abfälliges erwidern, aber er war einfach zu interessant. Der ungepflegte, unbekümmerte, betrunkene Taugenichts von vorhin hatte sich in eine attraktive Kreatur, einen regelrechten Dandy, verwandelt. Enge Wildlederhosen, ein gerüschtes Hemd mit federleichten Schichten aus Spitze und ein edelsteinbesetzter Mantel, der im Dämmerlicht glitzerte. Sein Haar fiel ihm in glänzenden Wellen über die Schultern. Er erinnerte mich an Mutters Lieblings-Hauspinkie, ausstaffiert für eine Parade, wenngleich da etwas vage Bedrohliches an ihm war. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, seine Körperhaltung, sein Duft oder sein wölfisches Grinsen - aber unter der Oberfläche von Casper Sterling lauerte etwas Gefährliches.
»Zeit für meinen Auftritt.« Er stand auf und betrachtete sein Erscheinungsbild prüfend in einem Spiegel, der an der Wand hing. »Du musst genau da bleiben, wo du bist. Ich habe mir ein paar alte Flugblätter angesehen, und jeder, der nicht allzu betrunken ist, würde dich in Sekundenschnelle erkennen. Also denke schon mal darüber nach, was du tun kannst, um das zu ändern - angefangen bei deinem Haar.«
Meine bloße Hand fuhr an die langen, weißblonden Locken, die sich über die Seite des Bettes kräuselten. Du meine Güte, hatte er die Nadeln herausgezogen, während ich schlief? Der Gedanke an diese langgliedrigen Finger in meinem Haar empörte mich. Und er erwartete allen Ernstes von mir, dass ich das änderte, was mir am besten an mir gefiel? Die eisblauen Augen meiner moskovitischen Herkunft konnte ich nicht ändern, also war mein Haar die einzige logische Wahl. Und dann wurden mir erst die Konsequenzen dessen, was er gesagt hatte, klar.
»Warum sollte ich mich verkleiden?« Ich straffte die Schultern und schob das Kinn vor, meiner undamenhaften Position zum Trotz. »Ich bin die Prinzessin. Bald werde ich Zarina sein. Sobald die Obrigkeit von meinem Aufenthaltsort Kenntnis erlangt, wird man mich in den Eispalast zurückbringen. Du könntest sogar eine Belohnung für deine Mühe erhalten.«
Bevor wir dich ausbluten und dein Herz auf Toast essen, fügte ich im Stillen hinzu.
»Wir sind hier nicht in Frostland. Und Frostland ist nicht mehr, was es noch vor vier Jahren war. Dort gibt es Bürgerunruhen und Gerüchte über eine Revolte gegen das brutale Regiment des Bludadels. Auf deinen Kopf ist ein hoher Preis ausgesetzt, und falls du es tatsächlich lebend bis nach Hause zurück schaffen solltest, würde Ravenna dich töten lassen. Falls das Volk dich noch immer will, weiß es nichts davon. Alle sind vollkommen ihrer Macht unterworfen. Fasziniert oder schikaniert oder nur mit Propaganda abgefüttert. Vielleicht auch alles zusammen.«
»Du lügst.« Jedes meiner Worte troff vor Eiseskälte.
»Warum sollte ich lügen? Wir sind hier in London, und ich bin ein abgehalfterter Musiker, der in einer drittklassigen Bludbar Melodien für Kupferlinge klimpert. Ich bin ein tanzender Affe. Wenn ich dir weh tun wollte, dann hätte ich dich den Coppers übergeben, als du noch schliefst, und die Belohnung eingestrichen. « Er band seine Krawatte und ließ das Grinsen mit den Grübchen aufblitzen. »Es liegt bei eintausend Silberlingen, weißt du. Man hält dich zwar für tot- aber irgendjemand ist sich nicht ganz sicher.«
Äußerlich blähten sich meine Nasenflügel vor Zorn. Doch innerlich zerbrach ich, und die Risse zogen sich durch mich hin durch wie durch einen Gletscher, der im Begriff war, in die bodenlose Tiefe zu stürzen. Wenn er die Wahrheit sagte, dann waren meine Eltern tot, und der wunderschöne Palast, in dem ich ein geborgenes Leben geführt hatte, war über tausend Meilen entfernt und nicht mehr sicher für mich. Das Meer, die Berge, die Wildnis der Tundra, all das stand zwischen mir und meinem Zuhause. Nur die Erkenntnis, dass jemand meinen Tod wollte, stellte das noch in den Schatten. Und es fehlte nicht viel, dass dieser Jemand seinen Willen bekommen hätte.
»Ich muss zurück.« Ich musste herausfinden, was Ravenna die Kontrolle über mein Land und das letzte meiner Geschwister verlieh. Wenn die Lage so schlimm war, wie er sie beschrieben hatte, dann war es meine Pflicht ihnen gegenüber und mein Geburtsrecht.
»Zuerst mal würde ich mir Gedanken darüber machen, aufzustehen. Sieht so aus, als hätte man dich ausgeblutet bis an die Schwelle des Todes. Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«
Er beugte sich vor, in einen goldenen Strahl der untergehenden Sonne, der durch ein kleines einem Bullauge ähnlichen Fenster fiel. Die blutunterlaufenen Augäpfel ließen das Blau seiner Pupillen noch stärker strahlen. Ich holte tief Luft und stellte fest, dass sein Geruch mich beschäftigte. Er war kein Bludmann, das war sicher. Aber was war er dann?
Und wo war ich die letzten vier Jahre lang gewesen?
»Das Letzte, woran ich mich deutlich erinnere, ist, dass ich am Brunnen im Hinterhof saß. Er war von einer dünnen Eisschicht bedeckt, so wie auf Blut brulee. Ich habe Muster in das Eis gezeichnet, den Kois darunter beim Schwimmen zugesehen und versucht, mit meinen Fingern durch die Kruste zu greifen.«
»Und dann?«
»Und dann war ich im Dunkeln und plante deinen Tod.«
»Wie nett.«
»Ich bin nicht nett«, grollte ich. Mit ein wenig Mühe zog ich mich in eine sitzende Position hoch, am anderen Ende des Bettes, wo die Dachsparren nicht so niedrig waren. »Nett ist für Kindermädchen und Stallburschen. Ich bin ein Mitglied des Königshauses. Ich bin Pragmatikerin. Und ich bin ein Morgenmuffel. Warum riechst du so anders?«
»Das geht dich verdammt noch mal nichts an.«
»Deine Einstellung gefällt mir nicht.«
»Ich bin nicht dein Knecht.«
Ich fauchte. »Wenn du mein Diener wärst -«
»Schau mal, das ist ja alles ganz süß, du mit deinen Drohungen die ganze Zeit. Aber du bist schwach, du wirst gesucht, und du bist in meiner Gewalt. Gewöhn dich dran. Ich muss in fünf Minuten auf der Bühne sein, oder ich habe kein Geld, um mehr Blut für dich zu kaufen. Kann ich mich darauf verlassen, dass du hierbleibst?«
Endlich etwas, womit ich arbeiten konnte.
Ich schenkte ihm mein betörendstes Lächeln, das meine kleinen spitzen Zähne sehen ließ, und klimperte mit den Wimpern. »Natürlich. Ich werde einfach ein Nickerchen machen, während ich warte, und danach können wir ein Transportmittel organisieren. «
Er lachte leise, und meine Wangen wurden heiß.
»Weißt du, vor zwei Jahren wäre ich darauf noch hereingefallen. Aber seitdem ist eine ganze Menge passiert, und ich erkenne eine Lügnerin, wenn ich sie sehe.«
Meine Hände ballten sich zu Fäusten in die kratzige Decke auf seinem Bett. Langsam gewöhnte ich mich an das Gefühl meiner überlangen Nägel, die sich in Stoff gruben. Inzwischen machte es mir nicht mehr so viel aus. Aber als ich meine Füße auf den Boden setzte und mich in Angriffsposition duckte, drückte er mir seelenruhig eine behandschuhte Hand gegen die Schulter und schubste mich hart zurück auf das Bett.
Ich prustete empört auf und kämpfte gegen die Schwerkraft an, aber ich war noch immer sehr schwach. Mich aufzusetzen, hatte mich schon alle Kraft gekostet, die ich hatte. Das Gefühl der Schande, das da anfing, wo die Schwäche aufhörte, brachte mich fast um.
»Ich traue dir nicht, Prinzessin. Ich weiß nicht, was du denkst und was du tun wirst, aber ich traue dir nicht.« Er kramte in einer schiefen Schublade herum und hielt dann eine Hand voll Seidenkrawatten in die Höhe.
»Das würdest du nicht wagen.«
»Du kannst mich nicht daran hindern.« Er grinste.
Ich wehrte mich, aber es half nichts. Er summte leise vor sich hin, während er meine Hände an den Handgelenken zusammenband. Als er nach meinen Knöcheln griff, die nur von Strümpfen bedeckt waren, ließ mich tief anerzogene Schicklichkeit schwach nach ihm treten.
»Niemand«, japste ich, »hat jemals meine Knöchel berührt.«
»Niemand hat jemals gedroht, mich zu töten, und das zehnmal auf zehn verschiedene Arten an einem einzigen Tag.«
Geschickt schnappte er sich meine Knöchel und wand ein rotweinfarbenes Seidenband darum. »Aber ich brauche diesen Job. Mittlerweile habe ich mich durch jedes Theater und jede Bar der Stadt gesoffen, und nach dem hier wäre meine nächste Station Deep Darkside und Beggar's Row. So tief will ich nicht sinken.«
Er redete mit sich selbst. Ich war gefesselt an Händen und Füßen, zusammengeschnürt wie eine Fliege in einem Spinnennetz - oder, ehrlicher gesagt, wie eine Spinne, vorübergehend gefesselt von einer sehr törichten Fliege. Mein Verstand schaltete von Flucht auf List um, und ich hielt ganz still und ließ ihn weitermachen. Je mehr ich über meine Beute lernen konnte, die zu meinem Geiselnehmer geworden war, umso besser standen meine Chancen, ihn zu schlagen.
»Was ist passiert?«, fragte ich sanft.
»Ich bin gestorben. Du weißt nicht, wie das ist. Oder, vielleicht weißt du es ja doch, jetzt. Aber die Musik ist alles, was ich noch habe. Ich war berühmt. Gefeiert, in zwei verschiedenen Welten. Und beide Male habe ich alles verloren. Ein Mädchen, von dem ich dachte, dass ich es liebe, hat mir erzählt, dass der Verlust meine Erlösung sein würde. Aber weißt du was? Ich fühle mich nicht erlöst.«
»Niemand ist je völlig selig«, fügte ich besänftigend hinzu.
Er holte eine Münze aus seiner Tasche und begann, sie über seine Fingerknöchel hin-und herwandern zu lassen. Seine Augen waren geschlossen, und ein Ausdruck von Schmerz huschte über sein Gesicht. Immer schneller drehte sich die Münze in den letzten Strahlen der abendlichen Sonne, glitzerte im Licht und zeigte mir das in Kupfer gegossene Gesicht eines freundlichen älteren Herrn mit Schnurrbart. Ich bewegte keinen Muskel und beobachtete einfach nur meine Beute, wie ich es gelernt hatte. Er schluckte schwer, und ich konzentrierte mich auf seine Lippen, auf die sinnliche Krümmung der Unterlippe, und wartete darauf, was er als Nächstes enthüllen würde.
»Oi, Maestro«, rief da jemand mit blecherner Stimme von irgendwo hinter der geschlossenen Tür. »Das ist deine letzte Chance, Kumpel. Wenn du nicht in der Gosse enden willst, dann kommst du besser runter und fängst an zu spielen.«
»Noch mehr Drohungen«, murmelte er leise. »Heute muss Montag sein.«
Er überprüfte noch einmal die Knoten, und als er merkte, dass ich es geschafft hatte, sie nur ein winziges bisschen zu lockern, zog er sie so fest zusammen, dass ich auf ganz undamenhafte Art aufkreischte.
»Wie kannst du es wagen -«
»Du weißt ganz genau, wie ich es wagen kann.« Er ließ den Blick über mich schweifen und atmete tief ein, als wolle er die Luft riechen. »Denke einfach nur daran, wenn du deine Kraft wiedergewonnen hast, dass ich dir viel Schlimmeres hätte antun können.« Er leckte sich über die Lippen, während sein Blick auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides ruhte, so düster, dass es mich siedend heiß durchfuhr. Ich zeigte ihm die Zähne.
Er tätschelte mir übers Haar, und ich schüttelte ihn mit einem Fauchen ab. Die Bewegung erschöpfte mich über alle Maßen, aber ich hasste den Gedanken, dass seine schmutzigen Bauernhände mich anfassten. In meinem Kopf tötete ich ihn zum tausendsten Mal, lachend, während sein Blut meine Zähne färbte.
»Ich werde nicht an das denken, was du nicht getan hast«, flüsterte ich, während ich mich auf der Seite zusammenrollte und bereitmachte, zu schlafen, in Ohnmacht zu fallen, oder was auch immer mich da ständig überkam. »Ich werde nur an das hier denken.«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Delilah S. Dawson
- 2014, 1. Aufl., 460 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Gleißner, Silvia
- Übersetzer: Silvia Gleißner
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404168763
- ISBN-13: 9783404168767
- Erscheinungsdatum: 13.03.2014
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