Bullshit Nights
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Nick Flynn ist dieser Sohn: Ohne Selbstmitleid und in verstörender Aufrichtigkeit erzählt er die Geschichte mit seinem Vater, eine Geschichte, die voller Hoffnung und voller Zukunft ist. Wer etwas erfahren will über die Zwischentöne des Lebens, die den Raum füllen, der auf der einen Seite vom Gelingen, auf der anderen vom Scheitern begrenzt ist, wird dieses Buch lesen.
Nick Flynn ist dieser Sohn: Ohne Selbstmitleid und in verstörender Aufrichtigkeit erzählt er die Geschichte mit seinem Vater, eine Geschichte, die voller Hoffnung und voller Zukunft ist. Wer etwas erfahren will über die Zwischentöne des Lebens, die den Raum füllen, der auf der einen Seite vom Gelingen, auf der anderen vom Scheitern begrenzt ist, wird dieses Buch lesen.
LESEPROBE
Geldautomat
(1989)Bitte, flüstert die Frauenstimme, womit kann ich dienen? Als sie ertönt,leuchtet der Bildschirm auf. Ein Raum, den man betritt, Zahlen, die man drückt,der Raum beheizt, fast steril. Das Telefon neben dem Bildschirm klingelt nie,als wäre es ein Spielzeug, eine Attrappe. Mein Vater nimmt in der Nacht denHörer ab, spricht rein, fragt: Wo ist das Geld?, fragt: Warum kann ich nichtschlafen?, fragt: Wer hat mich draußen gelassen? Wenn er abhebt, klingeltauf einem Schreibtisch das Telefon, der Schreibtisch steht irgendwo in Texas,irgendwer müsste dort sitzen, aber es ist niemand da, nicht nachts. Währendmein Vater zu sprechen versucht, spricht ein Anrufbeantworter, der hört nichtzu, sondern spricht bloß, der Bildschirm spiegelt verschwommen das Gesichtmeines Vaters.
Jede Kartemit Magnetstreifen verschafft dir Zutritt, die Leute von der Straße wissen dasoder lernen es schnell. In diesem Raum wird es nie dunkel, die Lichter summenin ohrenbetäubendem Weiß. Mein Vater steht am Pult und fülltEinzahlungsscheine aus -fünfhundert aufs Sparbuch, fünfundzwanzigtausend aufs Konto, alles inbar -, steckt die Scheine in einen Umschlag und wirft ihn in den Müll. ImVorbeifahren wirkt er wie eine Schaufensterdekoration, ein Diorama - Mann,Ende zwanzigstes Jahrhundert, der so tut, als würde er Geld einzahlen -,arrangiert vom Obdachlosenmuseum. Die meisten Leute, die reingehen, um Geldabzuheben, sehen meinen
Vater nicht mal an, beachten ihn nicht weiter. Gutgekleidet, sauber, sein langes, grau meliertes Haar aus der Stirn gestrichen -jemand wie sie, der nach Mitternacht Geld abhebt, unterwegs zu einem Nachtclub,einem späten Abendessen, einer Frau, die im Auto wartet, in dem Auto da, amBordstein, wo der Motor läuft und die Heizungsluft auf ihre Beine weht, währendsie Radio hört - A Little Honey in My Pot oder Baby It's ColdOutside. Skid
Nach Mitternacht, wenn das letzte Dunkin' Donuts geschlossenhat, finden auch andere den Weg zum Geldautomaten. Sie rütteln an derMagnettür, um meinen Vater auf sich aufmerksam zu machen, aber wenn er sienicht kennt, stellt er sich schlafend oder tut so, als wäre er in seine Geldgeschäftevertieft. Nach Mitternacht ist es schwer, eine offene Eingangshalle zu finden,ein Plätzchen im Trockenen, für manchen ist es schon schwer, irgendwo eineMagnetkarte abzustauben. Mein Vater kennt Knopfaugen-Bill, auch er ein harmloserSpinner, und öffnet die Tür. Knopfauge redet aus dem Mundwinkel und blickt überdie Schulter meines Vaters, um zu sehen, was da kommt. Er hat Angst, dass erbeobach
tet wird, und in diesem Raum, wer kann da schon sagen, dassdem nicht so ist? Hinter dieser Wand dreht jemand einen verdammten Film übersein Leben.
Alice, die neben dem Müll kauert, schwört, dass nachts Leutereinkommen, die ihr ihre Initialen in die Haut ritzen. Vorwurfsvoll zeigt sieBill ihre Handfläche und fragt: Wer ist «j. L.»? Die Schrammen auf ihrerHand sehen aus wie die Buchstaben «j» und «L», das stimmt. Bill sieht meinenVater verschwörerisch an. Alice starrt zornig zu Bill rüber. Und welcherBill bist du heute Nacht? Der in der grauen Hose oder der, der sich gesternNacht reingeschlichen und mich gebrandmarkt hat? Als mein Vater seineEinzahlung erledigt hat, rollt er sich auf dem Fliesenboden zusammen und drehtdas Gesicht zur Fußleiste, unters Fenster geduckt, damit ihn die angeblichenPolizisten mit den falschen Sheriffsternen auf ihren kleinen Jeeps nicht sehenkönnen. Außerhalb ihres Sichtfelds zu bleiben kann zehn Minuten zusätzlichenSchlaf bedeuten.
In Boston schließen die Bars um eins. Die nächste Welle vonNachtschwärmern, geselliger als ihre Vorgänger, schläfrig und auf dem Heimweg,drängt herein. Manchmal machen diese Leute Stress, manchmal schnippen sie direin paar Dollar hin. Sind sie angetrunken, fangen sie manchmal ein Gesprächmit dir an, setzen sich neben dich auf den Boden, bieten dir was zu trinken an,fragen nach deinem Namen. Du siehst ganz normal aus, wie bist du denn hiergelandet?
Wo?, fragt mein Vater.
© marebuchverlag
Übersetzung: Thomas Gunkel
- Autor: Nick Flynn
- 2005, 3. Aufl., 337 Seiten, Maße: 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gunkel, Thomas
- Verlag: mareverlag
- ISBN-10: 393638441X
- ISBN-13: 9783936384413
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