Die Gesichtslosen / Carina Kyreleis Bd.1
Thriller. Originalausgabe
Ob Brandopfer oder grausame Mordfälle. Wenn ein Toter grässlich entstellt ist, muss die junge Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis ran. Als sie nach München zurückkehrt, steht Carina gleich vor einer neuen Aufgabe: Ein Mörder, der seinen Opfern die Gesichtshaut abzieht.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Gesichtslosen / Carina Kyreleis Bd.1 “
Ob Brandopfer oder grausame Mordfälle. Wenn ein Toter grässlich entstellt ist, muss die junge Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis ran. Als sie nach München zurückkehrt, steht Carina gleich vor einer neuen Aufgabe: Ein Mörder, der seinen Opfern die Gesichtshaut abzieht.
Klappentext zu „Die Gesichtslosen / Carina Kyreleis Bd.1 “
Mit den Augen der TotenWenn Tote nicht mehr zu erkennen sind, wenn ihr Mörder sie entstellt hat oder nur noch Skelettteile übrig sind, wird Carina Kyreleis gerufen. Die junge Rechtsmedizinerin versteht es wie kaum eine Zweite, den Toten Glanz einzuhauchen und ihnen ihre Gesichter zurückzugeben. Nachdem sie zwei Jahre als Knochen- und Mumienexpertin in Mexiko-Stadt gearbeitet hat, kehrt sie nach Deutschland zurück, um am Münchner Institut für Rechtsmedizin einen Neuanfang zu wagen. Kaum angekommen, steht sie vor ihrem ersten Fall. Ein Killer, der seinen Opfern die Gesichtshaut abzieht, um für immer ihr Antlitz zu bewahren.
Lese-Probe zu „Die Gesichtslosen / Carina Kyreleis Bd.1 “
Die Gesichtslosen von Stephanie FeyProlog
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Die Knochen hatten lange genug gekocht. Sektionsnummer 225. An den Schnüren, die aus dem Topf hingen, suchte sie nach dem richtigen Schildchen, hob den Stoffsack wie einen großen Teebeutel heraus, öffnete ihn und tupfte behutsam letzte Wassertropfen von den Zähnchen. Ein Kinderschädel lag in ihrer Hand und verlangte sein Gesicht zurück.
Sehen.
In die knöchernen Höhlen setzte sie Glasaugen, klebte auf vierundzwanzig Stellen des Schädels genau abgemessene Gummistifte, die die Dicke des fehlenden Fleisches vorgaben. Langsam baute sie aus Knetmasse die Wangen, die Stirn und das Kinn auf. Dann formte sie winzige Augenlider und legte sie um die Glasaugen.
Riechen.
Aus einer Knetkugel drehte sie die Nasenspitze, stach zwei Löcher hinein, platzierte sie auf dem Nasenstachel, verstrich mit den Fingerspitzen die Nasenflügel zu den Wangen, bildete so die schmale Doppelfalte zwischen der Nase und den Lippen.
Hören.
Zwei winzige Ohrmuscheln entstanden in ihren Händen. Knorpel wie fein geschwungenes Garn liefen in den Ohrläppchen zusammen.
Sprechen.
über den Milchzähnchen gestaltete sie den Mund, teilte die Lippen und glättete sie mit dem Modellierholz.
Fühlen.
Die Dreijährige hatte zu husten versucht, doch der Schnuller stülpte sich über ihren Kehldeckel und verschloss ihn. Sie war erstickt.
Tasten.
Carina Kyreleis zeigte den Eltern des vermissten Kindes die Rekonstruktion. Der Vater streckte die Hand aus, wollte das Gesicht berühren. Doch wie eine Schnecke ihre Fühler zog er die Finger zurück, als sie an das kalte, ölige Plastilin stießen.
Schweigen.
Ohne Ton hauchte er den Namen seiner Tochter. Vor einem Jahr hatte sich die Kleine im Kamin des Abbruchhauses versteckt. Dann zerschnitt der Vater die Stille mit seinem Geheul.
1.
Er schloss die Augen, und ihr Gesicht verschwand. Er wusste, dass er sie mit jedem Tag mehr und mehr verlor. Je stärker er sich ihr Bild in Erinnerung rief, desto mehr verblasste es. Nur die Wärme ihrer Haut spürte er noch, das leichte Kribbeln in den Fingerspitzen, als er ihren langen, glatten Hals gestreichelt hatte, die feinen Härchen auf und ab. Die wohligen Geräusche, die sie von sich gegeben hatte, mehr Tier als Mensch, bis er ihr beide Hände um den Hals legte und zudrückte, bis das Leben aus ihr herausgepresst war.
Er musste sie sich zurückholen.
Nach Einbruch der Dunkelheit durfte hier niemand mehr sein. Niemand außer ihm. Bei Tag musste er sich den Garten mit allen Münchnern teilen, auch wenn es zum Jahresende ruhiger wurde. Doch kurz vor Morgengrauen gehörte er ihm ganz allein. Das warmgelbe Licht der Laternen, seiner Laternen, erhellte das Pflaster. Die hohen Bäume, seine Bäume, reckten ihre kahlen Äste in den Nachthimmel, wiesen ihm wie mit Vogelkrallen den Weg.
Unter dem großen Spinnennetz grub er hastig, sank schon bald tiefer und tiefer. Nun war er froh, nicht das Labyrinth gewählt zu haben. Auch wenn es ein würdigerer Platz für sie gewesen wäre. Doch unter den Mulchwegen zwischen den verschlungenen Hecken waren die Wurzeln so dicht, dass er die Buchen nie mehr unbeschädigt auf ihr Grab hätte zurückpflanzen können.
Je näher er zu ihr gelangte, desto heftiger pochte sein Herz. Es schlägt für uns beide, dachte er, hauchte in die klammen Finger und schaltete die Stirnlampe an. Er faltete die karierte Decke auseinander. Ihr Gesicht war platt und verzerrt. Vorsichtig schlitzte er mit dem Taschenmesser die knisternde Folie auf. Die Süße ihres Mädchenduftes strömte ihm entgegen. Er sog sie tief in sich ein und hielt dann inne. Etwas Fauliges hatte sich daruntergemischt. Und wer hatte ihr die Wimpern weiß getuscht? Er betrachtete sie genauer. Auch in den Nasenlöchern und Mundwinkeln hing etwas Weißes. Sandkörner? Hatte er sie nicht fest genug umwickelt? Er zupfte die Klümpchen weg, rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete den Strahl der Lampe darauf. Winzige längliche Eier waren es, die sich nur schwer zerdrücken ließen. Es musste doch längst zu kalt sein für diese Viecher; keinesfalls durften die schlüpfen und ihm die Liebste stehlen. Er musste sich beeilen. In Gedanken war es leichter gewesen, doch immerhin blutete nichts mehr. Es waren viele Einschnitte nötig, die Haut löste sich nur in Stücken. Was sollte er mit diesen Fetzen bloß anfangen, sie etwa wie ein Puzzle zusammenfügen? Und wohin damit? Er hatte keine Tüte dabei, und die Folie war aufgebraucht. Besser wäre ein Buch gewesen, worin er ihr Gesicht hätte trocknen können wie eine Blüte.
Ein Schrei hallte durch die Stille. Sofort schaltete er die Stirnlampe aus. Für Hundebesitzer und Jogger war es noch zu früh. Im Sommer übernachteten Penner und Pärchen im Park, trotz des Verbots. Aber jetzt, Ende November?
Er lauschte, verharrte im Loch, hörte nur den ewigen Verkehrslärm, ein fernes Hupen. Stimmen hinter einem der Fenster aus den Häusern ringsum. Vermutlich ein Familienstreit irgendwo. Hoch über ihm blinkte ein Flugzeug. Die Stadt schlief nie.
Vor Aufregung war seine Hand unter die Folie gekrochen, hatte nach den eisigen Fingerspitzen seiner Liebsten getastet und hielt sie nun. Sie fühlten sich glitschig an, zwei Fingernägel hatten sich bereits gelockert. Hastig begann er mit der Säge seines Taschenmessers zu schneiden, zerrte und drehte am Gelenk. Endlich, mit einem Knirschen, löste sich ihre Hand.
Er atmete auf. Wenigstens das war ihm gelungen. Beim nächsten Mal würde er das Gesicht konservieren, noch bevor seine Liebste starb.
2.
Zweiundzwanzig Monate später
Vergeblich suchte Carina in der Ankunftshalle am Flughafen die Reihe der Wartenden ab. Ihre Schwester hatte versprochen sie abzuholen. Die Maschine aus Mexiko-Stadt mit Zwischenstopp in Frankfurt war mit einer halben Stunde Verspätung gelandet. Also musste Wanda längst da sein.
Sie stellte ihre Reisetasche ab und massierte sich den Nacken. Erst einmal durchatmen. In ihren Ohren rauschte es, wie immer, wenn sie sich längere Zeit fast unbeweglich in einem beengten Raum befunden hatte. Obwohl sie nur einen Meter siebzig groß war, war sie gebeugt durch die Schleusen vom Flugzeug bis zur Gepäckhalle gegangen. Nur ruhig, hatte sie sich zugeredet, wenn sie während des Fluges aus dem Schlaf aufschreckte, das hier ist kein Auto. Zum Glück schien sie nichts geträumt zu haben, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie wischte den letzten Rest mexikanischen Straßenstaubs mit dem Saum ihres Shirts von der Brille und setzte sie wieder auf. Bienvenida la urraca. La urraca, so wurde sie von den lateinamerikanischen Kollegen genannt: die Elster, der Totenvogel. Von der mexikanischen Regenzeit in den goldenen Münchner Herbst.
Ihr Handy vibrierte. Wahrscheinlich steckte Wanda im Stau fest. Doch die SMS war nicht von ihrer Schwester. Bin auch wieder in Deutschl., wir müssen uns sehen, vermisse dich, Lars, stand auf dem Display. Bevor sie sich aufregen konnte, stürmte Wanda herbei und umarmte sie völlig außer Atem. Carina freute sich, sie zu sehen. Noch immer war ihre Schwester in viel zu enge, pastellfarbene Klamotten gepresst. Ihre Hochsteckfrisur mit FliegenpilzHaarspangen, die noch aus ihrer Kindheit stammten, hatte sich aufgelöst. Blonde Locken umkringelten ihr verschwitztes Gesicht.
Plötzlich sprang im Café nebenan eine Frau kreischend von einem Stuhl auf. In ihrer einen Stiefelette steckte der Arm eines kleinen Jungen. Wanda hastete hinüber und zerrte Sandro wie einen widerspenstigen Hund unter dem Tisch hervor. Kein Wort der Entschuldigung gegenüber der fremden Frau, die fassungslos über eine große Laufmasche in ihrer Strumpfhose strich.
»Deine Tante ist da«, rief Wanda stattdessen übertrieben laut. »Endlich kann sie mit dir mal was unternehmen.«
Carina bückte sich, um ihren Neffen zu begrüßen. Sandro gab ihr die linke Hand, mit der rechten umklammerte er den wiedergefundenen kleinen Hüpfball.
»Ich habe ihm extra noch die Haare geschnitten.« Wanda zupfte an dem sehr kurzen Pony ihres Sohnes herum.
Ach ja, dachte Carina, die abgebrochene Friseurlehre. Seitdem schnitt Wanda nicht nur ihrem Sohn, sondern auch ihrem Vater die Haare. Den berühmten Kriminalhauptkommissar Matthias Kyreleis erkannte man auf den Zeitungsfotos vor allem an seinem Topfschnitt.
»Hast du mir was von den Indianern mitgebracht?«, fragte Sandro.
Das hatte sie. Sorgenpüppchen, kleine mit Stoff umwickelte Stöckchen in einem Beutel. »Wenn du mal nicht einschlafen kannst, weil du was Blödes erlebt hast, kannst du deinen Kummer den Püppchen erzählen und steckst sie unters Kopfkissen. Dann übernehmen sie über Nacht das Grübeln, und du träumst was Schönes.«
Sandro maulte, er hätte lieber ein Kriegsbeil gehabt.
Im Kofferraum von Wandas altem Kombi fand Carina kaum Platz für ihre Reisetasche, so zugemüllt war das Auto. Es kostete sie einige Überwindung, überhaupt einzusteigen. Sie hatte gehofft, sie würden mit der S-Bahn in die Innenstadt fahren. Seit ihrem Unfall in Mexiko-Stadt mied sie Autos. Mit einem Regenschirm und einer Maxipackung Klopapier zwischen den Beinen zwängte sie sich auf den Beifahrersitz.
»Heute Nachmittag ist Flohmarkt in Riem, hast du Lust mitzukommen?«, fragte Wanda. »Unser Hausflohmarkt letzten Samstag hat überhaupt nichts gebracht, seitdem fahre ich auch noch die Sachen von meiner Nachbarin spazieren.«
»Ich weiß nicht.« Carina zögerte. »Ich will später erst mal in meine Wohnung. Es hat doch alles geklappt mit dem Unterschreiben?«
»Schon.« Wanda zögerte. »Der Vermieter hatte ja deine Daten, und ich habe mich als deine Schwester ausgewiesen. Aber ...«
Carina ahnte, was jetzt kam. Sie hatte Wanda inständig gebeten, ihrem Vater nichts von der neuen Wohnung zu sagen. Als Leiter der Münchner Mordkommission fand er es ohnehin schnell genug heraus. »Papa weiß es, oder?«
»Natürlich nicht, was denkst du von mir«, rief Wanda entrüstet. »Ich hab dichtgehalten, war doch so ausgemacht. Er glaubt, du wohnst bei mir. Deshalb strengt er sich auch so an, über seine Polizeispezis oder andere Schleichwege die richtige Bleibe für dich zu finden.« Sie lachte auf. »Macht Spaß, den Starermittler auszutricksen. Dass seine Lieblingstochter in meiner Unordnung hausen muss, ist ein ziemlicher Ansporn für ihn.«
»Hör auf mit deiner Eifersucht.« Ihr ewiges Thema; bei nur einem Jahr Altersunterschied waren sie meist wie Zwillinge behandelt worden, aber manchmal hatte Carina die Vernünftigere zu sein und Wanda das Nesthäkchen, je nachdem wie es ihre Eltern gerade brauchten. Doch mit dreißig und einunddreißig musste endlich mal Schluss sein. »Hat der Vormieter nicht richtig gestrichen und geputzt, oder was?«
Wanda fädelte sich auf dem Mittleren Ring nach links ein, was der dunkle Van neben ihnen mit einem lautstarken Hupkonzert kommentierte. Ihr Fahrstil erinnerte Carina an Mexiko-Stadt. Keiner dort schien zu wissen, wozu die Ampeln aufgestellt waren.
»Jetzt sag schon«, drängte sie.
»Also dein Vormieter ... Das war wirklich ein komischer Kauz.«
Als Carina vor zwei Monaten mit ihm telefoniert hatte, wirkte alles ganz unkompliziert. Sie hatte die Dachgeschosswohnung übers Internet gefunden. War das etwa ein Schwindel gewesen? Wanda hatte doch die Besichtigung übernommen und war ähnlich begeistert gewesen wie sie. Sogar einen Zwiebelturm-Erker sollte es geben.
»Dirigent ist der, glaube ich«, erklärte Wanda. »Zieht jetzt nach Spanien, weil dirigieren kann er überall, und ... «
»Was ist denn mit der Wohnung? Der Schlüssel - ist der hier?«, unterbrach Carina und öffnete das Handschuhfach. Ein Fehler. Gebrauchte Taschentücher, Haargummis und Schminkutensilien fielen heraus.
»Na ja, also ... ich finde ihn nicht mehr, ich habe schon mit Sandro zusammen gesucht.«
»Was?«
»Beruhig dich. Als ich die Sachen für den Flohmarkt gepackt habe, da muss er ... «
Carina drehte sich um und spähte in den Kofferraum. »Du willst doch nicht behaupten, dass in einer der vielen Kisten da hinten mein Wohnungsschlüssel steckt. Wanda!«
...
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Knochen hatten lange genug gekocht. Sektionsnummer 225. An den Schnüren, die aus dem Topf hingen, suchte sie nach dem richtigen Schildchen, hob den Stoffsack wie einen großen Teebeutel heraus, öffnete ihn und tupfte behutsam letzte Wassertropfen von den Zähnchen. Ein Kinderschädel lag in ihrer Hand und verlangte sein Gesicht zurück.
Sehen.
In die knöchernen Höhlen setzte sie Glasaugen, klebte auf vierundzwanzig Stellen des Schädels genau abgemessene Gummistifte, die die Dicke des fehlenden Fleisches vorgaben. Langsam baute sie aus Knetmasse die Wangen, die Stirn und das Kinn auf. Dann formte sie winzige Augenlider und legte sie um die Glasaugen.
Riechen.
Aus einer Knetkugel drehte sie die Nasenspitze, stach zwei Löcher hinein, platzierte sie auf dem Nasenstachel, verstrich mit den Fingerspitzen die Nasenflügel zu den Wangen, bildete so die schmale Doppelfalte zwischen der Nase und den Lippen.
Hören.
Zwei winzige Ohrmuscheln entstanden in ihren Händen. Knorpel wie fein geschwungenes Garn liefen in den Ohrläppchen zusammen.
Sprechen.
über den Milchzähnchen gestaltete sie den Mund, teilte die Lippen und glättete sie mit dem Modellierholz.
Fühlen.
Die Dreijährige hatte zu husten versucht, doch der Schnuller stülpte sich über ihren Kehldeckel und verschloss ihn. Sie war erstickt.
Tasten.
Carina Kyreleis zeigte den Eltern des vermissten Kindes die Rekonstruktion. Der Vater streckte die Hand aus, wollte das Gesicht berühren. Doch wie eine Schnecke ihre Fühler zog er die Finger zurück, als sie an das kalte, ölige Plastilin stießen.
Schweigen.
Ohne Ton hauchte er den Namen seiner Tochter. Vor einem Jahr hatte sich die Kleine im Kamin des Abbruchhauses versteckt. Dann zerschnitt der Vater die Stille mit seinem Geheul.
1.
Er schloss die Augen, und ihr Gesicht verschwand. Er wusste, dass er sie mit jedem Tag mehr und mehr verlor. Je stärker er sich ihr Bild in Erinnerung rief, desto mehr verblasste es. Nur die Wärme ihrer Haut spürte er noch, das leichte Kribbeln in den Fingerspitzen, als er ihren langen, glatten Hals gestreichelt hatte, die feinen Härchen auf und ab. Die wohligen Geräusche, die sie von sich gegeben hatte, mehr Tier als Mensch, bis er ihr beide Hände um den Hals legte und zudrückte, bis das Leben aus ihr herausgepresst war.
Er musste sie sich zurückholen.
Nach Einbruch der Dunkelheit durfte hier niemand mehr sein. Niemand außer ihm. Bei Tag musste er sich den Garten mit allen Münchnern teilen, auch wenn es zum Jahresende ruhiger wurde. Doch kurz vor Morgengrauen gehörte er ihm ganz allein. Das warmgelbe Licht der Laternen, seiner Laternen, erhellte das Pflaster. Die hohen Bäume, seine Bäume, reckten ihre kahlen Äste in den Nachthimmel, wiesen ihm wie mit Vogelkrallen den Weg.
Unter dem großen Spinnennetz grub er hastig, sank schon bald tiefer und tiefer. Nun war er froh, nicht das Labyrinth gewählt zu haben. Auch wenn es ein würdigerer Platz für sie gewesen wäre. Doch unter den Mulchwegen zwischen den verschlungenen Hecken waren die Wurzeln so dicht, dass er die Buchen nie mehr unbeschädigt auf ihr Grab hätte zurückpflanzen können.
Je näher er zu ihr gelangte, desto heftiger pochte sein Herz. Es schlägt für uns beide, dachte er, hauchte in die klammen Finger und schaltete die Stirnlampe an. Er faltete die karierte Decke auseinander. Ihr Gesicht war platt und verzerrt. Vorsichtig schlitzte er mit dem Taschenmesser die knisternde Folie auf. Die Süße ihres Mädchenduftes strömte ihm entgegen. Er sog sie tief in sich ein und hielt dann inne. Etwas Fauliges hatte sich daruntergemischt. Und wer hatte ihr die Wimpern weiß getuscht? Er betrachtete sie genauer. Auch in den Nasenlöchern und Mundwinkeln hing etwas Weißes. Sandkörner? Hatte er sie nicht fest genug umwickelt? Er zupfte die Klümpchen weg, rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete den Strahl der Lampe darauf. Winzige längliche Eier waren es, die sich nur schwer zerdrücken ließen. Es musste doch längst zu kalt sein für diese Viecher; keinesfalls durften die schlüpfen und ihm die Liebste stehlen. Er musste sich beeilen. In Gedanken war es leichter gewesen, doch immerhin blutete nichts mehr. Es waren viele Einschnitte nötig, die Haut löste sich nur in Stücken. Was sollte er mit diesen Fetzen bloß anfangen, sie etwa wie ein Puzzle zusammenfügen? Und wohin damit? Er hatte keine Tüte dabei, und die Folie war aufgebraucht. Besser wäre ein Buch gewesen, worin er ihr Gesicht hätte trocknen können wie eine Blüte.
Ein Schrei hallte durch die Stille. Sofort schaltete er die Stirnlampe aus. Für Hundebesitzer und Jogger war es noch zu früh. Im Sommer übernachteten Penner und Pärchen im Park, trotz des Verbots. Aber jetzt, Ende November?
Er lauschte, verharrte im Loch, hörte nur den ewigen Verkehrslärm, ein fernes Hupen. Stimmen hinter einem der Fenster aus den Häusern ringsum. Vermutlich ein Familienstreit irgendwo. Hoch über ihm blinkte ein Flugzeug. Die Stadt schlief nie.
Vor Aufregung war seine Hand unter die Folie gekrochen, hatte nach den eisigen Fingerspitzen seiner Liebsten getastet und hielt sie nun. Sie fühlten sich glitschig an, zwei Fingernägel hatten sich bereits gelockert. Hastig begann er mit der Säge seines Taschenmessers zu schneiden, zerrte und drehte am Gelenk. Endlich, mit einem Knirschen, löste sich ihre Hand.
Er atmete auf. Wenigstens das war ihm gelungen. Beim nächsten Mal würde er das Gesicht konservieren, noch bevor seine Liebste starb.
2.
Zweiundzwanzig Monate später
Vergeblich suchte Carina in der Ankunftshalle am Flughafen die Reihe der Wartenden ab. Ihre Schwester hatte versprochen sie abzuholen. Die Maschine aus Mexiko-Stadt mit Zwischenstopp in Frankfurt war mit einer halben Stunde Verspätung gelandet. Also musste Wanda längst da sein.
Sie stellte ihre Reisetasche ab und massierte sich den Nacken. Erst einmal durchatmen. In ihren Ohren rauschte es, wie immer, wenn sie sich längere Zeit fast unbeweglich in einem beengten Raum befunden hatte. Obwohl sie nur einen Meter siebzig groß war, war sie gebeugt durch die Schleusen vom Flugzeug bis zur Gepäckhalle gegangen. Nur ruhig, hatte sie sich zugeredet, wenn sie während des Fluges aus dem Schlaf aufschreckte, das hier ist kein Auto. Zum Glück schien sie nichts geträumt zu haben, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie wischte den letzten Rest mexikanischen Straßenstaubs mit dem Saum ihres Shirts von der Brille und setzte sie wieder auf. Bienvenida la urraca. La urraca, so wurde sie von den lateinamerikanischen Kollegen genannt: die Elster, der Totenvogel. Von der mexikanischen Regenzeit in den goldenen Münchner Herbst.
Ihr Handy vibrierte. Wahrscheinlich steckte Wanda im Stau fest. Doch die SMS war nicht von ihrer Schwester. Bin auch wieder in Deutschl., wir müssen uns sehen, vermisse dich, Lars, stand auf dem Display. Bevor sie sich aufregen konnte, stürmte Wanda herbei und umarmte sie völlig außer Atem. Carina freute sich, sie zu sehen. Noch immer war ihre Schwester in viel zu enge, pastellfarbene Klamotten gepresst. Ihre Hochsteckfrisur mit FliegenpilzHaarspangen, die noch aus ihrer Kindheit stammten, hatte sich aufgelöst. Blonde Locken umkringelten ihr verschwitztes Gesicht.
Plötzlich sprang im Café nebenan eine Frau kreischend von einem Stuhl auf. In ihrer einen Stiefelette steckte der Arm eines kleinen Jungen. Wanda hastete hinüber und zerrte Sandro wie einen widerspenstigen Hund unter dem Tisch hervor. Kein Wort der Entschuldigung gegenüber der fremden Frau, die fassungslos über eine große Laufmasche in ihrer Strumpfhose strich.
»Deine Tante ist da«, rief Wanda stattdessen übertrieben laut. »Endlich kann sie mit dir mal was unternehmen.«
Carina bückte sich, um ihren Neffen zu begrüßen. Sandro gab ihr die linke Hand, mit der rechten umklammerte er den wiedergefundenen kleinen Hüpfball.
»Ich habe ihm extra noch die Haare geschnitten.« Wanda zupfte an dem sehr kurzen Pony ihres Sohnes herum.
Ach ja, dachte Carina, die abgebrochene Friseurlehre. Seitdem schnitt Wanda nicht nur ihrem Sohn, sondern auch ihrem Vater die Haare. Den berühmten Kriminalhauptkommissar Matthias Kyreleis erkannte man auf den Zeitungsfotos vor allem an seinem Topfschnitt.
»Hast du mir was von den Indianern mitgebracht?«, fragte Sandro.
Das hatte sie. Sorgenpüppchen, kleine mit Stoff umwickelte Stöckchen in einem Beutel. »Wenn du mal nicht einschlafen kannst, weil du was Blödes erlebt hast, kannst du deinen Kummer den Püppchen erzählen und steckst sie unters Kopfkissen. Dann übernehmen sie über Nacht das Grübeln, und du träumst was Schönes.«
Sandro maulte, er hätte lieber ein Kriegsbeil gehabt.
Im Kofferraum von Wandas altem Kombi fand Carina kaum Platz für ihre Reisetasche, so zugemüllt war das Auto. Es kostete sie einige Überwindung, überhaupt einzusteigen. Sie hatte gehofft, sie würden mit der S-Bahn in die Innenstadt fahren. Seit ihrem Unfall in Mexiko-Stadt mied sie Autos. Mit einem Regenschirm und einer Maxipackung Klopapier zwischen den Beinen zwängte sie sich auf den Beifahrersitz.
»Heute Nachmittag ist Flohmarkt in Riem, hast du Lust mitzukommen?«, fragte Wanda. »Unser Hausflohmarkt letzten Samstag hat überhaupt nichts gebracht, seitdem fahre ich auch noch die Sachen von meiner Nachbarin spazieren.«
»Ich weiß nicht.« Carina zögerte. »Ich will später erst mal in meine Wohnung. Es hat doch alles geklappt mit dem Unterschreiben?«
»Schon.« Wanda zögerte. »Der Vermieter hatte ja deine Daten, und ich habe mich als deine Schwester ausgewiesen. Aber ...«
Carina ahnte, was jetzt kam. Sie hatte Wanda inständig gebeten, ihrem Vater nichts von der neuen Wohnung zu sagen. Als Leiter der Münchner Mordkommission fand er es ohnehin schnell genug heraus. »Papa weiß es, oder?«
»Natürlich nicht, was denkst du von mir«, rief Wanda entrüstet. »Ich hab dichtgehalten, war doch so ausgemacht. Er glaubt, du wohnst bei mir. Deshalb strengt er sich auch so an, über seine Polizeispezis oder andere Schleichwege die richtige Bleibe für dich zu finden.« Sie lachte auf. »Macht Spaß, den Starermittler auszutricksen. Dass seine Lieblingstochter in meiner Unordnung hausen muss, ist ein ziemlicher Ansporn für ihn.«
»Hör auf mit deiner Eifersucht.« Ihr ewiges Thema; bei nur einem Jahr Altersunterschied waren sie meist wie Zwillinge behandelt worden, aber manchmal hatte Carina die Vernünftigere zu sein und Wanda das Nesthäkchen, je nachdem wie es ihre Eltern gerade brauchten. Doch mit dreißig und einunddreißig musste endlich mal Schluss sein. »Hat der Vormieter nicht richtig gestrichen und geputzt, oder was?«
Wanda fädelte sich auf dem Mittleren Ring nach links ein, was der dunkle Van neben ihnen mit einem lautstarken Hupkonzert kommentierte. Ihr Fahrstil erinnerte Carina an Mexiko-Stadt. Keiner dort schien zu wissen, wozu die Ampeln aufgestellt waren.
»Jetzt sag schon«, drängte sie.
»Also dein Vormieter ... Das war wirklich ein komischer Kauz.«
Als Carina vor zwei Monaten mit ihm telefoniert hatte, wirkte alles ganz unkompliziert. Sie hatte die Dachgeschosswohnung übers Internet gefunden. War das etwa ein Schwindel gewesen? Wanda hatte doch die Besichtigung übernommen und war ähnlich begeistert gewesen wie sie. Sogar einen Zwiebelturm-Erker sollte es geben.
»Dirigent ist der, glaube ich«, erklärte Wanda. »Zieht jetzt nach Spanien, weil dirigieren kann er überall, und ... «
»Was ist denn mit der Wohnung? Der Schlüssel - ist der hier?«, unterbrach Carina und öffnete das Handschuhfach. Ein Fehler. Gebrauchte Taschentücher, Haargummis und Schminkutensilien fielen heraus.
»Na ja, also ... ich finde ihn nicht mehr, ich habe schon mit Sandro zusammen gesucht.«
»Was?«
»Beruhig dich. Als ich die Sachen für den Flohmarkt gepackt habe, da muss er ... «
Carina drehte sich um und spähte in den Kofferraum. »Du willst doch nicht behaupten, dass in einer der vielen Kisten da hinten mein Wohnungsschlüssel steckt. Wanda!«
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Autoren-Porträt von Stephanie Fey
Stephanie Fey wurde 1967 in Starnberg geboren. Nach einer Ausbildung zur Grafik-Designerin arbeitet sie als Illustratorin, Autorin und Malerin. Sie wohnt mit ihrer Familie am Starnberger See.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephanie Fey
- 2011, 366 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435869
- ISBN-13: 9783453435865
- Erscheinungsdatum: 09.11.2011
Rezension zu „Die Gesichtslosen / Carina Kyreleis Bd.1 “
"Ein fesselndes Krimi-Debüt, bei dem man auf eine baldige Forsetzung hofft."
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