Casa Rossa
Roman. Aus d. Engl. v. Barbara Schaden
70 Jahre lang war die Casa Rossa im Herzen Apuliens im Besitz von Alinas Familie. Wie ein Schrein verwahrt das Haus zahllose Geheimnisse. Jetzt ist es verkauft und Alina verbringt ihre Tage damit, aufzuräumen. Sie findet und liest alte Briefe. Warum...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Casa Rossa “
70 Jahre lang war die Casa Rossa im Herzen Apuliens im Besitz von Alinas Familie. Wie ein Schrein verwahrt das Haus zahllose Geheimnisse. Jetzt ist es verkauft und Alina verbringt ihre Tage damit, aufzuräumen. Sie findet und liest alte Briefe. Warum verließ ihre Urgroßmutter Reneé, eine betörend schöne Nordafrikanerin, Mann und Tochter? Und wie geriet ihre Schwester Isabella unter Mordverdacht? Untrennbar scheint die Casa Rossa die Schicksale vier außergewöhnlicher Frauen zu vereinen.
Klappentext zu „Casa Rossa “
Die Casa Rossa ist verkauft, die Möbelpacker sind bestellt. Alina verbringt ihre Tage damit, sich durch Kisten und Schubladen zu wühlen, Briefe zu lesen und vergilbte Fotos zu betrachten auf der Suche nach den unausgesprochenen Vermächtnissen ihrer Familie. Alles begann damit, dass sich Alinas Großvater in ein halb verfallenes Bauernhaus verliebte. Er wollte es besitzen, um im Licht Apuliens zu malen meistens Porträts von Renée, einer Nordafrikanerin von überwältigender Schönheit. Doch Renée verlässt ihn und ihre kleine Tochter Alba unter skandalösen Umständen. Lorenzo wird fast wahnsinnig vor Schmerz, und Alba wächst in der friedvollen Einsamkeit des Mezzogiorno in einer seltsamen Zwischenwelt auf, überschattet von dem Geheimnis um ihre Mutter. Mit Anfang zwanzig zieht sie Hals über Kopf nach Rom, heiratet den Drehbuchautor Oliviero und bekommt zwei Töchter, Isabella und Alina. Doch ihr Dasein als Mutter langweilt sie bald, und sie sucht Zerstreuung.
Lese-Probe zu „Casa Rossa “
Vorsichtig jetzt. Pass auf, was du tust.Du starrst dieses Wohnzimmer an und denkst, du wirst diese Aufgabe nicht bewältigen. Seine Ordnung aufzubrechen erscheint dir wie ein Frevel, wie die Verwüstung eines Tempels.
Wie lang hat dieser dunkelrote Sessel gegenüber dem zerschlissenen Sofa gestanden, gleich neben dem bemalten Lampenschirm? Wie viele Jahre hat der verblichene Teppich auf diesen Steinfliesen gelegen? Seit wann hängt Renées Bild an der Wand? Wie lange hat die Opalglasvase auf dem Kaminsims gestanden?
Mein Großvater hat das Haus Ende der zwanziger Jahre erstanden. Damals war es ein heruntergekommenes Bauernhaus, keiner wollte es haben. Meine Mutter ist hier aufgewachsen. Meine Schwester und ich ebenfalls.
Seit über siebzig Jahren war dieses Haus, die Casa Rossa, unser Familiensitz.
Ich kenne seinen Geruch, wie ich den Geruch von gemähtem Gras kenne. Sein Grundriss ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, ich kann mich mit verbundenen Augen darin bewegen.
Warum dachte ich, das alles werde für immer so bleiben, und ich könnte jederzeit zurückkommen und den Sessel, das Sofa, den Teppich und das Bild an Ort und Stelle wieder finden? Auf diese Weise konnte ich die verschiedenen Momente, die meinen Werdegang mitbestimmt haben, in Gedanken immer wieder neu inszenieren. Wie den Tag, als Renée meinem Großvater auf dem Rohrstuhl Modell saß und ihm, während er sie wieder einmal malte, von Muriel erzählte. Den Sommertag, an dem Oliviero zum Essen kam und unter der Pergola im Innenhof saß und sich in meine Mutter verliebte. Die Nächte, in denen meine Schwester schlaflos im Bett lag, eingehüllt in ihren Hass, und sich vor jedem Geräusch fürchtete. Oder den Abend, an dem ich Daniel Moore zum ersten Mal hierher mitnahm. Ich öffnete die Tür und zeigte ihm dieses Zimmer. Diesen Teppich, dieses verblichene Sofa, diesen vergilbten Lampenschirm. Das Zimmer roch nach Holzfeuer. "Das ist es", sagte ich.
Ich hoffte, es würde für immer so bleiben,
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damit ich mir, wenn ich zurückkam und alles genau so vorfand, wie ich es verlassen hatte, einreden konnte, ich hätte meine Geschichte an einem sicheren Ort verwahrt. In einem Schrein, wo nichts verloren ging. So wie Gebete in einer Kirche nie verloren gehen. Man kann jederzeit wiederkommen und eine neue Kerze anzünden.
Während ich durch das Erdgeschoss der Casa Rossa gehe, von der geräumigen Küche hinüber ins Wohnzimmer, dann durch die breite Holztür ins Atelier meines Großvaters, sehe ich mich um, zähle meine Schritte, markiere mein Territorium, als wäre es das allerletzte Mal. Und was soll ich sagen - es stimmt. Es ist das allerletzte Mal.
Ich führe Selbstgespräche - wie immer, wenn ich Angst habe. Vorsichtig jetzt. Pass auf, was du tust. Alles, was du tust, wird endgültig sein und überraschend schnell.
Die Möbelpacker werden kommen und auf ein Zeichen von mir warten. Dann werden sie den Tisch hochheben, dann das Sofa, werden den Teppich aufrollen und das Bild von der Wand nehmen. Sie werden die Möbel in Decken wickeln und mit Seilen verschnüren. Sie werden den vertrauten Formen die Augen verbinden und die Luft abdrücken und sie im Lastwagen übereinander stapeln. Unter einer Decke wird eine Armlehne hervorlugen, und der Fleck auf dem verblichenen Stoff wird Mitleid erregend aussehen. Die Kratzer am Tischbein, der kaum sichtbare Ring, den eine Tasse auf der Fläche hinterlassen hat: All diese Markierungen, die du so gut gekannt hast, werden gespenstisch wirken. Wie Narben. Früher hat man sie kaum beachtet. Aber jetzt wird es unmöglich sein, sie anzusehen, ohne sich zu schämen. Du wirst zugeben müssen, dass die Sachen sich in das verwandelt haben, was sie immer gewesen sind, was du aber nicht zur Kenntnis nehmen wolltest: in einen Haufen traurigen alten Plunder.
Sobald jedes einzelne Möbelstück und jede einzelne Kiste auf den Lastwagen geladen sind, wird dieses Haus, das an einem einzigen Vormittag leer geräumt wurde, wieder stumm sein. Eine weiße Leinwand, auf der jemand anderes seine Geschichte festhalten wird.
So schnell zerfallen unsere Erinnerungen.
* * *
Natürlich habe ich den Anruf bei der Möbelspedition vor mir hergeschoben. Wer täte das nicht? Es ist ja, als verabredete man einen Termin für seine eigene Hinrichtung und machte dann noch dem Henker Beine.
Stattdessen bin ich benommen durch die Zimmer gewandert, habe Oberflächen berührt, Dinge betrachtet. Jedes Mal wenn ich eine Schublade öffne oder in die Tiefe eines Schranks spähe, überrascht mich irgendein neues Fundstück, und ich muss mich erst einmal setzen, starr vor Verblüffung. Ich drehe und wende meinen Fund in den Händen, als erwartete ich, dass er mich anspricht. Aber meine Entdeckungen sind immer nur verstreute Bruchstücke, die für sich genommen nichts bedeuten. Ein staubiges altes Band (von einem Hut? Eine Geschenkschleife?), ein Zeitungsausschnitt aus den fünfziger Jahren, die Seite mit den Todesanzeigen (von wessen Tod erfahren wir hier?), ein einzelner hellblauer Seidenschuh, maßgefertigt in Paris (von Renée?), ein winziges Schwarzweißfoto, auf dem sich eine Gruppe junger Leute in Schwimmanzügen im Stil der dreißiger Jahre auf einem Strand zusammendrängt (welcher ist mein Großvater?), eine einzelne Seite aus einem Brief (ohne Datum, ohne Unterschrift, auf Französisch geschrieben).
Es ist, als versuchte man die Geschichte einer ägyptischen Mumie anhand ihres Rings, einiger Glasperlen und Tonscherben, einer verblassten Inschrift nachzuzeichnen. Ja, sie war eine Kaufmannsgattin, nein, eine Pharaonenschwester oder vielleicht eine Hohepriesterin. Die Geschichte verlangt eine fortlaufende Handlung mit einem ordentlichen Anfang und einem ordentlichen Ende.
Dies ist jedoch keine Geschichte über das, was wir wissen, auch nicht über das, was wir besitzen.
Es ist eine Geschichte über das, was unterwegs verloren geht.
* * *
Zweimal am Tag ruft meine Mutter Alba aus ihrem Haus in Rom an. Sie will wissen, wie es mit dem Umzug vorangeht.
"Oh", sage ich schwungvoll, "ich bin noch nicht ganz so weit. Ich muss noch die ganzen Schubladen oben in den Schlafzimmern durchgehen. Die vielen Papiere, die Fotos, du hast keine Ahnung, wie..."
"Stopf einfach alles in die Kisten", fällt sie mir hastig ins Wort. "Du wirst nie mehr lebendig da rauskommen, wenn du dir alles ansiehst. Die Leute wollen nächste Woche einziehen!"
"Schon gut. Sie haben das Haus jetzt für ihr ganzes Leben, da können sie ruhig noch ein, zwei Tage warten. Übrigens habe ich dein Hochzeitskleid gefunden."
"Ach du meine Güte!"
"Es sieht überhaupt nicht aus wie ein Hochzeitskleid. Ich habe es nur nach den Fotos erkannt."
"Die hast du auch gefunden?", fragt sie.
"Ja, es lag alles zusammen irgendwie wahllos in einer Kiste auf dem Schrank in deinem Zimmer. Darin waren Hüte, gedruckte Hochzeitseinladungen, ein Briefumschlag voller Bilder. Papa sieht aus wie ein bebrillter Wunderknabe, ein Mathegenie oder so was. Warum hast du nicht in einem langen weißen Kleid geheiratet?"
"Ach, ich weiß nicht. Es war eine ländliche Hochzeit... ich wollte es schlicht halten." Sie seufzt, verliert schon die Geduld mit mir. "Es war ein hübsches Kleid, erinnere ich mich."
"Knielang, mit weitem Rock. Mit gestickten Mohnblumen darauf. So im Fünfziger-Jahre-Stil. Ich habe es an."
"Tatsächlich?"
"Es passt mir kaum, aber wenn man dabei so was Nettes trägt, macht das die ganze Sache ein bisschen lustiger, finde ich."
"Alina", seufzt sie und verstummt. "Wird es dir nicht zu viel, wenn du das alles allein machen musst? Soll ich zu dir kommen? Ich könnte morgen in den Zug steigen, wenn du mich brauchst."
Die Frage stellt sie mir zweimal am Tag, und in ihrem Ton schwingt die Befürchtung mit, ich könnte Ja sagen.
"Nein, ich komm schon zurecht. Du wärst mir nur im Weg."
"Sicher? Ich komme unbedingt, wenn..."
"Nein, wirklich. Ich genieße es sogar. Eigentlich ist es... wie eine Art Therapie."
Am anderen Ende der Leitung bleibt es stumm, deshalb füge ich erklärungshalber hinzu: "Ungefähr so, wie man so lange nicht an den Tod eines geliebten Menschen glaubt, bis man mit eigenen Augen sieht, dass er begraben wird. Es gehört dazu."
"Jesus, bist du makaber!", sagt sie, aber ich spüre, wie erleichtert sie ist, dass sie in Rom bleiben darf.
Mir war immer klar, dass sie sich drücken würde, wenn es daran ginge, diese Schubladen zu öffnen. Es war nie ihre Sache, in der Vergangenheit herumzukramen.
* * *
Apulien ist der Absatz des italienischen Stiefels, der schmalste Streifen Land zwischen zwei Meeren. Genau deshalb, sagte mein Großvater Lorenzo, wegen der Spiegelung der Sonne im Wasser zu beiden Seiten, sei das Licht in Apulien so satt und warm. Aus diesem Grund hatte er sich entschieden, hier ein Haus zu kaufen. Das war das Licht, in dem er malen musste, sagte er.
Lange bevor daraus die Casa Rossa wurde, war es ein halb verfallenes Bauernhaus gewesen, eine masseria aus dem neunzehnten Jahrhundert, umgeben von einer Mauer und einem Olivenhain, zwischen den weiten Feldern auf dem Land südlich von Lecce.
Man sah es schon aus der Ferne: groß, viereckig, schlicht und majestätisch zugleich. Ein großer Dreiseithof, hufeisenförmig angelegt um einen Patio, mit einer Scheune, einem Getreidespeicher, einem Kuhstall, einer verwahrlosten Kapelle. Es hatte reichen Grundbesitzern gehört, deren letzte Generation nach Australien ausgewandert war. Lorenzo hatte es vom Erlös seiner Bilder, die er einem Pariser Bankier verkauft hatte, für ein paar tausend Lire erstanden. Und war stolz darauf: Es war der erste Besitz, den er nicht seiner Familie verdankte.
Geld hatten sie genug: Seine Vorfahren hatten jahrhundertelang mit Marmor gehandelt. Sie besaßen Steinbrüche in der Umgebung von Carrara, den Bergen zwischen Ligurien und der Toskana. Carrara-Marmor galt als der reinste der Welt, makellos. Ein Material, das eine eigene Magie zu verströmen schien, wie Gold oder Diamanten. Die Flächen, in die er sich beim Abbau aufspaltete, offenbarten manchmal eine weiche linienförmige Schichtung, die wie Wellen aussah und seine wahre Herkunft verriet. Ein in Kalk verwandeltes Meer, eingeschlossen in einen Gebirgsstock.
Alle begehrten den weißesten Marmor, als bärge diese Weiße eine göttliche Qualität, etwas Einzigartiges, das kein Granit aufweisen konnte. Der weiße Marmor wurde in die ganze Welt verschifft, überallhin, wo jemand etwas bauen wollte, um sich der Nachwelt zu erhalten. Um die Jahrhundertwende unterhielt Carrara eine Flotte von hundertfünfzig Schiffen, die von Forte dei Marmi aus mit diesen Riesen an Bord in See stachen.
Von fünf Brüdern war Lorenzo der jüngste, und als er im Jahr 1900 zur Welt kam, waren seine Eltern bereit, ihn vom Familienunternehmen freizustellen. In der Hoffnung, er werde zur Unsterblichkeit ihres Namens beitragen, benannten sie ihn nach dem Bildhauer Bernini. Zu der Zeit verkauften sie Marmor zu vorwiegend prosaischen Zwecken: Reiche Leute wollten ihre Badezimmer damit auskleiden, Marmorstaub wurde in Zahnpasten verwendet - der Stein verlor seinen Adel. Lorenzo wurde also an die Kunstakademie in Mailand und anschließend nach Paris geschickt, denn er sollte Künstler werden. Er war der Luxusartikel der Familie. Ihre einzige Ausschweifung.
In den zwanziger Jahren war Paris eine Stadt, die alle Maler liebte. Lorenzo stieß dazu und fand bald seine Nische. In den Bars und Restaurants übernahm er oft die Rechnungen, die seine Freunde nicht zahlen konnten. Er arbeitete viel, verkaufte ausreichend, hatte ein paar Ausstellungen, ein paar Galeristen und jede Menge Frauen. Wahrscheinlich war Paris die glücklichste Zeit seines Lebens - ich habe ein Idealbild von ihm in seinen zwanziger Jahren, die er in einer Art rauschhafter Weltvergessenheit erlebt.
Paris besaß in diesen Jahren eine wahnsinnige und zugleich herzlose Vitalität. Wahrscheinlich hatte es nicht viel Geduld mit mittelmäßigen Begabungen, und ich habe den Verdacht, dass Lorenzo bei seinen Malerfreunden eher als durchschnittlich galt. Handwerklich gut, aber nicht innovativ.
Ich frage mich, ob er sich dessen bewusst war und wie sehr es ihn störte.
Tatsächlich ging der Name meines Großvaters nicht in die Geschichte ein. Mit Müh und Not brachte er es zu einem Eintrag ins Konversationslexikon, und eine umfassende Ausstellung bekam er erst zu seinem hundertsten Geburtstag. Und selbst diese Retrospektive in der Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom war eine Notlösung, weil den Museumskuratoren nichts Besseres einfiel: "I Futuristi", "I Macchiaioli", "I Surrealisti" hatten sie bereits ausgestellt, und so erschien der Geburtstag meines Großvaters mit einem Mal als perfekter Anlass, um einen weiteren unbedeutenden italienischen Künstler wieder auferstehen zu lassen.
Renée, meine Großmutter, war eine überwältigende Schönheit.
Gewiss neigt jeder dazu, die physischen Eigenschaften oder Verschrobenheiten seiner Großeltern zu idealisieren: Damit ist für einen ausreichend interessanten Hintergrund gesorgt, und Augenzeugen, die das Gegenteil behaupten und einem die Geschichte verderben, gibt es so gut wie nie. Aber in diesem Fall übertreibe ich wirklich nicht.
Ohnehin kann es jeder auf den Fotos sehen.
Eines ist erhalten, auf dem sie an einem Geländer über dem Meer lehnt - es muss irgendwo in Südfrankreich sein; sie trägt eine weite weiße Seemannshose und ein eng gestreiftes, ärmelloses Oberteil mit einem eleganten tiefen Ausschnitt. Ihre Haut ist sonnengebräunt, und ihre Lippen sind perfekt dunkelrot geschminkt. In der Hand, die auf dem Geländer ruht, hält sie eine Zigarette zwischen zwei Fingern. Auf einem anderen Foto - es ist mein liebstes - sitzt sie in einem Cabrio, lässt sich vom Wind das kurz geschnittene lockige Haar zerzausen, und sie lacht, den Kopf leicht zurückgelegt. Sie trägt eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern, die ihr eine geheimnisvolle, interessante Aura verleiht. Der Fotograf muss Lorenzo gewesen sein - nur ein verliebter Mann hätte die Beharrlichkeit, sämtliche Posen und Stimmungslagen seines Objekts festzuhalten.
Die Côte d'Azur in den Zwanzigern war von einzigartiger Eleganz. Ein besonders heller Widerschein, das Gleißen des Mittelmeers, brachte die weißen Häuser entlang der Promenade des Anglais zum Leuchten. In diesem Sommerlicht konnte niemand schlecht aussehen.
Lorenzo sah die beiden Mädchen eines Abends in der Bar des Grandhotel Negresco sitzen.
Er beobachtete sie von seinem Tisch aus, während er auf einen chronisch verspäteten Freund wartete, und sah zu, wie sie flüsterten, rauchten und lachten und einander dabei so nahe waren, dass ihre Köpfe sich fast berührten. Diese beiden Mädchen erwarten niemanden, dachte er, sie warten nur ab, was passiert.
Die eine mit den kurzen Haaren hatte den langen Hals einer Gazelle und eine raue Stimme, die ihm gefiel. Er sah, wie elegant ihr Kleid um ihren schlanken Körper und ihre gebräunten Beine fiel: ein schwerer crêpe de chine in subtilem Kaschmirdesign.
Er tat, was arrogante Männer in solchen Fällen zu tun pflegen: Er schickte einen Kellner mit einer eisgekühlten Flasche Champagner zu ihnen und reagierte auf ihre Überraschung mit einer lässigen Geste, dieser kaum merklichen Anerkennung in Form eines leicht angehobenen Kinns, einer Bewegung des Fingers, die besagt: "Ja, das war ich, der sich soeben um den Preis einer Flasche Ihre Aufmerksamkeit erkauft hat." Doch er sah so gut aus und war so elegant gekleidet, dass er sich das leisten konnte.
Als sie endlich zu ihm an den Tisch kamen, war er recht zufrieden mit sich. Sie waren in der Tat bemerkenswert und sehr unterschiedlich.
"Lulu", sagte die Kleinere und spitzte ihre roten Lippen."Renée", sagte die Gazelle. Der Druck ihrer knochigen Hand war frisch und kräftig.
Während ich durch das Erdgeschoss der Casa Rossa gehe, von der geräumigen Küche hinüber ins Wohnzimmer, dann durch die breite Holztür ins Atelier meines Großvaters, sehe ich mich um, zähle meine Schritte, markiere mein Territorium, als wäre es das allerletzte Mal. Und was soll ich sagen - es stimmt. Es ist das allerletzte Mal.
Ich führe Selbstgespräche - wie immer, wenn ich Angst habe. Vorsichtig jetzt. Pass auf, was du tust. Alles, was du tust, wird endgültig sein und überraschend schnell.
Die Möbelpacker werden kommen und auf ein Zeichen von mir warten. Dann werden sie den Tisch hochheben, dann das Sofa, werden den Teppich aufrollen und das Bild von der Wand nehmen. Sie werden die Möbel in Decken wickeln und mit Seilen verschnüren. Sie werden den vertrauten Formen die Augen verbinden und die Luft abdrücken und sie im Lastwagen übereinander stapeln. Unter einer Decke wird eine Armlehne hervorlugen, und der Fleck auf dem verblichenen Stoff wird Mitleid erregend aussehen. Die Kratzer am Tischbein, der kaum sichtbare Ring, den eine Tasse auf der Fläche hinterlassen hat: All diese Markierungen, die du so gut gekannt hast, werden gespenstisch wirken. Wie Narben. Früher hat man sie kaum beachtet. Aber jetzt wird es unmöglich sein, sie anzusehen, ohne sich zu schämen. Du wirst zugeben müssen, dass die Sachen sich in das verwandelt haben, was sie immer gewesen sind, was du aber nicht zur Kenntnis nehmen wolltest: in einen Haufen traurigen alten Plunder.
Sobald jedes einzelne Möbelstück und jede einzelne Kiste auf den Lastwagen geladen sind, wird dieses Haus, das an einem einzigen Vormittag leer geräumt wurde, wieder stumm sein. Eine weiße Leinwand, auf der jemand anderes seine Geschichte festhalten wird.
So schnell zerfallen unsere Erinnerungen.
* * *
Natürlich habe ich den Anruf bei der Möbelspedition vor mir hergeschoben. Wer täte das nicht? Es ist ja, als verabredete man einen Termin für seine eigene Hinrichtung und machte dann noch dem Henker Beine.
Stattdessen bin ich benommen durch die Zimmer gewandert, habe Oberflächen berührt, Dinge betrachtet. Jedes Mal wenn ich eine Schublade öffne oder in die Tiefe eines Schranks spähe, überrascht mich irgendein neues Fundstück, und ich muss mich erst einmal setzen, starr vor Verblüffung. Ich drehe und wende meinen Fund in den Händen, als erwartete ich, dass er mich anspricht. Aber meine Entdeckungen sind immer nur verstreute Bruchstücke, die für sich genommen nichts bedeuten. Ein staubiges altes Band (von einem Hut? Eine Geschenkschleife?), ein Zeitungsausschnitt aus den fünfziger Jahren, die Seite mit den Todesanzeigen (von wessen Tod erfahren wir hier?), ein einzelner hellblauer Seidenschuh, maßgefertigt in Paris (von Renée?), ein winziges Schwarzweißfoto, auf dem sich eine Gruppe junger Leute in Schwimmanzügen im Stil der dreißiger Jahre auf einem Strand zusammendrängt (welcher ist mein Großvater?), eine einzelne Seite aus einem Brief (ohne Datum, ohne Unterschrift, auf Französisch geschrieben).
Es ist, als versuchte man die Geschichte einer ägyptischen Mumie anhand ihres Rings, einiger Glasperlen und Tonscherben, einer verblassten Inschrift nachzuzeichnen. Ja, sie war eine Kaufmannsgattin, nein, eine Pharaonenschwester oder vielleicht eine Hohepriesterin. Die Geschichte verlangt eine fortlaufende Handlung mit einem ordentlichen Anfang und einem ordentlichen Ende.
Dies ist jedoch keine Geschichte über das, was wir wissen, auch nicht über das, was wir besitzen.
Es ist eine Geschichte über das, was unterwegs verloren geht.
* * *
Zweimal am Tag ruft meine Mutter Alba aus ihrem Haus in Rom an. Sie will wissen, wie es mit dem Umzug vorangeht.
"Oh", sage ich schwungvoll, "ich bin noch nicht ganz so weit. Ich muss noch die ganzen Schubladen oben in den Schlafzimmern durchgehen. Die vielen Papiere, die Fotos, du hast keine Ahnung, wie..."
"Stopf einfach alles in die Kisten", fällt sie mir hastig ins Wort. "Du wirst nie mehr lebendig da rauskommen, wenn du dir alles ansiehst. Die Leute wollen nächste Woche einziehen!"
"Schon gut. Sie haben das Haus jetzt für ihr ganzes Leben, da können sie ruhig noch ein, zwei Tage warten. Übrigens habe ich dein Hochzeitskleid gefunden."
"Ach du meine Güte!"
"Es sieht überhaupt nicht aus wie ein Hochzeitskleid. Ich habe es nur nach den Fotos erkannt."
"Die hast du auch gefunden?", fragt sie.
"Ja, es lag alles zusammen irgendwie wahllos in einer Kiste auf dem Schrank in deinem Zimmer. Darin waren Hüte, gedruckte Hochzeitseinladungen, ein Briefumschlag voller Bilder. Papa sieht aus wie ein bebrillter Wunderknabe, ein Mathegenie oder so was. Warum hast du nicht in einem langen weißen Kleid geheiratet?"
"Ach, ich weiß nicht. Es war eine ländliche Hochzeit... ich wollte es schlicht halten." Sie seufzt, verliert schon die Geduld mit mir. "Es war ein hübsches Kleid, erinnere ich mich."
"Knielang, mit weitem Rock. Mit gestickten Mohnblumen darauf. So im Fünfziger-Jahre-Stil. Ich habe es an."
"Tatsächlich?"
"Es passt mir kaum, aber wenn man dabei so was Nettes trägt, macht das die ganze Sache ein bisschen lustiger, finde ich."
"Alina", seufzt sie und verstummt. "Wird es dir nicht zu viel, wenn du das alles allein machen musst? Soll ich zu dir kommen? Ich könnte morgen in den Zug steigen, wenn du mich brauchst."
Die Frage stellt sie mir zweimal am Tag, und in ihrem Ton schwingt die Befürchtung mit, ich könnte Ja sagen.
"Nein, ich komm schon zurecht. Du wärst mir nur im Weg."
"Sicher? Ich komme unbedingt, wenn..."
"Nein, wirklich. Ich genieße es sogar. Eigentlich ist es... wie eine Art Therapie."
Am anderen Ende der Leitung bleibt es stumm, deshalb füge ich erklärungshalber hinzu: "Ungefähr so, wie man so lange nicht an den Tod eines geliebten Menschen glaubt, bis man mit eigenen Augen sieht, dass er begraben wird. Es gehört dazu."
"Jesus, bist du makaber!", sagt sie, aber ich spüre, wie erleichtert sie ist, dass sie in Rom bleiben darf.
Mir war immer klar, dass sie sich drücken würde, wenn es daran ginge, diese Schubladen zu öffnen. Es war nie ihre Sache, in der Vergangenheit herumzukramen.
* * *
Apulien ist der Absatz des italienischen Stiefels, der schmalste Streifen Land zwischen zwei Meeren. Genau deshalb, sagte mein Großvater Lorenzo, wegen der Spiegelung der Sonne im Wasser zu beiden Seiten, sei das Licht in Apulien so satt und warm. Aus diesem Grund hatte er sich entschieden, hier ein Haus zu kaufen. Das war das Licht, in dem er malen musste, sagte er.
Lange bevor daraus die Casa Rossa wurde, war es ein halb verfallenes Bauernhaus gewesen, eine masseria aus dem neunzehnten Jahrhundert, umgeben von einer Mauer und einem Olivenhain, zwischen den weiten Feldern auf dem Land südlich von Lecce.
Man sah es schon aus der Ferne: groß, viereckig, schlicht und majestätisch zugleich. Ein großer Dreiseithof, hufeisenförmig angelegt um einen Patio, mit einer Scheune, einem Getreidespeicher, einem Kuhstall, einer verwahrlosten Kapelle. Es hatte reichen Grundbesitzern gehört, deren letzte Generation nach Australien ausgewandert war. Lorenzo hatte es vom Erlös seiner Bilder, die er einem Pariser Bankier verkauft hatte, für ein paar tausend Lire erstanden. Und war stolz darauf: Es war der erste Besitz, den er nicht seiner Familie verdankte.
Geld hatten sie genug: Seine Vorfahren hatten jahrhundertelang mit Marmor gehandelt. Sie besaßen Steinbrüche in der Umgebung von Carrara, den Bergen zwischen Ligurien und der Toskana. Carrara-Marmor galt als der reinste der Welt, makellos. Ein Material, das eine eigene Magie zu verströmen schien, wie Gold oder Diamanten. Die Flächen, in die er sich beim Abbau aufspaltete, offenbarten manchmal eine weiche linienförmige Schichtung, die wie Wellen aussah und seine wahre Herkunft verriet. Ein in Kalk verwandeltes Meer, eingeschlossen in einen Gebirgsstock.
Alle begehrten den weißesten Marmor, als bärge diese Weiße eine göttliche Qualität, etwas Einzigartiges, das kein Granit aufweisen konnte. Der weiße Marmor wurde in die ganze Welt verschifft, überallhin, wo jemand etwas bauen wollte, um sich der Nachwelt zu erhalten. Um die Jahrhundertwende unterhielt Carrara eine Flotte von hundertfünfzig Schiffen, die von Forte dei Marmi aus mit diesen Riesen an Bord in See stachen.
Von fünf Brüdern war Lorenzo der jüngste, und als er im Jahr 1900 zur Welt kam, waren seine Eltern bereit, ihn vom Familienunternehmen freizustellen. In der Hoffnung, er werde zur Unsterblichkeit ihres Namens beitragen, benannten sie ihn nach dem Bildhauer Bernini. Zu der Zeit verkauften sie Marmor zu vorwiegend prosaischen Zwecken: Reiche Leute wollten ihre Badezimmer damit auskleiden, Marmorstaub wurde in Zahnpasten verwendet - der Stein verlor seinen Adel. Lorenzo wurde also an die Kunstakademie in Mailand und anschließend nach Paris geschickt, denn er sollte Künstler werden. Er war der Luxusartikel der Familie. Ihre einzige Ausschweifung.
In den zwanziger Jahren war Paris eine Stadt, die alle Maler liebte. Lorenzo stieß dazu und fand bald seine Nische. In den Bars und Restaurants übernahm er oft die Rechnungen, die seine Freunde nicht zahlen konnten. Er arbeitete viel, verkaufte ausreichend, hatte ein paar Ausstellungen, ein paar Galeristen und jede Menge Frauen. Wahrscheinlich war Paris die glücklichste Zeit seines Lebens - ich habe ein Idealbild von ihm in seinen zwanziger Jahren, die er in einer Art rauschhafter Weltvergessenheit erlebt.
Paris besaß in diesen Jahren eine wahnsinnige und zugleich herzlose Vitalität. Wahrscheinlich hatte es nicht viel Geduld mit mittelmäßigen Begabungen, und ich habe den Verdacht, dass Lorenzo bei seinen Malerfreunden eher als durchschnittlich galt. Handwerklich gut, aber nicht innovativ.
Ich frage mich, ob er sich dessen bewusst war und wie sehr es ihn störte.
Tatsächlich ging der Name meines Großvaters nicht in die Geschichte ein. Mit Müh und Not brachte er es zu einem Eintrag ins Konversationslexikon, und eine umfassende Ausstellung bekam er erst zu seinem hundertsten Geburtstag. Und selbst diese Retrospektive in der Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea in Rom war eine Notlösung, weil den Museumskuratoren nichts Besseres einfiel: "I Futuristi", "I Macchiaioli", "I Surrealisti" hatten sie bereits ausgestellt, und so erschien der Geburtstag meines Großvaters mit einem Mal als perfekter Anlass, um einen weiteren unbedeutenden italienischen Künstler wieder auferstehen zu lassen.
Renée, meine Großmutter, war eine überwältigende Schönheit.
Gewiss neigt jeder dazu, die physischen Eigenschaften oder Verschrobenheiten seiner Großeltern zu idealisieren: Damit ist für einen ausreichend interessanten Hintergrund gesorgt, und Augenzeugen, die das Gegenteil behaupten und einem die Geschichte verderben, gibt es so gut wie nie. Aber in diesem Fall übertreibe ich wirklich nicht.
Ohnehin kann es jeder auf den Fotos sehen.
Eines ist erhalten, auf dem sie an einem Geländer über dem Meer lehnt - es muss irgendwo in Südfrankreich sein; sie trägt eine weite weiße Seemannshose und ein eng gestreiftes, ärmelloses Oberteil mit einem eleganten tiefen Ausschnitt. Ihre Haut ist sonnengebräunt, und ihre Lippen sind perfekt dunkelrot geschminkt. In der Hand, die auf dem Geländer ruht, hält sie eine Zigarette zwischen zwei Fingern. Auf einem anderen Foto - es ist mein liebstes - sitzt sie in einem Cabrio, lässt sich vom Wind das kurz geschnittene lockige Haar zerzausen, und sie lacht, den Kopf leicht zurückgelegt. Sie trägt eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern, die ihr eine geheimnisvolle, interessante Aura verleiht. Der Fotograf muss Lorenzo gewesen sein - nur ein verliebter Mann hätte die Beharrlichkeit, sämtliche Posen und Stimmungslagen seines Objekts festzuhalten.
Die Côte d'Azur in den Zwanzigern war von einzigartiger Eleganz. Ein besonders heller Widerschein, das Gleißen des Mittelmeers, brachte die weißen Häuser entlang der Promenade des Anglais zum Leuchten. In diesem Sommerlicht konnte niemand schlecht aussehen.
Lorenzo sah die beiden Mädchen eines Abends in der Bar des Grandhotel Negresco sitzen.
Er beobachtete sie von seinem Tisch aus, während er auf einen chronisch verspäteten Freund wartete, und sah zu, wie sie flüsterten, rauchten und lachten und einander dabei so nahe waren, dass ihre Köpfe sich fast berührten. Diese beiden Mädchen erwarten niemanden, dachte er, sie warten nur ab, was passiert.
Die eine mit den kurzen Haaren hatte den langen Hals einer Gazelle und eine raue Stimme, die ihm gefiel. Er sah, wie elegant ihr Kleid um ihren schlanken Körper und ihre gebräunten Beine fiel: ein schwerer crêpe de chine in subtilem Kaschmirdesign.
Er tat, was arrogante Männer in solchen Fällen zu tun pflegen: Er schickte einen Kellner mit einer eisgekühlten Flasche Champagner zu ihnen und reagierte auf ihre Überraschung mit einer lässigen Geste, dieser kaum merklichen Anerkennung in Form eines leicht angehobenen Kinns, einer Bewegung des Fingers, die besagt: "Ja, das war ich, der sich soeben um den Preis einer Flasche Ihre Aufmerksamkeit erkauft hat." Doch er sah so gut aus und war so elegant gekleidet, dass er sich das leisten konnte.
Als sie endlich zu ihm an den Tisch kamen, war er recht zufrieden mit sich. Sie waren in der Tat bemerkenswert und sehr unterschiedlich.
"Lulu", sagte die Kleinere und spitzte ihre roten Lippen."Renée", sagte die Gazelle. Der Druck ihrer knochigen Hand war frisch und kräftig.
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Autoren-Porträt von Francesca Marciano
Francesca Marciano wurde in Rom geboren. Sie arbeitete als Korrespondentin des italienischen Fernsehens in New York und schrieb Filmdrehbücher. Sie lebte viele Jahre in Kenia, seit 2001 in Arizona. Bereits mit ihrem ersten Roman "Himmel über Afrika" gelang ihr weltweit der Durchbruch. Bibliographische Angaben
- Autor: Francesca Marciano
- 2002, 1, 444 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896670980
- ISBN-13: 9783896670984
Kommentar zu "Casa Rossa"
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