Cash
Roman
Drei Männer werden nachts in der Lower East Side von zwei dunkelhäutigen Jugendlichen überfallen. Einer der drei wird erschossen, die Täter fliehen. Der Hauptzeuge, Eric, verstrickt sich bei der Polizei immer tiefer in Widersprüche....
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Produktinformationen zu „Cash “
Drei Männer werden nachts in der Lower East Side von zwei dunkelhäutigen Jugendlichen überfallen. Einer der drei wird erschossen, die Täter fliehen. Der Hauptzeuge, Eric, verstrickt sich bei der Polizei immer tiefer in Widersprüche. Detective Matty Clark kommen jedoch bald Zweifel an seiner Schuld. Richard Price lässt in seinem in den USA hymnisch gefeierten Bestseller die Fassade des strahlenden, neuen New Yorks bröckeln und zeigt die dahinter liegenden Risse, die unter dem Glamour verborgene Macht und Gewalt. "Nicht heute Nacht" ist ein Röntgenblick auf die Lower East Side, ein großer Roman von einem meisterhaften Gegenwartschronisten
Klappentext zu „Cash “
Drei Männer werden nachts in der Lower East Side von zwei dunkelhäutigen Jugendlichen überfallen. Einer der drei wird erschossen, die Täter fliehen. Der Hauptzeuge, Eric, verstrickt sich bei der Polizei immer tiefer in Widersprüche. Detective Matty Clark kommen jedoch bald Zweifel an seiner Schuld. Richard Price lässt in seinem in den USA hymnisch gefeierten Bestseller die Fassade des strahlenden, 'neuen' New Yorks bröckeln und zeigt die dahinter liegenden Risse, die unter dem Glamour verborgene Macht und Gewalt. "Cash" ist ein Röntgenblick auf die Lower East Side, ein großer Roman von einem meisterhaften Gegenwartschronisten.
Lese-Probe zu „Cash “
Cash von Richard Price Um zehn Uhr morgens verließ Eric Cash, fünfunddreißig, seine Wohnung in der Stanton Street, steckte sich eine Zigarette an und ging zur Arbeit. Als er vor acht Jahren her zog, war ihm die Lower East Side verwunschen vorgekommen, und hin und wieder konnte ihn, wie heute, ein schlichter Spaziergang noch immer bezaubern, Spuren überall der jiddischen Boomtown des neunzehnten Jahrhunderts: in der klaustrophobischen Enge der Straßenschluchten mit ihren hängenden Gärten
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aus uralten Feuertreppen, in den verwitterten Steinsatyrn, die lüstern zwischen den angenagten Fensterrahmen über der Erotic Boutique herabfeixten, in dem verblichenen hebräischen Schriftzug über der alten sozialistischen Kantine, die einem asiatischen Massagesalon gewichen war, der dem Szenetreff für Kids gewichen war; das und mehr in den vier Blocks auf Erics täglichem Weg zur Arbeit. Nach knapp einem Jahrzehnt in diesem Viertel, selbst an einem solch sonnendurchfluteten Oktobermorgen, erschien ihm dieses ganze ethnohistorische Mischmasch allerdings langsam etwas gestrig. Genau wie er. Eric war ein jüdischer Upstate New Yorker, fünf Generationen entfernt von hier, aber er wusste, wo er war, er verstand den Witz; das laboratorio dei gelati, die tibetischen Hutläden, Forsyth House 88 mit seinen originalgetreu restaurierten Kaltwasserwohnungen, die sich nicht, allzu sehr von den unrestaurierten Mietwohnungen um sie herum unterschieden, und in seiner Funktion als Geschäftsführer im Café Berkmann, dem Flaggschiff des Wir-sind-dabei, war er, an den seltenen Tagen, da das Biest ein Nickerchen einlegte, gern Teil der Pointe. Was ihn an dieser Gegend allerdings wirklich packte, war nicht ihre nostalgische Ironie, sondern ihr Jetzt, ihr unbedingtes Hier und Jetzt, das ihn im Innersten antrieb, ein Verlangen, es zu schaffen, das durch seine vollkommene Ahnungslosigkeit, wie dieses »Es« auszusehen hatte, um ein Vielfaches verschärft wurde. Er hatte keine besondere Begabung oder Neigung, schlimmer noch, eine gewisse Begabung, eine vage Neigung: Er spielte die Hauptrolle in einer vor zwei Jahren vom Forsyth House 88 gesponserten Kellertheater- Produktion des Dybbuk, seine dritte kleine Rolle seit dem College, und hatte in einem inzwischen eingegangenen Alphabet-City-Literaturblättchen eine Kurzgeschichte veröffentlicht, seine vierte in zehn Jahren, wobei nichts davon irgendwo hinführte. Und diese unerfüllte Sehnsucht nach eigenen Meriten machte es ihm praktisch unmöglich, einen Film anzusehen, ein Buch zu lesen oder auch nur ein neues Restaurant auszuprobieren – sämtlich Errungenschaften von Gleichaltrigen oder Jüngeren –, ohne mit dem Schädel voran gegen die nächste Wand laufen zu wollen. Zwei Blocks von seinem Arbeitsplatz entfernt stutzte er, als er zu einer träge kriechenden Prozession aufschloss, die sich weiter, als sein Auge reichte, nach Westen die Rivington Street hinaufschlängelte. Was immer das war, es hatte nichts mit ihm zu tun, in der Schlange standen überwiegend Latinos, höchstwahrscheinlich aus den unsanierten Wohnungen unterhalb der Delancey und dem halben Dutzend unsterblicher Sozialbausiedlungen, die dies hier, das goldgelbe Herz der Lower East Side, umfingen wie ein Jai-Alai-Wurfkorb. Alle, darunter viele Kinder, wirkten herausgeputzt wie für den Kirchgang oder irgendeinen religiösen Feiertag. Eric konnte sich auch nicht vorstellen, dass es irgendwas mit dem Berkmann zu tun hatte, und tatsächlich führte die Schlange geradewegs am Café vorbei, versperrte allerdings gründlich und gedankenlos den Eingang. Eric sah, wie zwei Partien jeweils behutsam versuchten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, schnell aufgaben und woanders essen gingen. Ein flüchtiger Blick durch eines der großen Seitenfenster zeigte ihm, dass das Café ungewöhnlich leer war und die vormittägliche Notbesetzung die Zahl der Gäste übertraf. Was ihm aber wirklich an die Nieren ging, war der Anblick des Besitzers Harry Steele, seines Chefs, hinten allein an einem Zweiertisch, dessen ewige Leichenbittermiene durch die Aufregung auf Apfelgröße geschrumpft war. Zumindest konnte Eric von hier aus endlich sehen, wohin die Schlange führte: dem Sana’a 24 / 7, einem von drei jemenitischen Brüdern geführten Minimarkt drei Blocks westlich vom Berkmann an der Ecke Rivington und Eldridge. Sein erster Gedanke war, dass jemand
am Vortag einen riesigen Powerball-Jackpot geknackt hatte oder vielleicht die staatliche Lotterie wieder mal in die Hundertmillionen geklettert war, aber nein, es war etwas anderes. Eric folgte der Schlange westwärts, vorbei an den frischen Ruinen der zuletzt eingestürzten Synagoge und am angrenzenden People’s Park bis zur Ecke direkt gegenüber dem Sana’a, wo die Schatten der zwei Jahre alten Banner Neueröffnung über sein Gesicht spielten. »Hallo, Eric …« Ein junger chinesischer Uniformierter, Fenton Ma, der den Verkehr auf der Kreuzung regelte, nickte ihm zu. »Verrückt, oder?«
»Was ist denn los?« »Maria ist da drin.« Ma wurde von der wogenden Menge, die er in Schach hielt, vorwärtsgespült. »Was für eine Maria?« »Die Jungfrau. Sie ist gestern Abend im Kondenswasser auf einer der Tiefkühlertüren erschienen. Spricht sich schnell rum so was hier, nicht?« Wieder wurde er vorgespült. Dann sah Eric, wie sich auf der dem Seitenfenster gegenüber liegenden Straßenseite eine zweite Menschenmenge bildete: eine Menge, die die Menge beobachtete, in diesem Fall überwiegend jung, weiß und amüsiert. »Sie ist hiiiier«, tönte es aus dieser Gruppe. Eric war schon immer gut darin gewesen, sich durch eine Meute zu schlängeln, gut trainiert allein schon durch den täglichen zigfachen Versuch, bei Berkmann zum Reservierungspult vorzudringen, und so schaffte er es in den engen Laden, ohne dass ihm jemand hinterherpöbelte. Drinnen spielte Nazir, einer der jemenitischen Brüder, ein großgewachsener, hagerer Mann mit einem Adamsapfel wie ein Tomahawk, Türsteher und Kassierer, eine Hand mit einem fetten Bündel Dollarnoten besetzt, die andere den einlaufenden Pilgern mit lockenden Fingern entgegengestreckt. »Grüßt Maria.« Seine Stimme forsch und melodisch. »Sie liebt euch sehr.« Die Jungfrau war eine vierzig Zentimeter große kürbisrunde Silhouette aus Reif an der Glastür des Bier- und Seltersregals, ihr geschmeidig sich verjüngendes Haupt über dem breiteren Unterbau leicht zur Seite geneigt, was Eric ein wenig an all die Marias in der Kunstgeschichte erinnerte, die ihr bedecktes Haupt neigen, um das Kind in ihren Armen zu betrachten, aber eigentlich war das ziemlich weit hergeholt. Die Leute, die um Eric herum knieten, hielten Fotohandys und Camcorders in die Höhe, legten im Laden erstandene Blumensträuße nieder, Kerzen, Ballons – auf einem stand du bist so einzigartig –, handschriftliche Botschaften und weitere Andenken, vor allem aber blickten sie ausdruckslos, zum Teil mit gefalteten Händen, bis Tariq, der zweite jemenitische Bruder, zu ihnen trat, »Maria sagt jetzt auf Wiedersehen«, und die Gemeinde mit diesen Worten zum Lieferanteneingang hinauskomplimentierte, um für die nächste Gruppe Platz zu schaffen. Als Eric wieder am Eingang des Ladens angekommen war, hatte ein älterer Polizist Fenton Ma abgelöst, auf seiner Marke stand Lo Presto. »Darf ich Sie was fragen?«, sagte Eric vorsichtig, da er den Mann nicht kannte, »haben Sie sie da drin gesehen?« »Wen, die Jungfrau?« Lo Presto sah ihn unbewegt an. »Kommt drauf an, was Sie ›sehen‹ nennen.« »Na ja. Sehen.«
»Also, ich sag Ihnen was.« Er blickte in die Ferne und tastete in seiner Brusttasche nach einer Zigarette. »Gegen acht heute Morgen, ja? Gehen paar Typen vom neunten Revier rein, ja, von wegen nur mal gucken? Kniet direkt vor dem Ding Servisio Tucker, der hat vor circa sechs Monaten auf der Avenue D seine Frau umgebracht. Also, die Kollegen haben seitdem die ganze Gegend umgekrempelt, ja? Und heute Morgen brauchen sie nur reinmarschieren, und da hockt er, auf den Knien. Er guckt sie an, feuchte Augen, streckt die Arme aus für die Handschellen und sagt: ›Okay, gut, bin jetzt bereit‹.« »Hm.« Eric war ganz gebannt und spürte einen Anflug von Optimismus. »Also …« Lo Presto steckte sich endlich eine an und blies genüsslich den Rauch aus. »Ob ich sie gesehen hab? Wer weiß. Aber wenn das, was ich Ihnen da grad erzählt hab, kein Wunder ist, weiß ich auch nicht.«
An einem strahlenden, ruhigen Morgen wie diesem, wenn das Berkmann leer war, befreit von der dichten, alkoholisierten Fieberhaftigkeit des Vorabends, war der Raum ein luftiger Palast, und nirgends sonst im Viertel war es schöner als hier in einem lackierten Korbstuhl mit dem entspannten Luxus eines Café au lait und der New York Times, während das Sonnenlicht von den Naturfliesen schwappte, umgeben von Weinregalen mit kryptisch schablonierten Nummern auf den Flaschen, Drahtglas und teilentsilberten Spiegeln, dies alles aus diversen Lagerhäusern in New Jersey aufgestöbert vom Besitzer Harry Steele: ein Restaurant im Gewand eines Theaters im Gewand der Nostalgie. Für Eric waren die ersten Augenblicke im Café jeden Tag wie die ersten Augenblicke in einem Major-League-Baseballstadion: mit diesem schwirrenden Rausch von Raum und geometrischer Perfektion, kam er doch aus seiner knochenschmalen Dreizimmerwohnung, in der eines der beiden Fenster auf den Lichtschacht ging, der eigentlich für Querlüftung gedacht war, seit dem Jahr des McKinley-Attentats jedoch als Müllschlucker diente.
Obwohl er an diesem Vormittag nichts weiter zu tun hatte, als die Zeitungen auf ihrem pseudoantiken Holzständer zu ordnen oder sich auf sein Pult zu lehnen, flattrig vom vielen Kaffee, den ihm die beiden
Probe-Barkeeper servierten, war ihm jedoch selbst diese flüchtige Freude verwehrt. In seiner kribbeligen Langeweile genehmigte er sich einen Moment, die neuen Kräfte hinterm Tresen zu begutachten: einen Schwarzen mit grünen Augen und Dreadlocks namens Cleveland und einen Weißen – Spike? Mike? –, der gerade auf der verzinkten Tresenplatte lehnte und mit einem pummeligen Freund plauderte, der die Prozession erfolgreich durchbrochen hatte. Dieser Freund hatte offensichtlich einen noch größeren Kater als Eric. Es hieß, nach vierzehn Jahren immer wieder unterbrochener Tätigkeit für Harry Steele sehe Eric inzwischen aus wie sein Chef; beide hatten diese mürrischen Tränensäcke wie Serge Gainsbourg oder Lou Reed, denselben gleichgültigen Körperbau, mit dem Unterschied, dass bei Harry Steele der Mangel an Attraktivität den Nimbus seines goldenen
Händchens nur noch nährte. Eine Kellnerin vom Grouchie, die sich alle sieben Zwerge in Marschrichtung aufwärts auf die Innenseite ihres Oberschenkels hatte tätowieren lassen, hatte Eric einmal gesagt, die Menschen seien entweder Hunde oder Katzen, und er sei auf jeden Fall ein Hund, zwanghaft darum bemüht, die Bedürfnisse eines jeden zu erahnen – ziemlich schäbig, so was jemandem zu sagen, mit dem man gerade geschlafen hat, aber es war wohl was dran, denn trotz seines permanenten »Ich bin aber mehr«-Mantras setzte ihn in diesem Moment der hilflose Frust seines Chefs akut unter Strom. Jedenfalls saß Steele jetzt nicht mehr allein an dem kleinen Tisch,
sondern mit seinem Händler Paulie Shaw, einem spitzgesichtigen Drecksack, der Eric mit seinem wachen Blick, seiner rasanten Zunge und allgemein angespannten Aura an zu viele Schattenspieler aus den Tagen der Schande erinnerte. Während er eine fünfte Tasse Kaffee ausschlug, sah er zu, wie Paulie einen Aluminium-Aktenkoffer öffnete und dessen samtenem Innenleben einige rechteckige Glas-Negative in je eigenem Futteral entnahm. »›Ludlow Street Sweatshop‹«, sagte Paulie und hielt das Negativ an den Kanten hoch. »›Blinder Bettler, 1888‹. ›Humpen Bier ‹. ›Banditenrast‹ – das hier, wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, so viel wert wie alle anderen zusammengenommen. Und
schließlich und endlich die ›Mott Street Barracks‹.« »Phantastisch«, murmelte Steele, und sein Blick wanderte zum wiederholten Mal zur Wunderprozession, zum leeren Café. »Jedes einzelne von Riis für seine Vorträge persönlich handgerahmt «, sagte Paulie. »Der Mann war seiner Zeit Lichtjahre voraus,
völlig multimedial, hat sechzig bis hundert davon auf einer riesigen Leinwand zu Musik ineinander überblenden lassen. Die feinen Matronen müssen sich die Eier abgejammert haben.«
»Okay.« Steele hörte nur halb zu.
»Okay?« Paulie beugte sich herab, um Steeles Blick zu erhaschen. »Zu dem, was wir für die Zahl, die wir besprochen haben?« »Jaja.« Steeles Knie wippten unterm Tisch. Der verkaterte Typ an der Bar lachte plötzlich über etwas, das sein Freund gesagt hat; das Gebell hallte von den gefliesten Wänden wider. »Mike, stimmt’s?« Eric deutete mit dem Kinn auf den Probe-Barkeeper. »Ike«, erwiderte der ganz locker, nach wie vor auf die Zinkfläche gestützt, als gehörte ihm die Bar. Er hatte einen kahlrasierten Schädel und eine Schar von Retro-Tattoos auf der Innenseite seiner Unterarme – Hula-Mädchen, Meerjungfrauen, Teufelsköpfe, Panther –, doch sein Lächeln war hold wie ein Himmelszelt. Dieser Junge, dachte Eric, die wandelnde Reklame für dieses Viertel. »Ike, sieh mal nach, ob sie was brauchen.« »Alles klar, Chef.«
»Presto«, sagte sein Freund. Als Ike hinter der Bar hervorkam und auf den kleinen Tisch zuging, hob Paulie gerade die Samteinlage seines Köfferchens an und brachte eine weitere Lage Mitbringsel zum Vorschein, aus der er ein großes terrakottabraunes Taschenbuch holte. »Sie mögen doch Orwell?
«, sagte er zu Steele. »Der Weg nach Wigan Pier, die Fahnen vom Victor Gollancz Left Wing Buchclub, 1937. Das hier existiert eigentlichgar nicht.«
»Nur die Riis-Tafeln.« Steeles Blick wanderte wieder zu der beinahe reglosen Schlange. »Das hält man doch im Arsch nicht aus«, bollerte er in den Saal. »Wie wär’s mit Henry Miller«, sagte Paulie schnell und wühlte in seinem Koffer. »Mögen Sie Henry Miller?« Ikes Schatten fiel auf den Tisch, Paulie wandte sich um und beäugte ihn über die Schulter. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Wollen Sie irgendwas?«, fragte Ike. »Wir sind durch«, antwortete Steele. »Henry Miller.« Paulie zog ein gebundenes Buch heraus. »Erstausgabe, Der klimatisierte Alptraum, makelloser Schutzumschlag, und Sie glauben es nicht, Nelson – A – Rockefeller gewidmet.« Auf der Rivington Street entbrannte ein Streit auf Spanisch, und jemand wurde mit dumpfem Knall gegen das Caféfenster geschubst.
»Dieses Viertel«, sagte Steele fröhlich und sah zum ersten Mal an diesem mausetoten Vormittag Eric an. »Bisschen zu viel durcheinander, nicht genug miteinander, stimmt’s?« Dann wandte er sich an seinen Händler: »Wie wär’s mit Splittern vom Wahren Kreuz?« »Vom was?« Und schon war Eric, der Hund mit dem Jungengesicht, zur Tür hinaus.
Einen Block vom Restaurant entfernt, sein Herz wummerte, weil er nicht wusste, wie er genau anstellen sollte, was er anzustellen hatte, rief jemand »Yo, Sekunde«, und als er sich umdrehte, kam Ike auf ihn zugelaufen und steckte sich dabei eine Zigarette an. »Gehst du die Jungfrau angucken?«
»So ähnlich«, sagte Eric. »Hab grad Pause, kann ich mit?«
Eric zögerte, fragte sich, ob ein Zeuge die Sache erschweren oder erleichtern würde, aber Ike schloss sich ihm einfach an. »Eric, stimmt’s?« »Stimmt.« »Ike Marcus.« Er reichte ihm die Hand. »Und, Eric, was machst du so?« »Wie meinst du das, was ich mache?« Eric wusste genau, wie es gemeint war.
»Ich meine, außer …« Der Junge war jedenfalls so gescheit, sich selbst zu unterbrechen. »Ich schreibe.« Eric erzählte das überhaupt nicht gern, aber er wollte sie beide vom Haken lassen.
»Ehrlich?«, sagte Ike dankbar. »Ich auch.« »Schön«, erwiderte Eric knapp und dachte, Wer hat dich denn gefragt?
Unverkäufliche Leseprobe des S. Fischer VerlagesRichard Price CashPreis € (D) 19,95 | (A) 20,60 | SFR 33,50 (UVP)
ISBN 978-3-10-060810-9
Roman, 528 s., Geb. mit SU
S. Fischer Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche
Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,
Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
am Vortag einen riesigen Powerball-Jackpot geknackt hatte oder vielleicht die staatliche Lotterie wieder mal in die Hundertmillionen geklettert war, aber nein, es war etwas anderes. Eric folgte der Schlange westwärts, vorbei an den frischen Ruinen der zuletzt eingestürzten Synagoge und am angrenzenden People’s Park bis zur Ecke direkt gegenüber dem Sana’a, wo die Schatten der zwei Jahre alten Banner Neueröffnung über sein Gesicht spielten. »Hallo, Eric …« Ein junger chinesischer Uniformierter, Fenton Ma, der den Verkehr auf der Kreuzung regelte, nickte ihm zu. »Verrückt, oder?«
»Was ist denn los?« »Maria ist da drin.« Ma wurde von der wogenden Menge, die er in Schach hielt, vorwärtsgespült. »Was für eine Maria?« »Die Jungfrau. Sie ist gestern Abend im Kondenswasser auf einer der Tiefkühlertüren erschienen. Spricht sich schnell rum so was hier, nicht?« Wieder wurde er vorgespült. Dann sah Eric, wie sich auf der dem Seitenfenster gegenüber liegenden Straßenseite eine zweite Menschenmenge bildete: eine Menge, die die Menge beobachtete, in diesem Fall überwiegend jung, weiß und amüsiert. »Sie ist hiiiier«, tönte es aus dieser Gruppe. Eric war schon immer gut darin gewesen, sich durch eine Meute zu schlängeln, gut trainiert allein schon durch den täglichen zigfachen Versuch, bei Berkmann zum Reservierungspult vorzudringen, und so schaffte er es in den engen Laden, ohne dass ihm jemand hinterherpöbelte. Drinnen spielte Nazir, einer der jemenitischen Brüder, ein großgewachsener, hagerer Mann mit einem Adamsapfel wie ein Tomahawk, Türsteher und Kassierer, eine Hand mit einem fetten Bündel Dollarnoten besetzt, die andere den einlaufenden Pilgern mit lockenden Fingern entgegengestreckt. »Grüßt Maria.« Seine Stimme forsch und melodisch. »Sie liebt euch sehr.« Die Jungfrau war eine vierzig Zentimeter große kürbisrunde Silhouette aus Reif an der Glastür des Bier- und Seltersregals, ihr geschmeidig sich verjüngendes Haupt über dem breiteren Unterbau leicht zur Seite geneigt, was Eric ein wenig an all die Marias in der Kunstgeschichte erinnerte, die ihr bedecktes Haupt neigen, um das Kind in ihren Armen zu betrachten, aber eigentlich war das ziemlich weit hergeholt. Die Leute, die um Eric herum knieten, hielten Fotohandys und Camcorders in die Höhe, legten im Laden erstandene Blumensträuße nieder, Kerzen, Ballons – auf einem stand du bist so einzigartig –, handschriftliche Botschaften und weitere Andenken, vor allem aber blickten sie ausdruckslos, zum Teil mit gefalteten Händen, bis Tariq, der zweite jemenitische Bruder, zu ihnen trat, »Maria sagt jetzt auf Wiedersehen«, und die Gemeinde mit diesen Worten zum Lieferanteneingang hinauskomplimentierte, um für die nächste Gruppe Platz zu schaffen. Als Eric wieder am Eingang des Ladens angekommen war, hatte ein älterer Polizist Fenton Ma abgelöst, auf seiner Marke stand Lo Presto. »Darf ich Sie was fragen?«, sagte Eric vorsichtig, da er den Mann nicht kannte, »haben Sie sie da drin gesehen?« »Wen, die Jungfrau?« Lo Presto sah ihn unbewegt an. »Kommt drauf an, was Sie ›sehen‹ nennen.« »Na ja. Sehen.«
»Also, ich sag Ihnen was.« Er blickte in die Ferne und tastete in seiner Brusttasche nach einer Zigarette. »Gegen acht heute Morgen, ja? Gehen paar Typen vom neunten Revier rein, ja, von wegen nur mal gucken? Kniet direkt vor dem Ding Servisio Tucker, der hat vor circa sechs Monaten auf der Avenue D seine Frau umgebracht. Also, die Kollegen haben seitdem die ganze Gegend umgekrempelt, ja? Und heute Morgen brauchen sie nur reinmarschieren, und da hockt er, auf den Knien. Er guckt sie an, feuchte Augen, streckt die Arme aus für die Handschellen und sagt: ›Okay, gut, bin jetzt bereit‹.« »Hm.« Eric war ganz gebannt und spürte einen Anflug von Optimismus. »Also …« Lo Presto steckte sich endlich eine an und blies genüsslich den Rauch aus. »Ob ich sie gesehen hab? Wer weiß. Aber wenn das, was ich Ihnen da grad erzählt hab, kein Wunder ist, weiß ich auch nicht.«
An einem strahlenden, ruhigen Morgen wie diesem, wenn das Berkmann leer war, befreit von der dichten, alkoholisierten Fieberhaftigkeit des Vorabends, war der Raum ein luftiger Palast, und nirgends sonst im Viertel war es schöner als hier in einem lackierten Korbstuhl mit dem entspannten Luxus eines Café au lait und der New York Times, während das Sonnenlicht von den Naturfliesen schwappte, umgeben von Weinregalen mit kryptisch schablonierten Nummern auf den Flaschen, Drahtglas und teilentsilberten Spiegeln, dies alles aus diversen Lagerhäusern in New Jersey aufgestöbert vom Besitzer Harry Steele: ein Restaurant im Gewand eines Theaters im Gewand der Nostalgie. Für Eric waren die ersten Augenblicke im Café jeden Tag wie die ersten Augenblicke in einem Major-League-Baseballstadion: mit diesem schwirrenden Rausch von Raum und geometrischer Perfektion, kam er doch aus seiner knochenschmalen Dreizimmerwohnung, in der eines der beiden Fenster auf den Lichtschacht ging, der eigentlich für Querlüftung gedacht war, seit dem Jahr des McKinley-Attentats jedoch als Müllschlucker diente.
Obwohl er an diesem Vormittag nichts weiter zu tun hatte, als die Zeitungen auf ihrem pseudoantiken Holzständer zu ordnen oder sich auf sein Pult zu lehnen, flattrig vom vielen Kaffee, den ihm die beiden
Probe-Barkeeper servierten, war ihm jedoch selbst diese flüchtige Freude verwehrt. In seiner kribbeligen Langeweile genehmigte er sich einen Moment, die neuen Kräfte hinterm Tresen zu begutachten: einen Schwarzen mit grünen Augen und Dreadlocks namens Cleveland und einen Weißen – Spike? Mike? –, der gerade auf der verzinkten Tresenplatte lehnte und mit einem pummeligen Freund plauderte, der die Prozession erfolgreich durchbrochen hatte. Dieser Freund hatte offensichtlich einen noch größeren Kater als Eric. Es hieß, nach vierzehn Jahren immer wieder unterbrochener Tätigkeit für Harry Steele sehe Eric inzwischen aus wie sein Chef; beide hatten diese mürrischen Tränensäcke wie Serge Gainsbourg oder Lou Reed, denselben gleichgültigen Körperbau, mit dem Unterschied, dass bei Harry Steele der Mangel an Attraktivität den Nimbus seines goldenen
Händchens nur noch nährte. Eine Kellnerin vom Grouchie, die sich alle sieben Zwerge in Marschrichtung aufwärts auf die Innenseite ihres Oberschenkels hatte tätowieren lassen, hatte Eric einmal gesagt, die Menschen seien entweder Hunde oder Katzen, und er sei auf jeden Fall ein Hund, zwanghaft darum bemüht, die Bedürfnisse eines jeden zu erahnen – ziemlich schäbig, so was jemandem zu sagen, mit dem man gerade geschlafen hat, aber es war wohl was dran, denn trotz seines permanenten »Ich bin aber mehr«-Mantras setzte ihn in diesem Moment der hilflose Frust seines Chefs akut unter Strom. Jedenfalls saß Steele jetzt nicht mehr allein an dem kleinen Tisch,
sondern mit seinem Händler Paulie Shaw, einem spitzgesichtigen Drecksack, der Eric mit seinem wachen Blick, seiner rasanten Zunge und allgemein angespannten Aura an zu viele Schattenspieler aus den Tagen der Schande erinnerte. Während er eine fünfte Tasse Kaffee ausschlug, sah er zu, wie Paulie einen Aluminium-Aktenkoffer öffnete und dessen samtenem Innenleben einige rechteckige Glas-Negative in je eigenem Futteral entnahm. »›Ludlow Street Sweatshop‹«, sagte Paulie und hielt das Negativ an den Kanten hoch. »›Blinder Bettler, 1888‹. ›Humpen Bier ‹. ›Banditenrast‹ – das hier, wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, so viel wert wie alle anderen zusammengenommen. Und
schließlich und endlich die ›Mott Street Barracks‹.« »Phantastisch«, murmelte Steele, und sein Blick wanderte zum wiederholten Mal zur Wunderprozession, zum leeren Café. »Jedes einzelne von Riis für seine Vorträge persönlich handgerahmt «, sagte Paulie. »Der Mann war seiner Zeit Lichtjahre voraus,
völlig multimedial, hat sechzig bis hundert davon auf einer riesigen Leinwand zu Musik ineinander überblenden lassen. Die feinen Matronen müssen sich die Eier abgejammert haben.«
»Okay.« Steele hörte nur halb zu.
»Okay?« Paulie beugte sich herab, um Steeles Blick zu erhaschen. »Zu dem, was wir für die Zahl, die wir besprochen haben?« »Jaja.« Steeles Knie wippten unterm Tisch. Der verkaterte Typ an der Bar lachte plötzlich über etwas, das sein Freund gesagt hat; das Gebell hallte von den gefliesten Wänden wider. »Mike, stimmt’s?« Eric deutete mit dem Kinn auf den Probe-Barkeeper. »Ike«, erwiderte der ganz locker, nach wie vor auf die Zinkfläche gestützt, als gehörte ihm die Bar. Er hatte einen kahlrasierten Schädel und eine Schar von Retro-Tattoos auf der Innenseite seiner Unterarme – Hula-Mädchen, Meerjungfrauen, Teufelsköpfe, Panther –, doch sein Lächeln war hold wie ein Himmelszelt. Dieser Junge, dachte Eric, die wandelnde Reklame für dieses Viertel. »Ike, sieh mal nach, ob sie was brauchen.« »Alles klar, Chef.«
»Presto«, sagte sein Freund. Als Ike hinter der Bar hervorkam und auf den kleinen Tisch zuging, hob Paulie gerade die Samteinlage seines Köfferchens an und brachte eine weitere Lage Mitbringsel zum Vorschein, aus der er ein großes terrakottabraunes Taschenbuch holte. »Sie mögen doch Orwell?
«, sagte er zu Steele. »Der Weg nach Wigan Pier, die Fahnen vom Victor Gollancz Left Wing Buchclub, 1937. Das hier existiert eigentlichgar nicht.«
»Nur die Riis-Tafeln.« Steeles Blick wanderte wieder zu der beinahe reglosen Schlange. »Das hält man doch im Arsch nicht aus«, bollerte er in den Saal. »Wie wär’s mit Henry Miller«, sagte Paulie schnell und wühlte in seinem Koffer. »Mögen Sie Henry Miller?« Ikes Schatten fiel auf den Tisch, Paulie wandte sich um und beäugte ihn über die Schulter. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Wollen Sie irgendwas?«, fragte Ike. »Wir sind durch«, antwortete Steele. »Henry Miller.« Paulie zog ein gebundenes Buch heraus. »Erstausgabe, Der klimatisierte Alptraum, makelloser Schutzumschlag, und Sie glauben es nicht, Nelson – A – Rockefeller gewidmet.« Auf der Rivington Street entbrannte ein Streit auf Spanisch, und jemand wurde mit dumpfem Knall gegen das Caféfenster geschubst.
»Dieses Viertel«, sagte Steele fröhlich und sah zum ersten Mal an diesem mausetoten Vormittag Eric an. »Bisschen zu viel durcheinander, nicht genug miteinander, stimmt’s?« Dann wandte er sich an seinen Händler: »Wie wär’s mit Splittern vom Wahren Kreuz?« »Vom was?« Und schon war Eric, der Hund mit dem Jungengesicht, zur Tür hinaus.
Einen Block vom Restaurant entfernt, sein Herz wummerte, weil er nicht wusste, wie er genau anstellen sollte, was er anzustellen hatte, rief jemand »Yo, Sekunde«, und als er sich umdrehte, kam Ike auf ihn zugelaufen und steckte sich dabei eine Zigarette an. »Gehst du die Jungfrau angucken?«
»So ähnlich«, sagte Eric. »Hab grad Pause, kann ich mit?«
Eric zögerte, fragte sich, ob ein Zeuge die Sache erschweren oder erleichtern würde, aber Ike schloss sich ihm einfach an. »Eric, stimmt’s?« »Stimmt.« »Ike Marcus.« Er reichte ihm die Hand. »Und, Eric, was machst du so?« »Wie meinst du das, was ich mache?« Eric wusste genau, wie es gemeint war.
»Ich meine, außer …« Der Junge war jedenfalls so gescheit, sich selbst zu unterbrechen. »Ich schreibe.« Eric erzählte das überhaupt nicht gern, aber er wollte sie beide vom Haken lassen.
»Ehrlich?«, sagte Ike dankbar. »Ich auch.« »Schön«, erwiderte Eric knapp und dachte, Wer hat dich denn gefragt?
Unverkäufliche Leseprobe des S. Fischer VerlagesRichard Price CashPreis € (D) 19,95 | (A) 20,60 | SFR 33,50 (UVP)
ISBN 978-3-10-060810-9
Roman, 528 s., Geb. mit SU
S. Fischer Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche
Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung,
Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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Autoren-Porträt von Richard Price
Richard Price wurde 1949 in der Bronx geboren. Bisher hat er acht Romane veröffentlicht, zuletzt erschien "Cash", ein Spiegelbestseller und Platz 1 der Krimiwelt-Bestenliste. Price verfaßte zahlreiche Drehbücher für Filme von und mit Martin Scorsese, Al Pacino und Paul Newman. 2007 gewann Price den Edgar Award für seine Arbeit an der hoch gelobten TV-Serie "The Wire", für die er monatelang bei der Polizei recherchierte. Er lebt in New York.Miriam Mandelkow, 1963 in Amsterdam geboren, arbeitet als Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt in Hamburg und in Arkadien, Griechenland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Price
- 2010, 4. Aufl., 521 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Mandelkow, Miriam
- Übersetzer: Miriam Mandelkow
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100608100
- ISBN-13: 9783100608109
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