Chicken Dance
Don Schmidt wächst in den 1970er Jahren auf einer Hühnerfarm auf. Beliebt ist er nicht gerade, weder zu Hause noch in der Schule. In Ermangelung an Alternativen freundet sich Don mit den Hühnern an, und so kommt es, dass er eines Tages beim...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Chicken Dance “
Don Schmidt wächst in den 1970er Jahren auf einer Hühnerfarm auf. Beliebt ist er nicht gerade, weder zu Hause noch in der Schule. In Ermangelung an Alternativen freundet sich Don mit den Hühnern an, und so kommt es, dass er eines Tages beim Hühner-Wissens-Wettbewerb den ersten Preis gewinnt und als jüngster Gewinner aller Zeiten in die Geschichte des Festivals eingeht.
Plötzlich ist Don der berühmteste und beliebteste Junge im Ort. Und er stößt auf ein Familiengeheimnis ...
Plötzlich ist Don der berühmteste und beliebteste Junge im Ort. Und er stößt auf ein Familiengeheimnis ...
Klappentext zu „Chicken Dance “
Herzlich willkommen auf Horse Island, Louisiana, wo Hühnerkompetenz der Schlüssel zur Beliebtheit ist, Eier Reichtum bedeuten - und wo ein Junge zwischen Huhn und Hahn auf ein düsteres Familiengeheimnis stößt...
Herzlich willkommen auf Horse Island, Louisiana, wo Hühnerkompetenz der Schlüssel zur Beliebtheit ist und Eier wertvoller sind als Geld. Don Schmidt wächst hier in den 1970er Jahren auf einer Hühnerfarm auf. Beliebt ist er nicht gerade, weder zu Hause noch in der Schule. In Ermangelung an Alternativen freundet sich Don mit den Hühnern an, und so kommt es, dass er eines Tages beim Hühner-Wissens-Wettbewerb den ersten Preis gewinnt und als jüngster Gewinner aller Zeiten in die Geschichte des Festivals eingeht. Plötzlich ist Don der berühmteste und beliebteste Junge im Ort. Und er stößt auf ein Familiengeheimnis ...
Lese-Probe zu „Chicken Dance “
Chicken Dance von Jacques CouvillonEINS
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Der Name meiner Schwester war Dawn, und meine Mutter sagte, sie hätte diesen Namen bekommen, weil es bei ihrer Geburt gewesen sei, als wäre soeben die Sonne aufgegangen. Ich heiße Stanley. Meine Eltern sagten, sie hätten mich nach dem Onkel meines Vaters benannt, der das Land verlassen hat, weil er irgendwelchen Kredithaien eine Menge Geld schuldete, weil er nämlich viel spielte und trank. Ich kann mich nicht erinnern, dass man mich je Stanley genannt hätte, denn meine Eltern sagten immer Don zu mir. Warum sie meinen Namen geändert hatten, erzählten sie mir nicht, sie sagten bloß, sie hätten den Namen Stanley nicht mehr gemocht.
Es war nicht wirklich die Wahrheit, aber das habe ich erst herausgefunden, als ich zwölf Jahre alt war. Bis dahin dachte ich, mein Name wäre Don. Dass ich eigentlich Stanley heiße, verrieten sie mir genau genommen, als ich elf war, aber auch nur, weil ich meine Geburtsurkunde fand, weil ich die Rumpelkammer aufräumte, weil meine Mutter die »Einfluss-Pärchen« zum Abendessen eingeladen hatte, weil sie glaubte, es würde sich für sie auszahlen, wenn sie ihnen ein paar Eier gab. Ich nehme an, das klingt jetzt nicht so wirklich sinnvoll, also sollte ich vielleicht ein paar Jahre früher anfangen - mit meinem elften Geburtstag, als die ganze Sache ihren Lauf nahm.
Aber wisst ihr was? Vorher sollte ich euch vielleicht sagen, wer ich bin und wo ich lebe und warum ich da lebe, und ein paar andere Sachen, die ihr vielleicht über mich wissen wollt.
Mein Name ist Stanley Schmidt, und ich lebe auf einer Hühnerfarm in Horse Island. Eine Insel ist das aber eigentlich gar nicht, und es gibt auch nicht gerade besonders viele Pferde da, dafür aber eine Menge Hühner. Fast jeder hat welche, und die Leute kommen meilenweit hergefahren, nur um sich ihre Eier in Horse Island zu kaufen. Die Stadt ist schon immer randvoll gewesen mit Hühnerfarmen, aber erst als einer von den Leuten hier, Jonathan Jacobs, nach Lafayette gezogen und Wettermoderator beim Fernsehen geworden ist, wollten die Leute plötzlich Eier von Horse-Island-Hühnern haben. Er sprach während seines Wetterberichts nämlich immerzu über die Stadt und sagte dann Sachen wie: »Morgen wird ein sonniger Tag. Ich bin sicher, alle Hühner zu Hause auf der Farm meiner Eltern in Horse Island werden ihre Freude daran haben und einige köstliche Eier legen. Womöglich sogar mit doppeltem Dotter.«
Und weil er immerzu über Horse Island redete, fuhren Leute aus anderen Städten wie Cow Island, Forked Island, Pecan Island, Kaplan und Abbeville nach Horse Island, um Eier zu kaufen.
Ich bin allerdings nicht in Horse Island geboren worden. Ich wurde in Shreveport geboren, aber meine Eltern zogen mit mir auf die Hühnerfarm in Horse Island, als ich noch ein Baby war.
Meine Schwester Dawn zog nicht mit uns um, weil, wie mir meine Mutter erzählte, Dawn an Scharlach starb, als sie fünfzehn war und ich noch ein Baby. Und auch wenn ich mich nicht an sie erinnerte, habe ich doch immer gewusst, wie sie ausgesehen hat, weil es überall bei uns im Haus Fotos von ihr in Tanzkostümen gab.
Dawn und ich sahen uns überhaupt nicht ähnlich, auch wenn sie meine Schwester war. Sie war dünn, hatte glattes braunes Haar, ihre Haut sah aus, als wäre sie viel draußen an der Sonne gewesen, und ihre Augen hatten so in etwa die Farbe einer Pekannuss von innen. Meine Augen sind grün, und ich trage eine Brille und bin klein, und ich habe rötliches Haar, das ziemlich lockig ist, und meine Haut ist weiß, abgesehen von einem ganzen Haufen Sommersprossen.
Na ja, der Grund, warum meine Eltern und ich von Shreveport weggezogen sind, war jedenfalls, dass mein Vater die Hühnerfarm von seinem Onkel erbte. Nicht von Stanley, nach dem ich angeblich benannt worden bin, sondern von Sam. In seinem Testament hatte Onkel Sam festgelegt, dass meine Eltern zehn Jahre lang in dem Haus leben durften, vorausgesetzt, dass sie immer mindestens fünfundzwanzig Hühner hielten. Onkel Sams Rechtsanwalt ließ jeden Monat jemanden kommen, der die Hühner zählte und den meine Mutter den »Mistvieh-Zähler« nannte. Meine Eltern hatten drei Verwarnungen gut, falls bei der Zählung keine fünfundzwanzig Hühner vorhanden waren. Nach der dritten Verwarnung sollten das Haus und das Land der Amerikanischen Geflügel-Gesellschaft gespendet werden. Wenn sie aber zehn Jahre lang fünfundzwanzig Hühner gehalten hätten, konnten meine Eltern mit der Farm machen, was sie wollten.
Meine Mutter sagte, Onkel Sam sei übergeschnappt, weil er so viele Jahre allein mit einem Haufen Hühner verbracht hatte. Ich habe diesen Onkel Sam nie kennengelernt, und auch sonst keinen aus meiner Familie. Ich wusste überhaupt von keinen Onkeln und Tanten, und meinen Großeltern bin ich ebenfalls nie begegnet. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ihre Mutter und ihr Vater ums Leben gekommen waren, als ein Tornado ihr Haus verwüstet hatte, und dass die Eltern meines Vaters bei einem Angelausflug an der Küste von Texas den Haien zum Opfer ge fallen wären.
Aber obwohl ich nie den Onkel meines Vaters kennengelernt hatte, mochte ich ihn sehr, weil ich die Hühnerfarm so liebte, die er uns vermacht hatte. Meine Mutter ließ mich nie allein in den Stall gehen, weil sie Angst hatte, dass die Hühner mir die Augen auspicken würden, und sie dann reingehen und mich rausholen müsste. Also verbrachte ich meine gesamte freie Zeit damit, in der Nähe des Zauns zu sitzen, der unseren Hinterhof vom Hühnerhof trennte.
Der Hühnerhof war einfach nur ein großer Hof, der von einem Maschendrahtzaun umgeben war. Wenn die Hühner nicht in ihren Nestern waren und Eier legten, sah ich ihnen zu, wie sie im Hof tanzten oder sich im Dreck wälzten. Und wenn eines nah genug an den Zaun herankam, steckte ich meine Finger durch eines der Löcher und versuchte, es zu streicheln.
Manchmal sprach ich sogar mit ihnen über Sachen von der Schule und über diesen Jungen namens Leon Leonard, der sich immer über mich lustig machte, weil meine Mutter sagte, wir würden unsere Hühner nur wegen des Ambientes halten.
Die Hühner antworteten mir dann und sagten Sachen wie: »Das ist schon okay, Don. Irgendwann wird sich Leon Leonard die Hosen vollkacken und überhaupt keine Freunde mehr haben.«
Die Hühner sprachen natürlich nicht wirklich mit mir. Ich stellte mir bloß vor, dass sie genau das sagten. Es machte sowieso viel mehr Spaß, mir bloß auszudenken, was sie sagten, denn so sagten sie nie etwas, was mir nicht gefiel, und wurden meine besten Freunde.
Ich fand es echt toll, auf dieser Farm zu leben, aber meine Mutter hasste es. Das erzählte sie aber nie jemandem, wenn sie gefragt wurde, warum sie und mein Vater hier lebten. Sie sagte den Leuten, dass sie und mein Vater schließlich schon auf die vierzig zugingen und sie sich gedacht hätten, es wäre mal an der Zeit, der Großstadt den Rücken zuzukehren. Dann fügte sie hinzu, dass wir die Hühner nicht hielten, um sie zu züchten, denn das hätte ja Hühnerzüchter aus uns gemacht, und wir waren alles, nur das nicht. Sie erzählte den Leuten, dass wir die Hühner wegen des Ambientes hielten und weil wir frische Eier liebten.
Ich glaube, das hat einige Leute verwirrt, denn viele von ihnen kannten nicht die Bedeutung des Wortes Ambiente. Und wenn sie sie doch kannten, glaubten sie nicht, dass Hühnerkacke von den Schuhsohlen zu kratzen etwas mit Ambiente zu tun haben konnte.
Also, ich würde sagen, jetzt habe ich euch alles erzählt, was bis hierher nötig war, so dass ich euch nun von dem Abend meines elften Geburtstags berichten kann, als alles irgendwie anfing, anders zu werden.
ZWEI
Am Abend meines elften Geburtstags saßen meine Mutter, mein Vater und ich in unserem Wohnzimmer, aßen TVDinner-Fertiggerichte und schauten fern, wie wir das jeden Abend taten. Mein Vater saß auf einem braunen Ledersessel und meine Mutter auf einem mit altrosafar benem Samt bezogenen Fauteuil. Für mich sah er mehr aus wie ein Stuhl, aber meine Mutter nannte ihn einen Fauteuil, und wenn mein Vater oder ich Stuhl sagten, verbesserte sie uns.
Ich saß auf dem altrosafarbenen Samtsofa. Wenn mein Vater oder ich es eine Couch nannten, verbesserte uns meine Mutter und sagte uns, sie wisse nicht, wovon wir da redeten, weil sie in ihrem Wohnzimmer keine Couch besäße. Sie sagte, sie besäße ein Sofa und dass wir gefälligst die korrekte Bezeichnung benutzen sollten.
Sie nannte es auch an meinem elften Geburtstag Sofa, als sie mich anschrie: »Don! Kleckere nicht! Deine Schwester hat dieses Sofa geliebt. Es wäre schrecklich für mich, wenn ein großer Fleck darauf wäre, nur wegen deiner Ungeschicklichkeit.«
Meine Mutter hatte die Regel gebrochen, während des abendlichen Fernsehprogramms nur in den Werbepausen zu sprechen, und mein Vater, der gerade einen Bissen von seinem geschmorten Hühnchen alla cacciatore zu sich nahm, sah meine Mutter an, als hätte sie ihm eine Matheaufgabe gestellt, die er nicht lösen konnte.
Na ja, da es mein elfter Geburtstag war, entschloss ich mich jedenfalls, meine Eltern um einen Gefallen zu bitten, um den ich sie schon seit fast einem Jahr bitten wollte. Das machte mich ziemlich nervös, also dachte ich schnell an einen Song von KC and the Sunshine Band, um mich zu entspannen. Von denen kannte ich alle Songs, weil ich ihr Greatest-Hits-Album bei einem Hühner-Bingo im Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt gewonnen hatte.
Im Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt gab es nämlich diesen Wettbewerb, bei dem ein Huhn in einen Käfig gesetzt wurde, der ungefähr so groß war wie ein Bett, in dem zwei Menschen schlafen können. Auf dem Boden des Käfigs lag eine weiße Tafel mit roten Zahlen drauf, wie eine große Bingo-Karte. Mr Bufford, der Inhaber vom Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt, setzte dann samstags morgens auf dem Parkplatz, kurz bevor der Laden öffnete, das Huhn in den Käfig, und alle beobachteten, auf welcher Zahl das Huhn sein Geschäft machte. Dann versuchte man, Lebensmittel und Einrichtungsgegenstände zu erwerben, die genau die Summe Geld kosteten, die dieser Zahl entsprach. Mr Bufford nannte sie die »magische Zahl«, und eines Tages war die magische Zahl die 33, und meine Mutter gab durch Zufall genau diesen Betrag aus.
Als das passierte, grinste die Kassiererin von einem Ohr zum anderen und sagte zu meiner Mutter: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die magische Zahl erreicht. Hundert Dollar gehen an Sie für den Satz, der richtig abräumt!«
Meine Mutter sah die Kassiererin an und fragte: »Wie bitte?«
Die Kassiererin sagte wieder: »Hundert Dollar gehen an Sie für den Satz, der richtig abräumt!«
Ich kannte den Satz, der richtig abräumt, also grinste ich und sagte: »Der Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt hat alles, was mich glücklich macht.«
Meine Mutter schaute mich an und sagte: »Don, bitte. Was habe ich dir darüber gesagt, dass man nur spricht, wenn man angesprochen wird?«
Aber dann sagte die Kassiererin: »Er hat recht! Herzlichen Glückwunsch! Sie gewinnen hundert Dollar in bar!«
Meine Mutter lächelte und sagte: »Wirklich? Was für eine angenehme Überraschung.«
Als die Kassiererin meiner Mutter das Geld gab, steckte sie alles in ihr Portemonnaie.
Dann sah die Kassiererin mich an und sagte: »Weil du deiner Mama geholfen hast, junger Mann, gebe ich dir die Chance, auch noch etwas zu gewinnen. Kannst du mir sagen, wie der Präsident der Vereinigten Staaten heißt?«
Ich grinste breit und sagte: »Jimmy Carter.«
Und die Kassiererin sagte: »Das stimmt. Herzlichen Glückwunsch! Du hast soeben ein Greatest-Hits-Album von KC and the Sunshine Band gewonnen.«
Ich hatte einen alten Plattenspieler in meinem Zimmer und fing an, jeden Tag das Album anzuhören, und manchmal sang ich die Songs auch im Stillen. Weil ich mir dann so große Mühe gab, mich an die Texte zu erinnern, vergaß ich, worüber ich vor dem Singen nachgedacht hatte. Wenn mich also das, worüber ich nachdachte, nervös machte, fing ich manchmal an, in meinem Kopf einen KC and the Sunshine Song zu singen - und das half mir dann zu vergessen, worüber ich nachgedacht hatte, und dann war ich nicht mehr so nervös.
Deshalb fing ich auch am Abend meines elften Geburtstags an, im Stillen Boogie Shoes zu singen. Aber dann begann im Fernsehen der Titelsong von Happy Days, und meine Mutter quiekte wie ein Schwein.
Dann sagte sie: »Das ist Rock Around the Clock. Ihr wisst doch, das ist der Song, zu dem Dawn getanzt hat, als sie mit dreizehn ihren Tanzwettbewerb gewann.«
Sie zeigte mit der Hühnerkeule auf Dawns Ballerinapokal, der ganz oben auf dem großen Bücherschrank in unserem Wohnzimmer stand.
»Das Talent hatte sie ja von mir, wisst ihr«, sagte sie. »Früher habe ich getanzt, und ich hätte auch berühmt werden können, aber ich habe mich eben für die Familie entschieden.«
Dann ließ meine Mutter die Keule in die Aluminiumschale fallen und sagte: »Ich war es, die ihr die Choreografie beigebracht hat.«
Meine Mutter stand von ihrem Platz auf und begann, zu der Musik aus dem Fernsehen zu tanzen, und tat so, als wirbele sie einen Tambourstab herum. Dann vollführte sie mit einem Bein ein paar Kicks und drehte sich. Sie warf eine Hand in die Luft und sagte: »Dawn hat den Wettbewerb für sich entschieden, indem sie ihr rechtes Bein mit einer Hand in die Luft gehalten und dann mit der anderen einen kleinen Tambourstab herumgewirbelt hat. Sie konnte den Tambourstab in die Luft werfen und ihn dann mit dem Mund auffangen. Es war wirklich erstaunlich, und ich glaube, Dawn hätte in Vegas tanzen können, wenn sie gewollt hätte. Man sollte doch meinen, dass man ihr dort mehr gegeben hätte als bloß diesen Pokal da.«
Happy Days fing an, also setzte sich meine Mutter wieder hin und hörte auf zu reden, und ich schaute hinauf zu Dawns Tanzpokal. Er stellte eine glänzende, vergoldete Ballerina dar, gut dreißig Zentimeter groß, die mit einer Zehenspitze auf einem grünen Aluminiumsockel stand. Ihr Kopf war etwa fünfzehn Zentimeter von der Zimmerdecke entfernt, und sie war größer als alles andere auf dem Regal, einschließlich des Fernsehers und der Spieluhr meiner Mutter.
Wenn man den Deckel dieser Spieluhr öffnete, kam eine Ballerina in einem glänzenden altrosafarbenen Kleid zum Vorschein, das die gleiche Farbe hatte wie unsere Wohnzimmerwände. Dann stand die Ballerina mit ausgebreiteten Armen auf einer Zehenspitze und drehte sich zur Musik im Kreis. Es sah fast so aus, als wolle sie fliegen, aber da sie's nicht konnte, blieb sie, wo sie war, und tanzte.
Manchmal nahm meine Mutter sie herunter und zog sie auf und schaute der Ballerina beim Tanzen zu. Und manchmal tanzte sie sogar mit der Ballerina und ließ mich dabei zuschauen. Als kleiner Junge habe ich mal diesen Peter-Pan-Film gesehen, und damals dachte ich: Vielleicht ist die Ballerina in der Schachtel ja eine Fee wie TinkerBell. Ich stellte mir vor, eine Hexe hätte sie mit einem Fluch verzaubert, so dass sie in dieser Schachtel leben musste. Es machte mich traurig, dass sie da drin leben musste und nicht wegfliegen und mit anderen Feen spielen konnte. Deshalb malte ich mir manchmal aus, wie ich die Spieluhr bis zum Anschlag aufziehen und »Flieg!« flüstern würde, und sie dann mit dem Tanzen aufhören und hoch in die Luft fliegen würde.
Ich hatte es allerdings nie ausprobiert, denn meine Mutter erlaubte mir grundsätzlich nicht, die Spieluhr anzufassen oder überhaupt nur in ihre Nähe zu kommen. Als ich älter wurde, begriff ich, dass die Ballerina nur eine Plastikpuppe war und dass sie auch dann nicht fortfliegen würde, wenn ich die Spieluhr bis zum Anschlag aufziehen und »Flieg!« flüstern würde. Irgendwie wollte ich es allerdings immer noch tun. Nur um sicherzugehen.
Na ja, während einer Werbepause von Happy Days atmete ich jedenfalls tief ein und war drauf und dran, meinen Eltern meine Bitte vorzutragen, als meine Mutter anfing zu weinen. Sie sagte: »Der liebe Gott hat Dawn zu sich geholt, weil er im Himmel noch einen Engel gebraucht hat.«
Ich stellte mir Dawn oben im Himmel vor - mit einem abgeschlagenen Vorderzahn von einem missglückten Fang des Tambourstabs und in einem weißen Ballerinenkostüm mit Flügeln auf dem Rücken. Sie stand auf einer hohen weißen Säule, und Gott blickte zu ihr auf, während sie ein Bein in die Luft hielt und in der anderen Hand ihren Tambourstab rotieren ließ.
Beim Gedanken daran starrte ich vor mich hin, und so fiel mein Blick auf ein Foto von Dawn an ihrem elften Geburtstag. Darauf hatte sie die Augen verbunden, trug ein rosafarbenes Tutu und versuchte, einen Schwanz an das Bild eines Esels zu heften. Ich wusste, dass es ihr elfter Geburtstag war, denn sie trug ein T-Shirt, auf dem stand: »Küss mich! Ich bin 1 1.«
Darüber musste ich lächeln, und ich nehme an, meine Mutter sah, dass ich das Bild anschaute und lächelte, anstatt sie anzuschauen.
Jedenfalls schrie sie mich an: »Don! Das ist wichtig. Hör zu, wenn wir mit dir sprechen. Dick, sag ihm, dass das wichtig ist.«
»Es ist wichtig«, sagte mein Vater, ohne mich anzusehen, und kratzte sich unter der Achsel.
Übersetzung: André Mumont
Der Name meiner Schwester war Dawn, und meine Mutter sagte, sie hätte diesen Namen bekommen, weil es bei ihrer Geburt gewesen sei, als wäre soeben die Sonne aufgegangen. Ich heiße Stanley. Meine Eltern sagten, sie hätten mich nach dem Onkel meines Vaters benannt, der das Land verlassen hat, weil er irgendwelchen Kredithaien eine Menge Geld schuldete, weil er nämlich viel spielte und trank. Ich kann mich nicht erinnern, dass man mich je Stanley genannt hätte, denn meine Eltern sagten immer Don zu mir. Warum sie meinen Namen geändert hatten, erzählten sie mir nicht, sie sagten bloß, sie hätten den Namen Stanley nicht mehr gemocht.
Es war nicht wirklich die Wahrheit, aber das habe ich erst herausgefunden, als ich zwölf Jahre alt war. Bis dahin dachte ich, mein Name wäre Don. Dass ich eigentlich Stanley heiße, verrieten sie mir genau genommen, als ich elf war, aber auch nur, weil ich meine Geburtsurkunde fand, weil ich die Rumpelkammer aufräumte, weil meine Mutter die »Einfluss-Pärchen« zum Abendessen eingeladen hatte, weil sie glaubte, es würde sich für sie auszahlen, wenn sie ihnen ein paar Eier gab. Ich nehme an, das klingt jetzt nicht so wirklich sinnvoll, also sollte ich vielleicht ein paar Jahre früher anfangen - mit meinem elften Geburtstag, als die ganze Sache ihren Lauf nahm.
Aber wisst ihr was? Vorher sollte ich euch vielleicht sagen, wer ich bin und wo ich lebe und warum ich da lebe, und ein paar andere Sachen, die ihr vielleicht über mich wissen wollt.
Mein Name ist Stanley Schmidt, und ich lebe auf einer Hühnerfarm in Horse Island. Eine Insel ist das aber eigentlich gar nicht, und es gibt auch nicht gerade besonders viele Pferde da, dafür aber eine Menge Hühner. Fast jeder hat welche, und die Leute kommen meilenweit hergefahren, nur um sich ihre Eier in Horse Island zu kaufen. Die Stadt ist schon immer randvoll gewesen mit Hühnerfarmen, aber erst als einer von den Leuten hier, Jonathan Jacobs, nach Lafayette gezogen und Wettermoderator beim Fernsehen geworden ist, wollten die Leute plötzlich Eier von Horse-Island-Hühnern haben. Er sprach während seines Wetterberichts nämlich immerzu über die Stadt und sagte dann Sachen wie: »Morgen wird ein sonniger Tag. Ich bin sicher, alle Hühner zu Hause auf der Farm meiner Eltern in Horse Island werden ihre Freude daran haben und einige köstliche Eier legen. Womöglich sogar mit doppeltem Dotter.«
Und weil er immerzu über Horse Island redete, fuhren Leute aus anderen Städten wie Cow Island, Forked Island, Pecan Island, Kaplan und Abbeville nach Horse Island, um Eier zu kaufen.
Ich bin allerdings nicht in Horse Island geboren worden. Ich wurde in Shreveport geboren, aber meine Eltern zogen mit mir auf die Hühnerfarm in Horse Island, als ich noch ein Baby war.
Meine Schwester Dawn zog nicht mit uns um, weil, wie mir meine Mutter erzählte, Dawn an Scharlach starb, als sie fünfzehn war und ich noch ein Baby. Und auch wenn ich mich nicht an sie erinnerte, habe ich doch immer gewusst, wie sie ausgesehen hat, weil es überall bei uns im Haus Fotos von ihr in Tanzkostümen gab.
Dawn und ich sahen uns überhaupt nicht ähnlich, auch wenn sie meine Schwester war. Sie war dünn, hatte glattes braunes Haar, ihre Haut sah aus, als wäre sie viel draußen an der Sonne gewesen, und ihre Augen hatten so in etwa die Farbe einer Pekannuss von innen. Meine Augen sind grün, und ich trage eine Brille und bin klein, und ich habe rötliches Haar, das ziemlich lockig ist, und meine Haut ist weiß, abgesehen von einem ganzen Haufen Sommersprossen.
Na ja, der Grund, warum meine Eltern und ich von Shreveport weggezogen sind, war jedenfalls, dass mein Vater die Hühnerfarm von seinem Onkel erbte. Nicht von Stanley, nach dem ich angeblich benannt worden bin, sondern von Sam. In seinem Testament hatte Onkel Sam festgelegt, dass meine Eltern zehn Jahre lang in dem Haus leben durften, vorausgesetzt, dass sie immer mindestens fünfundzwanzig Hühner hielten. Onkel Sams Rechtsanwalt ließ jeden Monat jemanden kommen, der die Hühner zählte und den meine Mutter den »Mistvieh-Zähler« nannte. Meine Eltern hatten drei Verwarnungen gut, falls bei der Zählung keine fünfundzwanzig Hühner vorhanden waren. Nach der dritten Verwarnung sollten das Haus und das Land der Amerikanischen Geflügel-Gesellschaft gespendet werden. Wenn sie aber zehn Jahre lang fünfundzwanzig Hühner gehalten hätten, konnten meine Eltern mit der Farm machen, was sie wollten.
Meine Mutter sagte, Onkel Sam sei übergeschnappt, weil er so viele Jahre allein mit einem Haufen Hühner verbracht hatte. Ich habe diesen Onkel Sam nie kennengelernt, und auch sonst keinen aus meiner Familie. Ich wusste überhaupt von keinen Onkeln und Tanten, und meinen Großeltern bin ich ebenfalls nie begegnet. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ihre Mutter und ihr Vater ums Leben gekommen waren, als ein Tornado ihr Haus verwüstet hatte, und dass die Eltern meines Vaters bei einem Angelausflug an der Küste von Texas den Haien zum Opfer ge fallen wären.
Aber obwohl ich nie den Onkel meines Vaters kennengelernt hatte, mochte ich ihn sehr, weil ich die Hühnerfarm so liebte, die er uns vermacht hatte. Meine Mutter ließ mich nie allein in den Stall gehen, weil sie Angst hatte, dass die Hühner mir die Augen auspicken würden, und sie dann reingehen und mich rausholen müsste. Also verbrachte ich meine gesamte freie Zeit damit, in der Nähe des Zauns zu sitzen, der unseren Hinterhof vom Hühnerhof trennte.
Der Hühnerhof war einfach nur ein großer Hof, der von einem Maschendrahtzaun umgeben war. Wenn die Hühner nicht in ihren Nestern waren und Eier legten, sah ich ihnen zu, wie sie im Hof tanzten oder sich im Dreck wälzten. Und wenn eines nah genug an den Zaun herankam, steckte ich meine Finger durch eines der Löcher und versuchte, es zu streicheln.
Manchmal sprach ich sogar mit ihnen über Sachen von der Schule und über diesen Jungen namens Leon Leonard, der sich immer über mich lustig machte, weil meine Mutter sagte, wir würden unsere Hühner nur wegen des Ambientes halten.
Die Hühner antworteten mir dann und sagten Sachen wie: »Das ist schon okay, Don. Irgendwann wird sich Leon Leonard die Hosen vollkacken und überhaupt keine Freunde mehr haben.«
Die Hühner sprachen natürlich nicht wirklich mit mir. Ich stellte mir bloß vor, dass sie genau das sagten. Es machte sowieso viel mehr Spaß, mir bloß auszudenken, was sie sagten, denn so sagten sie nie etwas, was mir nicht gefiel, und wurden meine besten Freunde.
Ich fand es echt toll, auf dieser Farm zu leben, aber meine Mutter hasste es. Das erzählte sie aber nie jemandem, wenn sie gefragt wurde, warum sie und mein Vater hier lebten. Sie sagte den Leuten, dass sie und mein Vater schließlich schon auf die vierzig zugingen und sie sich gedacht hätten, es wäre mal an der Zeit, der Großstadt den Rücken zuzukehren. Dann fügte sie hinzu, dass wir die Hühner nicht hielten, um sie zu züchten, denn das hätte ja Hühnerzüchter aus uns gemacht, und wir waren alles, nur das nicht. Sie erzählte den Leuten, dass wir die Hühner wegen des Ambientes hielten und weil wir frische Eier liebten.
Ich glaube, das hat einige Leute verwirrt, denn viele von ihnen kannten nicht die Bedeutung des Wortes Ambiente. Und wenn sie sie doch kannten, glaubten sie nicht, dass Hühnerkacke von den Schuhsohlen zu kratzen etwas mit Ambiente zu tun haben konnte.
Also, ich würde sagen, jetzt habe ich euch alles erzählt, was bis hierher nötig war, so dass ich euch nun von dem Abend meines elften Geburtstags berichten kann, als alles irgendwie anfing, anders zu werden.
ZWEI
Am Abend meines elften Geburtstags saßen meine Mutter, mein Vater und ich in unserem Wohnzimmer, aßen TVDinner-Fertiggerichte und schauten fern, wie wir das jeden Abend taten. Mein Vater saß auf einem braunen Ledersessel und meine Mutter auf einem mit altrosafar benem Samt bezogenen Fauteuil. Für mich sah er mehr aus wie ein Stuhl, aber meine Mutter nannte ihn einen Fauteuil, und wenn mein Vater oder ich Stuhl sagten, verbesserte sie uns.
Ich saß auf dem altrosafarbenen Samtsofa. Wenn mein Vater oder ich es eine Couch nannten, verbesserte uns meine Mutter und sagte uns, sie wisse nicht, wovon wir da redeten, weil sie in ihrem Wohnzimmer keine Couch besäße. Sie sagte, sie besäße ein Sofa und dass wir gefälligst die korrekte Bezeichnung benutzen sollten.
Sie nannte es auch an meinem elften Geburtstag Sofa, als sie mich anschrie: »Don! Kleckere nicht! Deine Schwester hat dieses Sofa geliebt. Es wäre schrecklich für mich, wenn ein großer Fleck darauf wäre, nur wegen deiner Ungeschicklichkeit.«
Meine Mutter hatte die Regel gebrochen, während des abendlichen Fernsehprogramms nur in den Werbepausen zu sprechen, und mein Vater, der gerade einen Bissen von seinem geschmorten Hühnchen alla cacciatore zu sich nahm, sah meine Mutter an, als hätte sie ihm eine Matheaufgabe gestellt, die er nicht lösen konnte.
Na ja, da es mein elfter Geburtstag war, entschloss ich mich jedenfalls, meine Eltern um einen Gefallen zu bitten, um den ich sie schon seit fast einem Jahr bitten wollte. Das machte mich ziemlich nervös, also dachte ich schnell an einen Song von KC and the Sunshine Band, um mich zu entspannen. Von denen kannte ich alle Songs, weil ich ihr Greatest-Hits-Album bei einem Hühner-Bingo im Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt gewonnen hatte.
Im Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt gab es nämlich diesen Wettbewerb, bei dem ein Huhn in einen Käfig gesetzt wurde, der ungefähr so groß war wie ein Bett, in dem zwei Menschen schlafen können. Auf dem Boden des Käfigs lag eine weiße Tafel mit roten Zahlen drauf, wie eine große Bingo-Karte. Mr Bufford, der Inhaber vom Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt, setzte dann samstags morgens auf dem Parkplatz, kurz bevor der Laden öffnete, das Huhn in den Käfig, und alle beobachteten, auf welcher Zahl das Huhn sein Geschäft machte. Dann versuchte man, Lebensmittel und Einrichtungsgegenstände zu erwerben, die genau die Summe Geld kosteten, die dieser Zahl entsprach. Mr Bufford nannte sie die »magische Zahl«, und eines Tages war die magische Zahl die 33, und meine Mutter gab durch Zufall genau diesen Betrag aus.
Als das passierte, grinste die Kassiererin von einem Ohr zum anderen und sagte zu meiner Mutter: »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die magische Zahl erreicht. Hundert Dollar gehen an Sie für den Satz, der richtig abräumt!«
Meine Mutter sah die Kassiererin an und fragte: »Wie bitte?«
Die Kassiererin sagte wieder: »Hundert Dollar gehen an Sie für den Satz, der richtig abräumt!«
Ich kannte den Satz, der richtig abräumt, also grinste ich und sagte: »Der Horse Island Einkaufs- und Einrichtungsmarkt hat alles, was mich glücklich macht.«
Meine Mutter schaute mich an und sagte: »Don, bitte. Was habe ich dir darüber gesagt, dass man nur spricht, wenn man angesprochen wird?«
Aber dann sagte die Kassiererin: »Er hat recht! Herzlichen Glückwunsch! Sie gewinnen hundert Dollar in bar!«
Meine Mutter lächelte und sagte: »Wirklich? Was für eine angenehme Überraschung.«
Als die Kassiererin meiner Mutter das Geld gab, steckte sie alles in ihr Portemonnaie.
Dann sah die Kassiererin mich an und sagte: »Weil du deiner Mama geholfen hast, junger Mann, gebe ich dir die Chance, auch noch etwas zu gewinnen. Kannst du mir sagen, wie der Präsident der Vereinigten Staaten heißt?«
Ich grinste breit und sagte: »Jimmy Carter.«
Und die Kassiererin sagte: »Das stimmt. Herzlichen Glückwunsch! Du hast soeben ein Greatest-Hits-Album von KC and the Sunshine Band gewonnen.«
Ich hatte einen alten Plattenspieler in meinem Zimmer und fing an, jeden Tag das Album anzuhören, und manchmal sang ich die Songs auch im Stillen. Weil ich mir dann so große Mühe gab, mich an die Texte zu erinnern, vergaß ich, worüber ich vor dem Singen nachgedacht hatte. Wenn mich also das, worüber ich nachdachte, nervös machte, fing ich manchmal an, in meinem Kopf einen KC and the Sunshine Song zu singen - und das half mir dann zu vergessen, worüber ich nachgedacht hatte, und dann war ich nicht mehr so nervös.
Deshalb fing ich auch am Abend meines elften Geburtstags an, im Stillen Boogie Shoes zu singen. Aber dann begann im Fernsehen der Titelsong von Happy Days, und meine Mutter quiekte wie ein Schwein.
Dann sagte sie: »Das ist Rock Around the Clock. Ihr wisst doch, das ist der Song, zu dem Dawn getanzt hat, als sie mit dreizehn ihren Tanzwettbewerb gewann.«
Sie zeigte mit der Hühnerkeule auf Dawns Ballerinapokal, der ganz oben auf dem großen Bücherschrank in unserem Wohnzimmer stand.
»Das Talent hatte sie ja von mir, wisst ihr«, sagte sie. »Früher habe ich getanzt, und ich hätte auch berühmt werden können, aber ich habe mich eben für die Familie entschieden.«
Dann ließ meine Mutter die Keule in die Aluminiumschale fallen und sagte: »Ich war es, die ihr die Choreografie beigebracht hat.«
Meine Mutter stand von ihrem Platz auf und begann, zu der Musik aus dem Fernsehen zu tanzen, und tat so, als wirbele sie einen Tambourstab herum. Dann vollführte sie mit einem Bein ein paar Kicks und drehte sich. Sie warf eine Hand in die Luft und sagte: »Dawn hat den Wettbewerb für sich entschieden, indem sie ihr rechtes Bein mit einer Hand in die Luft gehalten und dann mit der anderen einen kleinen Tambourstab herumgewirbelt hat. Sie konnte den Tambourstab in die Luft werfen und ihn dann mit dem Mund auffangen. Es war wirklich erstaunlich, und ich glaube, Dawn hätte in Vegas tanzen können, wenn sie gewollt hätte. Man sollte doch meinen, dass man ihr dort mehr gegeben hätte als bloß diesen Pokal da.«
Happy Days fing an, also setzte sich meine Mutter wieder hin und hörte auf zu reden, und ich schaute hinauf zu Dawns Tanzpokal. Er stellte eine glänzende, vergoldete Ballerina dar, gut dreißig Zentimeter groß, die mit einer Zehenspitze auf einem grünen Aluminiumsockel stand. Ihr Kopf war etwa fünfzehn Zentimeter von der Zimmerdecke entfernt, und sie war größer als alles andere auf dem Regal, einschließlich des Fernsehers und der Spieluhr meiner Mutter.
Wenn man den Deckel dieser Spieluhr öffnete, kam eine Ballerina in einem glänzenden altrosafarbenen Kleid zum Vorschein, das die gleiche Farbe hatte wie unsere Wohnzimmerwände. Dann stand die Ballerina mit ausgebreiteten Armen auf einer Zehenspitze und drehte sich zur Musik im Kreis. Es sah fast so aus, als wolle sie fliegen, aber da sie's nicht konnte, blieb sie, wo sie war, und tanzte.
Manchmal nahm meine Mutter sie herunter und zog sie auf und schaute der Ballerina beim Tanzen zu. Und manchmal tanzte sie sogar mit der Ballerina und ließ mich dabei zuschauen. Als kleiner Junge habe ich mal diesen Peter-Pan-Film gesehen, und damals dachte ich: Vielleicht ist die Ballerina in der Schachtel ja eine Fee wie TinkerBell. Ich stellte mir vor, eine Hexe hätte sie mit einem Fluch verzaubert, so dass sie in dieser Schachtel leben musste. Es machte mich traurig, dass sie da drin leben musste und nicht wegfliegen und mit anderen Feen spielen konnte. Deshalb malte ich mir manchmal aus, wie ich die Spieluhr bis zum Anschlag aufziehen und »Flieg!« flüstern würde, und sie dann mit dem Tanzen aufhören und hoch in die Luft fliegen würde.
Ich hatte es allerdings nie ausprobiert, denn meine Mutter erlaubte mir grundsätzlich nicht, die Spieluhr anzufassen oder überhaupt nur in ihre Nähe zu kommen. Als ich älter wurde, begriff ich, dass die Ballerina nur eine Plastikpuppe war und dass sie auch dann nicht fortfliegen würde, wenn ich die Spieluhr bis zum Anschlag aufziehen und »Flieg!« flüstern würde. Irgendwie wollte ich es allerdings immer noch tun. Nur um sicherzugehen.
Na ja, während einer Werbepause von Happy Days atmete ich jedenfalls tief ein und war drauf und dran, meinen Eltern meine Bitte vorzutragen, als meine Mutter anfing zu weinen. Sie sagte: »Der liebe Gott hat Dawn zu sich geholt, weil er im Himmel noch einen Engel gebraucht hat.«
Ich stellte mir Dawn oben im Himmel vor - mit einem abgeschlagenen Vorderzahn von einem missglückten Fang des Tambourstabs und in einem weißen Ballerinenkostüm mit Flügeln auf dem Rücken. Sie stand auf einer hohen weißen Säule, und Gott blickte zu ihr auf, während sie ein Bein in die Luft hielt und in der anderen Hand ihren Tambourstab rotieren ließ.
Beim Gedanken daran starrte ich vor mich hin, und so fiel mein Blick auf ein Foto von Dawn an ihrem elften Geburtstag. Darauf hatte sie die Augen verbunden, trug ein rosafarbenes Tutu und versuchte, einen Schwanz an das Bild eines Esels zu heften. Ich wusste, dass es ihr elfter Geburtstag war, denn sie trug ein T-Shirt, auf dem stand: »Küss mich! Ich bin 1 1.«
Darüber musste ich lächeln, und ich nehme an, meine Mutter sah, dass ich das Bild anschaute und lächelte, anstatt sie anzuschauen.
Jedenfalls schrie sie mich an: »Don! Das ist wichtig. Hör zu, wenn wir mit dir sprechen. Dick, sag ihm, dass das wichtig ist.«
»Es ist wichtig«, sagte mein Vater, ohne mich anzusehen, und kratzte sich unter der Achsel.
Übersetzung: André Mumont
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Autoren-Porträt von Jacques Couvillon
Jacques Couvillon wuchs als jüngstes von acht Geschwistern in Cow Island, Louisiana, auf. In der Highschool war er Mitglied der Future Farmers of America, wo er und seine Freunde Pflanzen-, Hühner- und andere Wettbewerbe veranstalteten. Jacques Couvillon hat in New York gelebt, in der Schweiz und in Louisiana. Chicken Dance ist sein erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jacques Couvillon
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2011, 336 Seiten, Maße: 14,6 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Mumot, André
- Übersetzer: André Mumot
- Verlag: bloomoon
- ISBN-10: 3827054583
- ISBN-13: 9783827054586
Kommentar zu "Chicken Dance"
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