Cocoon - Die Lichtfängerin
Gefangen hinter Mauern wie aus Licht gesponnen, wagt sie den Kampf gegen die Tyrannei. Arras ist eine kalte, lichtdurchflutete Welt, deren Bewohnern jede Selbstbestimmung genommen wurde - selbst im Tod ist niemand frei. Nur wenige können hoffen, durch die...
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Produktinformationen zu „Cocoon - Die Lichtfängerin “
Klappentext zu „Cocoon - Die Lichtfängerin “
Gefangen hinter Mauern wie aus Licht gesponnen, wagt sie den Kampf gegen die Tyrannei. Arras ist eine kalte, lichtdurchflutete Welt, deren Bewohnern jede Selbstbestimmung genommen wurde - selbst im Tod ist niemand frei. Nur wenige können hoffen, durch die Gilde der Zwölf in den Heiligen Convent aufgenommen und damit für ein Leben in Luxus und Überfluss erwählt zu werden. Doch Adelice ahnt, dass das scheinbare Privileg in Wirklichkeit Verdammnis bedeutet, schließlich hat niemand den Convent je wieder verlassen - So versucht sie vergebens, ihre seltene Begabung zu verbergen. Denn gesegnet mit der Fähigkeit, das Gewebe des Lebens zu flechten, Schicksalsfäden miteinander zu verweben oder einzelne daraus zu entfernen, ist sie genau das, wonach die Gilde seit Langem sucht. Adelice kämpft um ihre Freiheit und das Leben ihrer Schwester und beginnt, die goldenen Fäden des Kokons zu zerreißen, der sie und die Menschen von Arras gefangen hält -
Lese-Probe zu „Cocoon - Die Lichtfängerin “
Cocoon - Die Lichtfängerin von Gennifer AlbinPROLOG
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Sie kamen in der Nacht. Früher wehrten sich die Familien, und die Nachbarn eilten ihnen zu Hilfe. Aber jetzt da Frieden herrscht und " die Allmacht der Webstühle bewiesen ist, beten Mädchen dafür, einberufen zu werden. Heute kommen sie nur noch deshalb nachts, weil sie den grabschenden Händen der Menge entgehen wollen. Eine Webjungfer zu berühren, bringt Glück. Zumindest erzählt man uns das.
Niemand weiß wirklich, warum einige Mädchen die Gabe besitzen. Natürlich gibt es Theorien. Dass sie vererbt wird. Oder dass kluge, aufgeschlossene Mädchen zu jeder Zeit das filigrane Webmuster des Lebens in der Welt um sich herum sehen können. Man sagt sogar, dass es ein Geschenk sei, das nur denen zuteilwird, die absolut reinen Herzens sind.
Aber ich weiß es besser. Es ist ein Fluch.
Seit meine Eltern gemerkt haben, dass ich über die Gabe verfüge, üben sie nachts mit mir. Sie lehrten mich, tollpatschig zu sein. Ich musste so lange mit Schüsseln und Krügen hantieren, bis es ganz natürlich aussah, wenn ich Wasser verschüttete oder etwas fallen ließ. Dann trainierten wir den Umgang mit dem Zeitgewebe. Meine Eltern ermutigten mich dazu, die seidigen Fäden mit geschickten Fingern aufzunehmen, nur um sie dann ineinander zu verheddern, bis sie verknotet und nutzlos herabhingen. Das war schwieriger als das Fallenlassen und Verschütten. Meine Finger wollten die zarten Fasern nahtlos mit der Materie verbinden. An meinem sechzehnten Geburtstag, als der Zeitpunkt für die Prüfungen gekommen war, verstellte ich mich so überzeugend, dass die anderen Mädchen zu tuscheln begannen. Wahrscheinlich würde man mich gleich wieder nach Hause schicken, flüsterten sie.
Unfähig.
Unbeholfen.
Untalentiert.
Vielleicht waren es die hinter meinem Rücken gezischten Bemerkungen, die wie feine Messerstiche meinen Entschluss schwächten. Oder das leise Lied des Übungswebstuhls, mit dem er mich anflehte, ihn zu berühren. Heute, am letzten Tag der Prüfungen, geriet ich schließlich ins Schwanken - meine Finger fädelten sich elegant durch die dahingleitenden Bande der Zeit.
Heute Nacht werden sie mich holen.
Eins
Ich kann die Tage zählen, bis der Sommer zu Ende geht, der Herbst in die Blätter kriecht und sie orange und braun färbt. Im Augenblick jedoch fällt mir das herrlich grün schimmernde Nachmittags-
licht warm auf das Gesicht. Mit so viel Sonne auf meiner Haut ist alles möglich. Wenn die Sonne erst einmal fort ist - unerbittlich und präzise befolgen die Jahreszeiten ihr Programm -, nehmen die Dinge ihren vorherbestimmten Gang. Wie eine Maschine. Wie ich.
Vor der Akademie meiner kleinen Schwester ist es ruhig. Außer mir wartet hier niemand darauf, dass die Mädchen herauskommen. Als die Prüfungen für mich begannen, hielt Amie ihren kleinen Finger hoch und ließ mich schwören, dass ich sie jeden Tag nach meiner Entlassung abholen würde. Mit dem Wissen, dass sie mich nun jederzeit einberufen und zu den Türmen des Konvents bringen können, fiel es mir nicht leicht, dieses Versprechen zu geben. Doch ich hielt es, sogar heute. Als Mädchen braucht man Halt, man muss sich auf etwas verlassen können. Auf das letzte Stück Schokolade der Monatsration, das gefällige Ende einer Sendung im Stream. Ich will, dass meine kleine Schwester sich an der Süße des Lebens freuen kann, auch wenn die Sommerhitze im Moment bitter schmeckt.
Eine Glocke läutet, und eine Flut von Mädchen in karierten Kleidern ergießt sich aus dem Gebäude. Die vollkommene Stille ist mit einem Mal von ihrem Kichern und Rufen erfüllt. Amie, die seit jeher mehr Freundinnen hat als ich, springt ins Freie, umringt von anderen heranwachsenden und entsprechend ungelenken Mädchen. Ich winke ihr, und sie eilt mir entgegen, greift meine Hand und zieht mich in Richtung unseres Zuhauses. Etwas an der Art, wie sie mich jeden Nachmittag eifrig begrüßt, tröstet mich darüber hinweg, dass ich wenige Freundinnen in meinem Alter habe.
»Hast du es geschafft?«, fragt sie mit atemloser Stimme, während sie vor mir her hüpft.
Ich zögere einen Moment. Wenn jemand sich über meinen Fehler freuen wird, dann Amie. Sobald ich ihr die Wahrheit sage, wird sie vor Freude quietschen und in die Hände klatschen. Sie wird mich umarmen, und vielleicht kann ich von ihrer Freude zehren, mich damit anfüllen und mir einreden, dass alles gut werden wird.
»Nein«, antworte ich, und sie macht ein langes Gesicht.
»Ist schon in Ordnung«, sagt sie mit entschlossenem Nicken. »Wenigstens kannst du so in Romen bleiben. Bei mir.«
Ich würde gern so tun, als ob sie recht hätte und dem Geplapper der Zwölfjährigen lauschen, anstatt dem, was mich erwartet, ins Gesicht zu sehen. Ich werde den Rest meines Lebens eine Webjungfer sein, aber nur noch eine Nacht lang ihre Schwester. Ich sage an den richtigen Stellen »Oh« und »Ah«, damit sie glaubt, dass ich zuhöre. Ich stelle mir vor, dass mein Interesse sie aufbaut und stärkt, sodass sie, wenn ich weg bin, nicht ihr ganzes Leben mit der Suche nach Aufmerksamkeit verschwendet.
Amies Unterricht ist zur selben Zeit zu Ende wie die Tagesschicht in der Metro, weshalb Mama bei unserer Ankunft schon zu Hause ist. Sie sitzt in der Küche, und ihr Kopf zuckt hoch, als wir eintreten. Ihr Blick sucht meinen. Ich atme durch und schüttle den Kopf, und sie lässt erleichtert ihre vor Anspannung hochgezogenen Schultern sacken. Ich lasse mich von ihr so lange im Arm halten, wie sie will, die Umarmung erfüllt mich mit Liebe. Deshalb sage ich ihnen nicht die Wahrheit. Ich will mich an ihre Liebe erinnern, nicht an ihre Aufregung oder Sorge.
Mama streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie lächelt nicht. Zwar glaubt sie, dass ich bei den Prüfungen durchgefallen bin, aber sie weiß, dass meine Zeit hier trotzdem fast abgelaufen ist. Man wird mir bald eine Rolle zuteilen und mich kurz danach verheiraten, selbst wenn man mich nicht fortbringt. Welchen Sinn hätte es, ihr zu sagen, dass sie mich noch heute Nacht verlieren wird? Es ist im Moment nicht wichtig, und dieser Moment ist es, worauf es ankommt.
Es ist ein ganz normaler Abend an unserem ganz normalen Tisch, und außer dem etwas übergarten Schmorbraten - Mamas Spezialität für ganz besondere Anlässe - ist nicht viel anders als sonst, zumindest nicht für meine Familie. Die Standuhr tickt im Flur, draußen zirpen Zikaden, ein Motopakt rumpelt unten auf der Straße, und die Dämmerung wird schon bald der Nacht weichen. Es ist ein Abend wie hundert andere, aber heute werde ich nicht im Schutz der Dunkelheit zum Zimmer meiner Eltern schleichen. Das Ende der Prüfungen bedeutet auch das Ende des Trainings.
Ich wohne mit meinen Eltern in einem kleinen Vororthäuschen am Rande von Romen. Hier hat man ihnen zwei Kinder und ein angemessen großes Haus zugewiesen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie sich für ein weiteres Kind bewarben, als ich acht war - also bevor sie die Gabe bei mir entdeckten -, das jedoch nicht bewilligt wurde. Die hohen Versorgungskosten für jeden einzelnen Menschen erfordern, dass die Gilde die Bevölkerung reguliert. All dies erklärte meine Mutter mir eines Morgens ganz beiläufig, während sie ihre Haare für die Arbeit hochsteckte. Ich hatte mir einen Bruder gewünscht. Sie warteten, bis ich älter war, um mir klarzumachen, dass das aufgrund der Geschlechtertrennung ohnehin unmöglich gewesen wäre, aber trotzdem fühlte ich mich gedemütigt. Ich stochere in meinem Essen herum. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich ein Junge wäre, oder wenn meine Schwester ein Junge wäre. Ich wette, dass meine Eltern auch lieber Jungs gehabt hätten. Dann müssten sie sich keine Sorgen machen, dass man uns ihnen wegnehmen könnte.
»Adelice«, sagt meine Mutter ruhig, »du isst gar nichts. Die Prüfung ist vorbei. Ich dachte, da hättest du etwas mehr Appetit.«
Sie ist sehr gut darin, äußerlich ruhig zu wirken. Aber manchmal frage ich mich, ob die Schminke, die sie Schicht für Schicht aufträgt, bis ihre Wangen seidig rosa schimmern und ihre Lippen glänzen, nur ein Trick ist, um ihr inneres Gleichgewicht zu wahren. Bei ihr sieht das alles ganz leicht aus - die Kosmetik, das perfekt frisierte dunkelrote Haar und das Businesskostüm. Äußerlich ist sie genau das, was man von einer Frau erwartet: schön, gepflegt, folgsam. Ich wusste nicht, dass sie noch eine andere Seite hat, bis ich elf war. Das war das Jahr, in dem sie und mein Vater begannen, meinen Fingern das Versagen anzutrainieren.
»Alles okay.« Meine Stimme klingt ausdruckslos und wenig überzeugend, und ich wünsche mir ein perfekt angemaltes Gesicht, um mich dahinter zu verstecken. Von Mädchen erwartet man, dass sie rein und natürlich bleiben - körperlich und in ihrem Erscheinungsbild -, bis sie offiziell aus dem Prüfverfahren entlassen werden. Reinheitsstandards sollen sicherstellen, dass Mädchen, die weben können, diese Gabe nicht durch einen promisken Lebensstil verlieren. Einige meiner Klassenkameradinnen sehen in dieser Phase genauso schön wie meine Mutter aus - delikat und hellhäutig. Ich bin zu blass. Meine Haut sieht im Kontrast zu meinem erdbeerroten Haar ausgewaschen aus. Wenn ich so leuchtendes Haar wie meine Mutter hätte, oder goldenes wie das von Amie. Aber meins ist glanzlos wie eine schmutzige Münze.
»Deine Mutter hat ein besonderes Abendessen für uns gekocht«, wirft mein Vater ein. Sein Tonfall ist freundlich, aber ich weiß, was er mir sagen will: Ich verschwende Essen.
Ich fühle mich schuldig, als ich auf die Kartoffeln und den vertrockneten Schmorbraten starre. Vermutlich sind zwei ganze Abendrationen in dieses Essen gewandert, und dann ist da auch noch der Kuchen.
Es ist ein großer Kuchen mit Zuckerguss. Er kommt aus einer Konditorei. Die kleinen Kuchen, die meine Mutter uns sonst immer zum Geburtstag backt, kommen bei Weitem nicht an dieses kunstvolle weiße, mit zuckrigen Blumen und Rüschen versehene Gebilde heran. Zweifellos hat es uns eine weitere halbe Wochenration gekostet, und wahrscheinlich werden sie ihn nun den Rest der Woche zum Frühstück essen, bis die nächsten Rationen ausgeteilt werden. Der Anblick der zarten weißen Bordüren an den Kuchenrändern dreht mir den Magen um. Ich bin Süßigkeiten nicht gewohnt, und Hunger habe ich sowieso nicht. Ein paar Happen Fleisch kriege ich mit Mühe und Not herunter.
»Genau so einen Kuchen will ich zu meinem Geburtstag«, sprudelt es aus Amie hervor. Sie hat noch niemals vorher einen Konditoreikuchen gegessen. Als Amie heute aus der Akademie nach Hause kam und den hier sah, sagte meine Mutter, sie könne einen zu ihrem nächsten Geburtstag haben. Eine große Sache für ein Mädchen, das sein ganzes Leben lang nur die abgelegten Sachen seiner älteren Schwester getragen hat. Offenbar will meine Mutter ihr den Übergang in das Training möglichst angenehm gestalten.
»Er wird wohl ein bisschen kleiner sein müssen«, erinnert Mama sie, »und du bekommst nichts von diesem hier, wenn du nicht erst dein Abendessen isst.«
Unwillkürlich grinse ich, als Amie die Augen aufreißt und anfängt, Essen in sich hineinzuschaufeln. Sie schluckt schwer an den großen Bissen. Mama nennt sie »eine Esserin«. Ich wünschte, ich könnte so essen wie sie, wenn ich aufgeregt, angespannt oder traurig bin. Aber Aufregung tötet meinen Appetit, und die Tatsache, dass dies das letzte Abendessen ist, das ich jemals mit meiner Familie einnehmen werde, hilft auch nicht.
»Hast du das für Adelice gekauft?«, fragt Amie zwischen den Bissen, sodass man dabei das zerkaute Essen sehen kann.
»Mach den Mund zu, wenn du isst«, sagt mein Vater, aber ich sehe, dass seine Mundwinkel belustigt zucken.
»Ja, Adelice verdient heute was Besonderes.« Die Stimme meiner Mutter ist ruhig, aber ihr Gesicht strahlt, und ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. »Das wollte ich gern feiern.«
»Die Schwester von Marfa Crossix ist letzte Woche heulend von ihren Prüfungen zurückgekommen und hat seitdem ihr Zimmer nicht mehr verlassen«, erzählt Amie nach dem Schlucken weiter. »Marfa hat gesagt, es wäre, als ob jemand gestorben sei. Alle sind so traurig. Ihre Eltern machen schon Kennenlern-Termine aus, um sie aufzuheitern. Sie hat einen Termin mit so ziemlich jedem Jungen in Romen, der für eine Hochzeit infrage kommt.«
Amie lacht, doch wir anderen verstummen. Ich starre auf die verschnörkelte Kuchenbordüre und versuche, das Muster zu erkennen. Vom stillen Widerstand meiner Eltern gegen die Heiratsgesetze und das von der Gilde vorgegebene Kurrikulum ahnt Amie nichts, aber ihr gegenüber waren sie auch nicht offen. Ich dagegen bin alt genug, um zu verstehen, warum sie nicht wollen, dass ich eine Webjungfer werde. Aber auch vor mir passen sie immer auf, was sie sagen.
Mein Vater räuspert sich und sieht meine Mutter Hilfe suchend an. »Manche Mädchen wollen wirklich gern in den Konvent. Marfas Schwester muss enttäuscht sein.«
»Das wäre ich auch«, trällert Amie und schaufelt sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund. »Sie haben uns an der Akademie Bilder gezeigt. Webjungfern sind so schön, und sie haben alles.«
»Da hast du wohl recht«, murmelt Mama und schneidet mit präzisen Schnitten ihr Fleisch in kleine Stückchen.
»Ich freue mich so auf die Prüfungen.« Als Amy verträumt seufzt, schaut meine Mutter sie finster an, doch Amie ist zu hingerissen, um es zu bemerken.
»Diesen Mädchen geht es sehr gut, aber wenn Adelice berufen worden wäre, würden wir sie nie wiedersehen«, erklärt Mama bedachtsam. Meine Eltern beginnen bereits damit, Zweifel in Amie zu säen, aber weil meine kleine Schwester freimütig mit allen über alles plaudert, was ihr gerade in den Sinn kommt, kann man ihr die wichtigen Sachen meistens nicht sagen. Dabei höre ich gern zu, wenn Amie von ihren Klassenkameradinnen erzählt oder von den Sendungen, die sie im Stream gesehen hat. Das entspannt mich vor den nächtlichen Übungen, bei denen ich lerne, was ich sagen darf und was nicht. Wenn ich mich vor dem Einschlafen an meine Schwester kuschle, ist das der einzige Moment, in dem ich mich wirklich normal fühle.
Aber auch ein Kuchen macht nur für einen Abend glücklich. Meine Eltern haben ein hartes Stück Arbeit vor sich, wenn sie Amie darauf vorbereiten wollen, bei den Prüfungen durchzufallen. Sie hat nie auch nur das kleinste bisschen Begabung fürs Weben gezeigt, aber sie werden trotzdem mit ihr üben. Ich frage mich, ob sie in vier Jahren, wenn sie dran ist, immer noch so scharf darauf sein wird, zu gehen.
»Marfa sagt, wenn sie eine Webjungfer wird, dann wird ihr Foto immer auf der Titelseite des Bulletins sein, sodass ihre Eltern sich keine Sorgen machen müssen. So würde ich das auch machen«, erklärt sie mit gewichtiger Miene, als habe sie alles sorgfältig durchdacht.
Mama lächelt, gibt jedoch keine Antwort. Wie die meisten Mädchen in ihrem Alter gerät Amie angesichts der Hochglanzbilder im Bulletin immer ins Schwärmen, aber eigentlich versteht sie nicht, was Webjungfern machen. Natürlich weiß sie, dass sie die Materie unserer Welt erhalten und gestalten. Jedes Mädchen lernt das ziemlich früh in der Akademie. Aber eines Tages werden meine Eltern ihr erklären, was Webjungfern wirklich tun - dass, egal wie gut man es auch meint, mit absoluter Macht immer auch Korruption einhergeht. Und die Gilde hat die absolute Macht über uns und die Webjungfern. Aber sie ernährt und beschützt uns auch. Ich höre zwar auf meine Eltern, aber eigentlich verstehe ich es nicht ganz. Kann es denn so schlecht sein, für andere zu sorgen, ihnen Nahrung und Sicherheit zu geben? Ich weiß nur, dass das, was mit mir passiert, ihnen das Herz brechen wird. Wenn ich erst einmal weg bin, werde ich nie wieder jemandem mitteilen können, dass es mir gut geht. Wahrscheinlich werde ich auch mein Bild im Bulletin abdrucken lassen, so wie Marfa Crossix.
Schweigend essen wir weiter - alle starren auf das weiße, schaumige Ding in unserer Mitte. Der kleine Esstisch aus Eichenholz hat genau die richtige Größe für vier Leute, wir können einander Schüsseln und Teller reichen, aber heute trägt meine Mutter auf, weil neben dem Kuchen nichts mehr auf den Tisch passt.
Ich beneide Amie um das Leuchten in ihren Augen, während sie den Kuchen betrachtet. Vermutlich stellt sie sich vor, wie er schmeckt, oder wie ihr eigener Geburtstagskuchen aussehen soll. Meine Eltern hingegen sitzen in stummer Erleichterung da, mehr Feierstimmung können sie nicht aufbringen.
»Es tut mir leid, dass du durchgefallen bist, Ad.« Amie schaut hoch zu mir. Ihr sehnsuchtsvoller Blick kehrt zu dem Kuchen zurück.
»Adelice hat nicht versagt«, wirft mein Vater ein.
»Aber sie wurde doch nicht berufen.«
»Wir wollten auch nicht, dass sie berufen wird«, erklärt meine Mutter. »Wolltest du berufen werden, Ad?«, fragt Amie ernsthaft und unschuldig.
Ich deute ein Kopfschütteln an.
»Aber warum denn nicht?«, fragt Amie.
»Willst du etwa so ein Leben?«, fragt meine Mutter sie ruhig.
»Was habt ihr denn gegen Webjungfern? Ich verstehe nicht, wieso wir überhaupt feiern.« Amie hält den Blick auf den Kuchen gerichtet. So unverblümt ist sie uns gegenüber noch nie gewesen.
»Wir sind nicht gegen die Webjungfernschaft«, beeilt sich meine Mutter zu sagen.
»Oder die Gilde«, fügt Papa hinzu.
»Oder die Gilde«, wiederholt Mama mit einem Nicken. »Aber wenn du die Prüfungen bestehst, kannst du nie wieder hierher zurückkommen.«
Hier - dieses beengte Haus im Mädchenviertel, mit vier Zimmern, Küche und Bad, in dem ich abgeschirmt von gleichaltrigen Jungs aufgewachsen bin. Mein Zuhause, in dem die Bücher hinter der Wandverkleidung versteckt werden, genau wie die Familienerbstücke, die seit fast hundert Jahren von Mutter zu Tochter weitergegeben werden. Besonders das Radio habe ich immer gemocht, obwohl es nicht mehr funktioniert. Mama sagt, dass es einmal Musik gespielt, Geschichten erzählt und Nachrichten gesendet hat, so wie der Stream heute, aber ohne Bilder. Als ich gefragt habe, warum wir es aufheben, obwohl es doch nicht mehr von Nutzen ist, antwortete sie, dass das Erinnern niemals nutzlos wäre.
Sie kamen in der Nacht. Früher wehrten sich die Familien, und die Nachbarn eilten ihnen zu Hilfe. Aber jetzt da Frieden herrscht und " die Allmacht der Webstühle bewiesen ist, beten Mädchen dafür, einberufen zu werden. Heute kommen sie nur noch deshalb nachts, weil sie den grabschenden Händen der Menge entgehen wollen. Eine Webjungfer zu berühren, bringt Glück. Zumindest erzählt man uns das.
Niemand weiß wirklich, warum einige Mädchen die Gabe besitzen. Natürlich gibt es Theorien. Dass sie vererbt wird. Oder dass kluge, aufgeschlossene Mädchen zu jeder Zeit das filigrane Webmuster des Lebens in der Welt um sich herum sehen können. Man sagt sogar, dass es ein Geschenk sei, das nur denen zuteilwird, die absolut reinen Herzens sind.
Aber ich weiß es besser. Es ist ein Fluch.
Seit meine Eltern gemerkt haben, dass ich über die Gabe verfüge, üben sie nachts mit mir. Sie lehrten mich, tollpatschig zu sein. Ich musste so lange mit Schüsseln und Krügen hantieren, bis es ganz natürlich aussah, wenn ich Wasser verschüttete oder etwas fallen ließ. Dann trainierten wir den Umgang mit dem Zeitgewebe. Meine Eltern ermutigten mich dazu, die seidigen Fäden mit geschickten Fingern aufzunehmen, nur um sie dann ineinander zu verheddern, bis sie verknotet und nutzlos herabhingen. Das war schwieriger als das Fallenlassen und Verschütten. Meine Finger wollten die zarten Fasern nahtlos mit der Materie verbinden. An meinem sechzehnten Geburtstag, als der Zeitpunkt für die Prüfungen gekommen war, verstellte ich mich so überzeugend, dass die anderen Mädchen zu tuscheln begannen. Wahrscheinlich würde man mich gleich wieder nach Hause schicken, flüsterten sie.
Unfähig.
Unbeholfen.
Untalentiert.
Vielleicht waren es die hinter meinem Rücken gezischten Bemerkungen, die wie feine Messerstiche meinen Entschluss schwächten. Oder das leise Lied des Übungswebstuhls, mit dem er mich anflehte, ihn zu berühren. Heute, am letzten Tag der Prüfungen, geriet ich schließlich ins Schwanken - meine Finger fädelten sich elegant durch die dahingleitenden Bande der Zeit.
Heute Nacht werden sie mich holen.
Eins
Ich kann die Tage zählen, bis der Sommer zu Ende geht, der Herbst in die Blätter kriecht und sie orange und braun färbt. Im Augenblick jedoch fällt mir das herrlich grün schimmernde Nachmittags-
licht warm auf das Gesicht. Mit so viel Sonne auf meiner Haut ist alles möglich. Wenn die Sonne erst einmal fort ist - unerbittlich und präzise befolgen die Jahreszeiten ihr Programm -, nehmen die Dinge ihren vorherbestimmten Gang. Wie eine Maschine. Wie ich.
Vor der Akademie meiner kleinen Schwester ist es ruhig. Außer mir wartet hier niemand darauf, dass die Mädchen herauskommen. Als die Prüfungen für mich begannen, hielt Amie ihren kleinen Finger hoch und ließ mich schwören, dass ich sie jeden Tag nach meiner Entlassung abholen würde. Mit dem Wissen, dass sie mich nun jederzeit einberufen und zu den Türmen des Konvents bringen können, fiel es mir nicht leicht, dieses Versprechen zu geben. Doch ich hielt es, sogar heute. Als Mädchen braucht man Halt, man muss sich auf etwas verlassen können. Auf das letzte Stück Schokolade der Monatsration, das gefällige Ende einer Sendung im Stream. Ich will, dass meine kleine Schwester sich an der Süße des Lebens freuen kann, auch wenn die Sommerhitze im Moment bitter schmeckt.
Eine Glocke läutet, und eine Flut von Mädchen in karierten Kleidern ergießt sich aus dem Gebäude. Die vollkommene Stille ist mit einem Mal von ihrem Kichern und Rufen erfüllt. Amie, die seit jeher mehr Freundinnen hat als ich, springt ins Freie, umringt von anderen heranwachsenden und entsprechend ungelenken Mädchen. Ich winke ihr, und sie eilt mir entgegen, greift meine Hand und zieht mich in Richtung unseres Zuhauses. Etwas an der Art, wie sie mich jeden Nachmittag eifrig begrüßt, tröstet mich darüber hinweg, dass ich wenige Freundinnen in meinem Alter habe.
»Hast du es geschafft?«, fragt sie mit atemloser Stimme, während sie vor mir her hüpft.
Ich zögere einen Moment. Wenn jemand sich über meinen Fehler freuen wird, dann Amie. Sobald ich ihr die Wahrheit sage, wird sie vor Freude quietschen und in die Hände klatschen. Sie wird mich umarmen, und vielleicht kann ich von ihrer Freude zehren, mich damit anfüllen und mir einreden, dass alles gut werden wird.
»Nein«, antworte ich, und sie macht ein langes Gesicht.
»Ist schon in Ordnung«, sagt sie mit entschlossenem Nicken. »Wenigstens kannst du so in Romen bleiben. Bei mir.«
Ich würde gern so tun, als ob sie recht hätte und dem Geplapper der Zwölfjährigen lauschen, anstatt dem, was mich erwartet, ins Gesicht zu sehen. Ich werde den Rest meines Lebens eine Webjungfer sein, aber nur noch eine Nacht lang ihre Schwester. Ich sage an den richtigen Stellen »Oh« und »Ah«, damit sie glaubt, dass ich zuhöre. Ich stelle mir vor, dass mein Interesse sie aufbaut und stärkt, sodass sie, wenn ich weg bin, nicht ihr ganzes Leben mit der Suche nach Aufmerksamkeit verschwendet.
Amies Unterricht ist zur selben Zeit zu Ende wie die Tagesschicht in der Metro, weshalb Mama bei unserer Ankunft schon zu Hause ist. Sie sitzt in der Küche, und ihr Kopf zuckt hoch, als wir eintreten. Ihr Blick sucht meinen. Ich atme durch und schüttle den Kopf, und sie lässt erleichtert ihre vor Anspannung hochgezogenen Schultern sacken. Ich lasse mich von ihr so lange im Arm halten, wie sie will, die Umarmung erfüllt mich mit Liebe. Deshalb sage ich ihnen nicht die Wahrheit. Ich will mich an ihre Liebe erinnern, nicht an ihre Aufregung oder Sorge.
Mama streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie lächelt nicht. Zwar glaubt sie, dass ich bei den Prüfungen durchgefallen bin, aber sie weiß, dass meine Zeit hier trotzdem fast abgelaufen ist. Man wird mir bald eine Rolle zuteilen und mich kurz danach verheiraten, selbst wenn man mich nicht fortbringt. Welchen Sinn hätte es, ihr zu sagen, dass sie mich noch heute Nacht verlieren wird? Es ist im Moment nicht wichtig, und dieser Moment ist es, worauf es ankommt.
Es ist ein ganz normaler Abend an unserem ganz normalen Tisch, und außer dem etwas übergarten Schmorbraten - Mamas Spezialität für ganz besondere Anlässe - ist nicht viel anders als sonst, zumindest nicht für meine Familie. Die Standuhr tickt im Flur, draußen zirpen Zikaden, ein Motopakt rumpelt unten auf der Straße, und die Dämmerung wird schon bald der Nacht weichen. Es ist ein Abend wie hundert andere, aber heute werde ich nicht im Schutz der Dunkelheit zum Zimmer meiner Eltern schleichen. Das Ende der Prüfungen bedeutet auch das Ende des Trainings.
Ich wohne mit meinen Eltern in einem kleinen Vororthäuschen am Rande von Romen. Hier hat man ihnen zwei Kinder und ein angemessen großes Haus zugewiesen. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie sich für ein weiteres Kind bewarben, als ich acht war - also bevor sie die Gabe bei mir entdeckten -, das jedoch nicht bewilligt wurde. Die hohen Versorgungskosten für jeden einzelnen Menschen erfordern, dass die Gilde die Bevölkerung reguliert. All dies erklärte meine Mutter mir eines Morgens ganz beiläufig, während sie ihre Haare für die Arbeit hochsteckte. Ich hatte mir einen Bruder gewünscht. Sie warteten, bis ich älter war, um mir klarzumachen, dass das aufgrund der Geschlechtertrennung ohnehin unmöglich gewesen wäre, aber trotzdem fühlte ich mich gedemütigt. Ich stochere in meinem Essen herum. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich ein Junge wäre, oder wenn meine Schwester ein Junge wäre. Ich wette, dass meine Eltern auch lieber Jungs gehabt hätten. Dann müssten sie sich keine Sorgen machen, dass man uns ihnen wegnehmen könnte.
»Adelice«, sagt meine Mutter ruhig, »du isst gar nichts. Die Prüfung ist vorbei. Ich dachte, da hättest du etwas mehr Appetit.«
Sie ist sehr gut darin, äußerlich ruhig zu wirken. Aber manchmal frage ich mich, ob die Schminke, die sie Schicht für Schicht aufträgt, bis ihre Wangen seidig rosa schimmern und ihre Lippen glänzen, nur ein Trick ist, um ihr inneres Gleichgewicht zu wahren. Bei ihr sieht das alles ganz leicht aus - die Kosmetik, das perfekt frisierte dunkelrote Haar und das Businesskostüm. Äußerlich ist sie genau das, was man von einer Frau erwartet: schön, gepflegt, folgsam. Ich wusste nicht, dass sie noch eine andere Seite hat, bis ich elf war. Das war das Jahr, in dem sie und mein Vater begannen, meinen Fingern das Versagen anzutrainieren.
»Alles okay.« Meine Stimme klingt ausdruckslos und wenig überzeugend, und ich wünsche mir ein perfekt angemaltes Gesicht, um mich dahinter zu verstecken. Von Mädchen erwartet man, dass sie rein und natürlich bleiben - körperlich und in ihrem Erscheinungsbild -, bis sie offiziell aus dem Prüfverfahren entlassen werden. Reinheitsstandards sollen sicherstellen, dass Mädchen, die weben können, diese Gabe nicht durch einen promisken Lebensstil verlieren. Einige meiner Klassenkameradinnen sehen in dieser Phase genauso schön wie meine Mutter aus - delikat und hellhäutig. Ich bin zu blass. Meine Haut sieht im Kontrast zu meinem erdbeerroten Haar ausgewaschen aus. Wenn ich so leuchtendes Haar wie meine Mutter hätte, oder goldenes wie das von Amie. Aber meins ist glanzlos wie eine schmutzige Münze.
»Deine Mutter hat ein besonderes Abendessen für uns gekocht«, wirft mein Vater ein. Sein Tonfall ist freundlich, aber ich weiß, was er mir sagen will: Ich verschwende Essen.
Ich fühle mich schuldig, als ich auf die Kartoffeln und den vertrockneten Schmorbraten starre. Vermutlich sind zwei ganze Abendrationen in dieses Essen gewandert, und dann ist da auch noch der Kuchen.
Es ist ein großer Kuchen mit Zuckerguss. Er kommt aus einer Konditorei. Die kleinen Kuchen, die meine Mutter uns sonst immer zum Geburtstag backt, kommen bei Weitem nicht an dieses kunstvolle weiße, mit zuckrigen Blumen und Rüschen versehene Gebilde heran. Zweifellos hat es uns eine weitere halbe Wochenration gekostet, und wahrscheinlich werden sie ihn nun den Rest der Woche zum Frühstück essen, bis die nächsten Rationen ausgeteilt werden. Der Anblick der zarten weißen Bordüren an den Kuchenrändern dreht mir den Magen um. Ich bin Süßigkeiten nicht gewohnt, und Hunger habe ich sowieso nicht. Ein paar Happen Fleisch kriege ich mit Mühe und Not herunter.
»Genau so einen Kuchen will ich zu meinem Geburtstag«, sprudelt es aus Amie hervor. Sie hat noch niemals vorher einen Konditoreikuchen gegessen. Als Amie heute aus der Akademie nach Hause kam und den hier sah, sagte meine Mutter, sie könne einen zu ihrem nächsten Geburtstag haben. Eine große Sache für ein Mädchen, das sein ganzes Leben lang nur die abgelegten Sachen seiner älteren Schwester getragen hat. Offenbar will meine Mutter ihr den Übergang in das Training möglichst angenehm gestalten.
»Er wird wohl ein bisschen kleiner sein müssen«, erinnert Mama sie, »und du bekommst nichts von diesem hier, wenn du nicht erst dein Abendessen isst.«
Unwillkürlich grinse ich, als Amie die Augen aufreißt und anfängt, Essen in sich hineinzuschaufeln. Sie schluckt schwer an den großen Bissen. Mama nennt sie »eine Esserin«. Ich wünschte, ich könnte so essen wie sie, wenn ich aufgeregt, angespannt oder traurig bin. Aber Aufregung tötet meinen Appetit, und die Tatsache, dass dies das letzte Abendessen ist, das ich jemals mit meiner Familie einnehmen werde, hilft auch nicht.
»Hast du das für Adelice gekauft?«, fragt Amie zwischen den Bissen, sodass man dabei das zerkaute Essen sehen kann.
»Mach den Mund zu, wenn du isst«, sagt mein Vater, aber ich sehe, dass seine Mundwinkel belustigt zucken.
»Ja, Adelice verdient heute was Besonderes.« Die Stimme meiner Mutter ist ruhig, aber ihr Gesicht strahlt, und ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. »Das wollte ich gern feiern.«
»Die Schwester von Marfa Crossix ist letzte Woche heulend von ihren Prüfungen zurückgekommen und hat seitdem ihr Zimmer nicht mehr verlassen«, erzählt Amie nach dem Schlucken weiter. »Marfa hat gesagt, es wäre, als ob jemand gestorben sei. Alle sind so traurig. Ihre Eltern machen schon Kennenlern-Termine aus, um sie aufzuheitern. Sie hat einen Termin mit so ziemlich jedem Jungen in Romen, der für eine Hochzeit infrage kommt.«
Amie lacht, doch wir anderen verstummen. Ich starre auf die verschnörkelte Kuchenbordüre und versuche, das Muster zu erkennen. Vom stillen Widerstand meiner Eltern gegen die Heiratsgesetze und das von der Gilde vorgegebene Kurrikulum ahnt Amie nichts, aber ihr gegenüber waren sie auch nicht offen. Ich dagegen bin alt genug, um zu verstehen, warum sie nicht wollen, dass ich eine Webjungfer werde. Aber auch vor mir passen sie immer auf, was sie sagen.
Mein Vater räuspert sich und sieht meine Mutter Hilfe suchend an. »Manche Mädchen wollen wirklich gern in den Konvent. Marfas Schwester muss enttäuscht sein.«
»Das wäre ich auch«, trällert Amie und schaufelt sich eine Gabel Kartoffeln in den Mund. »Sie haben uns an der Akademie Bilder gezeigt. Webjungfern sind so schön, und sie haben alles.«
»Da hast du wohl recht«, murmelt Mama und schneidet mit präzisen Schnitten ihr Fleisch in kleine Stückchen.
»Ich freue mich so auf die Prüfungen.« Als Amy verträumt seufzt, schaut meine Mutter sie finster an, doch Amie ist zu hingerissen, um es zu bemerken.
»Diesen Mädchen geht es sehr gut, aber wenn Adelice berufen worden wäre, würden wir sie nie wiedersehen«, erklärt Mama bedachtsam. Meine Eltern beginnen bereits damit, Zweifel in Amie zu säen, aber weil meine kleine Schwester freimütig mit allen über alles plaudert, was ihr gerade in den Sinn kommt, kann man ihr die wichtigen Sachen meistens nicht sagen. Dabei höre ich gern zu, wenn Amie von ihren Klassenkameradinnen erzählt oder von den Sendungen, die sie im Stream gesehen hat. Das entspannt mich vor den nächtlichen Übungen, bei denen ich lerne, was ich sagen darf und was nicht. Wenn ich mich vor dem Einschlafen an meine Schwester kuschle, ist das der einzige Moment, in dem ich mich wirklich normal fühle.
Aber auch ein Kuchen macht nur für einen Abend glücklich. Meine Eltern haben ein hartes Stück Arbeit vor sich, wenn sie Amie darauf vorbereiten wollen, bei den Prüfungen durchzufallen. Sie hat nie auch nur das kleinste bisschen Begabung fürs Weben gezeigt, aber sie werden trotzdem mit ihr üben. Ich frage mich, ob sie in vier Jahren, wenn sie dran ist, immer noch so scharf darauf sein wird, zu gehen.
»Marfa sagt, wenn sie eine Webjungfer wird, dann wird ihr Foto immer auf der Titelseite des Bulletins sein, sodass ihre Eltern sich keine Sorgen machen müssen. So würde ich das auch machen«, erklärt sie mit gewichtiger Miene, als habe sie alles sorgfältig durchdacht.
Mama lächelt, gibt jedoch keine Antwort. Wie die meisten Mädchen in ihrem Alter gerät Amie angesichts der Hochglanzbilder im Bulletin immer ins Schwärmen, aber eigentlich versteht sie nicht, was Webjungfern machen. Natürlich weiß sie, dass sie die Materie unserer Welt erhalten und gestalten. Jedes Mädchen lernt das ziemlich früh in der Akademie. Aber eines Tages werden meine Eltern ihr erklären, was Webjungfern wirklich tun - dass, egal wie gut man es auch meint, mit absoluter Macht immer auch Korruption einhergeht. Und die Gilde hat die absolute Macht über uns und die Webjungfern. Aber sie ernährt und beschützt uns auch. Ich höre zwar auf meine Eltern, aber eigentlich verstehe ich es nicht ganz. Kann es denn so schlecht sein, für andere zu sorgen, ihnen Nahrung und Sicherheit zu geben? Ich weiß nur, dass das, was mit mir passiert, ihnen das Herz brechen wird. Wenn ich erst einmal weg bin, werde ich nie wieder jemandem mitteilen können, dass es mir gut geht. Wahrscheinlich werde ich auch mein Bild im Bulletin abdrucken lassen, so wie Marfa Crossix.
Schweigend essen wir weiter - alle starren auf das weiße, schaumige Ding in unserer Mitte. Der kleine Esstisch aus Eichenholz hat genau die richtige Größe für vier Leute, wir können einander Schüsseln und Teller reichen, aber heute trägt meine Mutter auf, weil neben dem Kuchen nichts mehr auf den Tisch passt.
Ich beneide Amie um das Leuchten in ihren Augen, während sie den Kuchen betrachtet. Vermutlich stellt sie sich vor, wie er schmeckt, oder wie ihr eigener Geburtstagskuchen aussehen soll. Meine Eltern hingegen sitzen in stummer Erleichterung da, mehr Feierstimmung können sie nicht aufbringen.
»Es tut mir leid, dass du durchgefallen bist, Ad.« Amie schaut hoch zu mir. Ihr sehnsuchtsvoller Blick kehrt zu dem Kuchen zurück.
»Adelice hat nicht versagt«, wirft mein Vater ein.
»Aber sie wurde doch nicht berufen.«
»Wir wollten auch nicht, dass sie berufen wird«, erklärt meine Mutter. »Wolltest du berufen werden, Ad?«, fragt Amie ernsthaft und unschuldig.
Ich deute ein Kopfschütteln an.
»Aber warum denn nicht?«, fragt Amie.
»Willst du etwa so ein Leben?«, fragt meine Mutter sie ruhig.
»Was habt ihr denn gegen Webjungfern? Ich verstehe nicht, wieso wir überhaupt feiern.« Amie hält den Blick auf den Kuchen gerichtet. So unverblümt ist sie uns gegenüber noch nie gewesen.
»Wir sind nicht gegen die Webjungfernschaft«, beeilt sich meine Mutter zu sagen.
»Oder die Gilde«, fügt Papa hinzu.
»Oder die Gilde«, wiederholt Mama mit einem Nicken. »Aber wenn du die Prüfungen bestehst, kannst du nie wieder hierher zurückkommen.«
Hier - dieses beengte Haus im Mädchenviertel, mit vier Zimmern, Küche und Bad, in dem ich abgeschirmt von gleichaltrigen Jungs aufgewachsen bin. Mein Zuhause, in dem die Bücher hinter der Wandverkleidung versteckt werden, genau wie die Familienerbstücke, die seit fast hundert Jahren von Mutter zu Tochter weitergegeben werden. Besonders das Radio habe ich immer gemocht, obwohl es nicht mehr funktioniert. Mama sagt, dass es einmal Musik gespielt, Geschichten erzählt und Nachrichten gesendet hat, so wie der Stream heute, aber ohne Bilder. Als ich gefragt habe, warum wir es aufheben, obwohl es doch nicht mehr von Nutzen ist, antwortete sie, dass das Erinnern niemals nutzlos wäre.
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Autoren-Porträt von Gennifer Albin
Gennifer Albin mag Kaffee. VIEL Kaffee. Und Schreiben bietet ihr die Möglichkeit, in Ruhe eine Tasse zu trinken, ohne von ihren Kindern überfallen zu werden. Noch mehr als Kaffee mag Gennifer nämlich Bücher. Zum Glück gibt es noch ihren Ehemann, der sie mit großem Enthusiasmus unterstützt - sein größter Traum ist es, auf einem Buchumschlag genannt zu werden: "Die Autorin lebt in Kansas, mit ihrem Ehemann, zwei Kindern und einer Dienstagskatze." "Cocoon - Die Lichtfängerin" ist ihr erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gennifer Albin
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2012, 1. Aufl., 356 Seiten, Maße: 16,1 x 22,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Jakob Schmidt
- Übersetzer: Jakob Schmidt
- Verlag: Ink
- ISBN-10: 3863960289
- ISBN-13: 9783863960285
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