Die schwarze Seele des Sommers / Commissario Montalbano Bd.10
Commissario Montalbanos zehnter Fall
Commissario Montalbano macht eine schreckliche Entdeckung: die Leiche einer Frau, die seit Jahren als vermisst gilt.
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Produktinformationen zu „Die schwarze Seele des Sommers / Commissario Montalbano Bd.10 “
Commissario Montalbano macht eine schreckliche Entdeckung: die Leiche einer Frau, die seit Jahren als vermisst gilt.
Klappentext zu „Die schwarze Seele des Sommers / Commissario Montalbano Bd.10 “
Sizilianische Sommer sind heiß - und mörderisch, wenn man der Wahrheit zu nahe kommt Alle machen Urlaub - bis auf Commissario Montalbano. Als er auf der Suche nach einem vermissten Feriengast eine alte Villa durchforstet, macht er eine grauenvolle Entdeckung: In einem Koffer findet er die Leiche einer Frau, die seit Jahren als vermisst gilt. Kurz darauf nimmt eine geheimnisvolle Unbekannte Kontakt zu ihm auf, die der Toten zum Verwechseln ähnlich sieht ...
Lese-Probe zu „Die schwarze Seele des Sommers / Commissario Montalbano Bd.10 “
Die schwarze Seele des Sommers von Andrea CamilleriEins
Er schlief so fest, dass ihn nicht einmal Kanonendonner hätte aufwecken können. Das heißt, Kanonendonner zwar nicht, wohl aber das Klingeln des Telefons. Ein Mensch, der in unseren Tagen in einem zivilisierten Land wie dem unseren (haha!) sein Leben fristet, hält, wenn er mitten im Schlaf Geschützfeuer wahrnimmt, dieses mit Sicherheit für ein Gewitter, für Salven beim Fest des Schutzheiligen oder für Möbelrücken bei den netten jungen Leuten eine Etage höher und schläft wunderbar weiter.
Doch das Läuten des Telefons, der Klingelton des Handys, die Türglocke, nein, die nicht, die sind allesamt Klänge von Lockrufen, bei denen der zivilisierte Mensch (haha!) gar nicht anders kann, als aus den Tiefen des Schlafs auf sie zu reagieren und zu antworten. Und folglich richtete Montalbano sich im Bett auf, sah auf die Uhr, blickte zum Fenster, begriff, dass es sehr heiß werden würde, und ging ins Esszimmer, wo das Telefon wie wild klingelte.
»Salvo, wo warst du denn? Seit einer halben Stunde versuche ich dich zu erreichen!«
»'tschuldige, Livia, ich war unter der Dusche und hab nichts gehört.« Erste Lüge des Tages.
Wieso hatte er gelogen? Weil er sich schämte, Livia zu sagen, dass er noch geschlafen hatte, oder weil er nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte, wenn er ihr sagte, dass er von diesem Anruf aufgeweckt worden war? Wer weiß. »Hast du dir die Villetta angesehen?«
»Also wirklich, Livia! Es ist doch gerade mal acht Uhr!«
»Tut mir leid, aber ich würde einfach so gern wissen, ob sie überhaupt in Frage kommt ...«
Die Sache hatte vor zwei Wochen angefangen, als er sich genötigt sah, Livia mitzuteilen, dass er in der ersten Augusthälfte, anders als geplant, nicht von
... mehr
Vigàta wegkonnte, weil Mimì Augello wegen irgendwelcher Probleme, die bei seinen Schwiegereltern aufgetreten waren, seinen Urlaub früher nehmen musste.
Das wirkte sich dann aber doch nicht so verheerend aus, wie er befürchtet hatte. Livia mochte Beba, Mimìs Frau, und auch Mimì selbst. Sie hatte zwar ein bisschen herumgequengelt, das schon, aber Montalbano war überzeugt, dass die Angelegenheit damit erledigt war.
Doch er irrte sich, und zwar gründlich. Während des Telefongesprächs am folgenden Abend war Livia nämlich ganz unerwartet mit einem Plan herausgerückt.
»Such ganz schnell ein Haus, zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, direkt am Meer, irgendwo da in der Gegend.«
»Ich versteh nicht recht. Müssen wir etwa von Marinella wegziehen?«
»Wie dumm du dich doch anstellst, Salvo, wenn du den Dummen spielst! Ich hab von einem Haus für Laura, ihren Mann und ihr Kind geredet.«
Laura war Liv ias beste Freundin und engste Vertraute in allen Lebenslagen. »Kommen sie her?«
»Ja. Hast du was dagegen?«
»Überhaupt nichts, du weißt doch, dass ich Laura und ihren Mann sympathisch finde, allerdings ...« »Erklär mir dieses >allerdings<.«
Mein Gott, wie viel Aufhebens! »Ich dachte nur, dass wir endlich mal ein bisschen mehr Zeit für uns allein haben würden und ...«
»Hahaha!« Ein Lachen wie das von der bösen Stiefmutter in »Schneewittchen und die sieben Zwerge«.
»Und was soll jetzt dieses Lachen?«
»Weil du doch genau weißt, dass lediglich ich es bin, die hier Zeit für sich allein hat, verstehst du, während du dich den ganzen Tag und vielleicht auch noch die Nacht im Kommissariat hinter dem neuesten Mordfall verschanzt!«
»Ach, komm schon, Livia! Hier, im August, bei dieser Hitze, warten auch die Mörder ab, bis es Herbst wird.«
»Soll das ein Witz sein? Soll ich jetzt lachen?«
Und so hatte die lange Suche nach einem Haus begonnen, unterstützt durch die wenig zielführende Hilfe von Catarella.
»Dottori, ich hätte da eine Wohnung gefunden, wie Sie eine suchen, im Ortsteil Pezzodipane.«
»Aber der Ortsteil Pezzodipane liegt doch zehn Kilometer vom Meer entfernt!«
»Das stimmt zwar, aber dafür gibt's da einen künstlichen See.«
Oder: »Livia, ich hätte da eine wirklich hübsche kleine Wohnung in einer Art Wohnanlage, die liegt dort, wo ...«
»Kleine Wohnung? Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, ein Haus!«
»Ist eine kleine Wohnung denn nicht auch ein Haus? Und wenn nicht, was ist es denn dann? Etwa ein Zelt?«
»Nein, eine Wohnung ist kein Haus. Ihr Sizilianer stiftet ständig Verwirrung und nennt eine Wohnung Haus, während ich ein Haus meine, wenn ich Haus sage. Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken? Du sollst eine Villetta für eine Familie suchen.«
In den Maklerbüros in Vigàta hatte man ihn ausgelacht.
»Und Sie erwarten, dass Sie heute, am 16. Juli, noch für Anfang August eine Villetta am Meer finden? Die sind doch alle längst vermietet!«
Man sagte ihm, er solle seine Telefonnummer dalassen: Falls zufällig irgendjemand im letzten Augenblick absage, würde man ihn benachrichtigen. Und das Wunder geschah genau zu dem Zeitpunkt, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte.
»Hallo, Dottor Montalbano? Hier ist das Maklerbüro Aurora. Gerade ist eine Villetta, wie Sie sie suchen, frei geworden. Sie befindet sich in Marina di Montereale, Ortsteil Pizzo. Aber Sie müssten umgehend vorbeikommen, wir schließen nämlich gleich.«
Er hatte ein Verhör mittendrin abgebrochen und war davongestürzt. Auf den Fotos wirkte die Villetta genau so, wie Livia sie sich vorstellte. Mit Signor Callara, dem Inhaber des Maklerbüros, war er so verblieben, dass dieser am nächsten Morgen gegen neun bei ihm vorbeikommen und ihn abholen würde, damit er die Villetta besichtigen konnte, die in der Gegend von Montereale stand, keine zehn Kilometer von Marinella entfernt.
Montalbano dachte daran, dass zehn Kilometer Straße nach Montereale im Hochsommer sowohl fünf Minuten Autofahrt wie auch zwei Stunden bedeuten konnten, je nach Verkehr. Na, dann war's eben so, Livia und Laura mussten sich mit dem zufriedengeben, was noch verfügbar war, friss, Vogel, oder stirb. Kaum im Auto, fing Signor Callara an zu reden und hörte gar nicht mehr auf.
Er begann bei der jüngsten Geschichte des Hauses, erzählte, wie und warum die Villetta an einen gewissen Jacolino vermietet worden war, einen Angestellten aus Cremona, der die reguläre Kaution bezahlt hatte. Doch genau am Abend zuvor hatte dieser Jacolino im Büro angerufen und gesagt, dass die Mutter seiner Frau einen Unfall hatte, weshalb sie nicht mehr von Cremona wegkonnten. Und daher habe man vom Maklerbüro aus ihn, Montalbano, angerufen. Danach ging Signor Callara zur Vergangenheitsaufarbeitung über und erzählte in allen Einzelheiten, wie und warum die Villetta erbaut worden war.
Ungefähr vor sechs Jahren hatte ein aus Montereale stammender Siebzigjähriger namens Angelo Speciale, der aber sein ganzes Leben in Deutschland gearbeitet hatte, sich entschlossen, diese Villetta für sich bauen zu lassen, um dort nach der Rückkehr in seinen Geburtsort mit seiner Frau den Lebensabend zu verbringen.
Diese deutsche Frau, die Gudrun hieß, war vorher Witwe und hatte einen Sohn namens Ralf. Klar? Klar. Angelo Speciale, der in Begleitung seines Stiefsohns Ralf nach Montereale gekommen war, hatte einen ganzen Monat lang nach dem richtigen Bauplatz gesucht, ihn dann gefunden, ihn gekauft, sich vom Landvermesser Spitaleri den Bauplan ausarbeiten lassen und über ein Jahr darauf gewartet, dass der Bau fertig wurde. Ralf war immer bei ihm gewesen.
Anschließend waren sie nach Deutschland zurückgekehrt, um die Möbel und alles Übrige nach Montereale zu verfrachten. Doch dann hatte sich etwas Eigentümliches ereignet. Weil Angelo Speciale nicht gerne flog, reisten sie mit dem Zug. Als der in den Kölner Bahnhof einfuhr, suchte Signor Speciale jedoch vergeblich nach seinem Stiefsohn, der im Bett über ihm mitgereist war. Im Abteil befand sich zwar Ralfs Koffer, doch von ihm selbst keine Spur.
Der Schlafwagenschaffner sagte, er habe ihn an den vorherigen Bahnhöfen nicht aussteigen sehen. Kurz gesagt: Ralf war verschwunden.
»Hat man ihn dann wiedergefunden?«
»Ach, woher denn, Dottore mio! Von dem jungen Mann hat man seitdem nie wieder etwas gehört.« »Aber Signor Speciale ist dann doch dort eingezogen?«
»Nein, das ist ja das Verrückte! Dazu kam es gar nicht! Kaum einen Monat nach seiner Rückkehr nach Köln ist der arme Signor Speciale die Treppe runtergefallen, verletzte sich am Kopf und starb, der Unglückselige.«
»Und Signora Gudrun, die nun zweifache Witwe, hat die dann hier gewohnt?«
»Was sollte sie denn hier, die Arme, ohne Mann und ohne Sohn? Sie rief uns vor drei Jahren an und sagte uns, wir sollten die Villetta für sie vermieten. Und seit drei Jahren vermieten wir sie, allerdings nur im Sommer.«
»Und das restliche Jahr über nicht?«
»Zu abgeschieden, Dottore. Sie werden es ja selbst sehen.«
Es war wirklich abgeschieden. Man gelangte dorthin, indem man von der Provinzialstraße auf einen ansteigenden Weg abbog, an dem nur ein rustikales Häuschen, ein weiteres, noch rustikaleres Häuschen und am Ende schließlich die Villetta standen. Es war ein von der Sonne verbrannter Landstrich, auf dem es fast keine Bäume und Sträucher gab.
Doch wenn man zur Villetta kam, die auf einer Art Anhöhe ziemlich weit oben stand, veränderte sich der Ausblick schlagartig. Welche Pracht! Unterhalb, rechts und links, lag der goldene Strand, auf dem vereinzelt ein paar Sonnenschirme aufgestellt waren, und vor den Augen erstreckte sich ein klares Meer, endlos und einladend.
Die Villetta, die ganz ebenerdig gebaut war, hatte wie gewünscht zwei Schlafzimmer, ein großes mit Ehebett und ein kleineres mit einem kleinen Bett, und ein Wohnzimmer mit großen Fenstern, von denen aus man nur Himmel und Meer sah.
Auch ein Fernsehgerät gab es darin. Die Küche war geräumig und mit einem riesigen Kühlschrank ausgestattet. Und es gab zwei Bäder. Dazu eine Terrasse, die nicht mit Gold aufzuwiegen war, wie geschaffen, um dort zu Abend zu essen.
»Einverstanden«, sagte der Commissario. »Wie viel kostet sie?«
»Sehen Sie, Dottore, eigentlich vermieten wir solche Häuser nicht für zwei Wochen, aber weil Sie es sind ...« Und dann nannte er eine Summe, bei der einen der Schlag treffen konnte.
Montalbano ließ sich nicht aus der Fassung bringen, immerhin war Laura ziemlich reich und mochte auf diese Art dazu beitragen, die Armut des Südens ein wenig zu lindern.
»Einverstanden«, sagte er ein weiteres Mal.
Angesichts der Tatsache, dass die Dinge so gut liefen, beschloss Signor Callara, noch einmal nachzulegen.
»Natürlich wären da zusätzlich ...«
»Natürlich wären da zusätzlich keine weiteren Kosten«, sagte Montalbano, der sich nicht für dumm verkaufen lassen wollte.
»Einverstanden, einverstanden.«
»Wie kommt man zum Strand runter?«
»Schauen Sie, Sie gehen durch das Törchen an der Terrasse, und zehn Meter weiter beginnt eine Treppe aus Tuffstein, die Sie nach unten führt. Es sind fünfzig Stufen.«
»Würden Sie eine halbe Stunde auf mich warten?« Signor Callara sah ihn verwirrt an.
»Wenn's denn wirklich nur eine halbe Stunde ist ...«
Einmal ausgiebig in diesem Meer zu schwimmen, das ihn geradezu aufzufordern schien, das hatte Montalbano vom ersten Augenblick an im Sinn gehabt, in dem er es gesehen hatte. Und das tat er nun in der Unterhose. Während seiner Rückkehr über die fünfzig Stufen, die er hochsteigen musste, hatte die Sonne ihn bereits getrocknet.
Am Morgen des 1. August fuhr Montalbano zum Flughafen von Punta Raisi, um Livia, Laura und ihren dreijährigen Sohn Bruno abzuholen.
Guido dagegen, Lauras Mann, wollte mit allem Gepäck im Autoreisezug kommen. Bruno war ein Kind, das keine zwei Minuten still sitzen konnte. Laura und Guido waren ein bisschen besorgt darüber, dass der Kleine nicht sprach und nur über Gesten kommunizierte.
Er kritzelte nicht mal was, wie alle Kinder seines Alters, doch dafür verstand er es meisterhaft, der gesamten Schöpfung gehörig auf die Nerven zu gehen. Sie fuhren nach Marinella, wo Adelina bereits das Mittagessen für die ganze Gesellschaft vorbereitet hatte.
Doch die Haushälterin war, als sie eintrafen, nicht mehr da, und Montalbano wusste, dass er sie während der zwei Wochen, die Livia in Marinella war, auch nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Liv ia empfand Adelina gegenüber eine tiefe und obendrein voll und ganz erwiderte Abneigung. Guido tauchte gegen eins auf.
Sie aßen zusammen, und gleich darauf setzte Montalbano sich mit Liv ia ins Auto, um den Lotsen für Guidos Auto zu spielen, in dem seine ganze Familie saß. Als Laura die Villetta sah, war sie derartig begeistert, dass sie Montalbano um den Hals fiel und ihn küsste.
Auch Bruno gab durch Zeichen zu verstehen, dass er vom Commissario auf den Arm genommen werden wollte. Und kaum war er in Höhe seines Gesichts, spuckte der Kleine ihm das Bonbon, das er gerade lutschte, ins Auge.
Sie verabredeten, dass Livia am nächsten Vormittag Laura mit Salvos Auto besuchen würde, um den ganzen Tag zu bleiben, und er würde sich von einem Dienstwagen abholen lassen. Abends, nach der Arbeit im Kommissariat, würde Salvo sich nach Pizzo bringen lassen und mit den anderen entscheiden, wohin sie zum Essen gehen wollten.
Für Montalbano war diese Lösung hervorragend, weil er auf diese Weise mittags in Enzos Trattoria genüsslich all das vertilgen konnte, was er gerne mochte.
13
Die Probleme in der Villetta in Pizzo fingen bereits am Vormittag des dritten Tages an. Liv ia, die zu ihrer Freundin gefahren war, fand alles in einem chaotischen Zustand vor: Die Kleider waren aus dem Schrank gezogen und auf die Terrassenstühle gelegt, die Matratzen an die Wand unter den Schlafzimmerfenstern gelehnt, die Küchenutensilien auf den kleinen Vorplatz vor der Eingangstür geworfen worden.
Bruno, der nackt war, hielt den Gartenschlauch in der Hand und sorgte dafür, dass die Anziehsachen, die Matratzen und Betttücher tüchtig durchgeweicht wurden. Er versuchte auch, Liv ia vollzuspritzen, sobald er sie auftauchen sah, doch Livia, die ihn gut genug kannte, wich ihm geschickt aus.
Laura lag ausgestreckt auf einem Liegestuhl neben der Terrassenmauer und hatte die Stirn mit einem feuchten Tuch bedeckt.
»Was ist denn hier los?«
»Warst du schon im Haus?«
»Nein.« »Sieh es dir von der Terrasse aus an, geh bloß nicht hinein.«
Als Erstes bemerkte Livia, dass der Fußboden beinahe schwarz geworden war. Als Zweites bemerkte sie, dass der Fußboden sich bewegte, und zwar in alle Richtungen. Danach bemerkte sie nichts mehr, weil sie begriffen hatte, was da vor sich ging. Sie stieß einen gewaltigen Schrei aus und flüchtete von der Terrasse.
»Das sind ja Tausende von Schaben!«
»Heute, ganz früh am Morgen«, sagte Laura, der es die Luft abschnürte, mühevoll, »bin ich wach geworden und in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Da habe ich sie gesehen, allerdings waren es da noch nicht so viele ... Ich habe Guido geweckt, wir haben versucht, in Sicherheit zu bringen, was wir konnten, aber dann ging's einfach nicht mehr. Sie kamen aus einer Ritze im Wohnzimmerfußboden ...«
»Und wo ist Guido jetzt?«
»Er ist nach Montereale gefahren und hat mit dem Bürgermeister gesprochen, der sehr zuvorkommend war. Er wird jeden Augenblick zurück sein.«
»Aber warum hat er denn nicht Salvo angerufen?«
»Er hat gesagt, er fände es nicht angemessen, wegen einer Schabeninvasion gleich die Polizei zu rufen.«
Eine Viertelstunde später kehrte Guido zurück, gefolgt von einem Auto der Gemeindeverwaltung mit v ier Müllmännern, die mit Sprühflaschen und Besen bewaffnet waren. Livia nahm Laura und Bruno mit nach Marinella, während Guido in Pizzo blieb, um die Schädlingsvernichtung und die Säuberungsarbeiten im Haus zu koordinieren.
Um vier Uhr nachmittags tauchte auch er in Marinella auf. »Sie sind genau durch diese Ritze im Fußboden gekrochen. Wir haben zwei ganze Flaschen da hineingesprüht und sie dann zugemauert.« »Hoffentlich gibt's nicht noch andere Ritzen«, sagte Laura, die nicht besonders überzeugt zu sein schien.
»Sei ganz beruhigt, wir haben überall genau nachgesehen«, sagte Guido im Brustton der Überzeugung. »Das wird nicht mehr vorkommen. Wir können ganz beruhigt nach Hause fahren.« »Aber weshalb sind sie nur da rausgekrochen ...«, warf Livia ein.
»Einer von diesen Herren hat mir erklärt, dass die Villetta gestern Nacht eine unmerkliche Absenkung erfahren haben muss, die diese Öffnung zur Folge hatte. Und so sind die Schaben, die sich unter der Erde befanden, nach oben gewandert, weil sie der Geruch der Nahrungsmittel, unsere Anwesenheit oder wer weiß was sonst angezogen hat.«
Am fünften Tag kam es zur zweiten Invasion. Doch diesmal waren es keine Schaben, sondern winzige Mäuse. Als Laura aufstand, sah sie im gesamten Haus an die fünfzehn, sie waren ganz klein, sogar richtig niedlich. Sie schossen rasend schnell zur Fenstertür der Terrasse hinaus, sobald sie sich bewegte. In der Küche fand sie zwei weitere, die Brotkrumen fraßen. Doch anders als die meisten Frauen hatte Laura keine besondere Angst vor Mäusen.
Guido rief wieder den Bürgermeister an, fuhr nach Montereale und kehrte mit zwei Mausefallen zurück, hundert Gramm pikantem Käse und einem freundlichen und geduldigen roten Kater, der nicht einmal dann aggressiv wurde, als Bruno versuchte, ihm ein Auge auszureißen.
»Aber wie kommt es nur, dass nach den Schaben jetzt auch noch die Mäuse herauskommen?«, fragte Livia Montalbano, als sie sich gerade hingelegt hatten.
Montalbano hatte keine Lust, über Mäuse zu reden, denn Livia lag nackt neben ihm.
»Tja, weißt du, dieses Haus war ein Jahr lang unbewohnt, und daher ...«, lautete seine etwas vage Antwort. »Vielleicht hätte man es mal putzen, durchfegen und desinfizieren müssen, bevor Laura dort eingezogen ist ...«, sagte Livia.
»Das könnte ich jetzt auch gut gebrauchen«, unterbrach Montalbano sie.
»Was?«, fragte Laura irritiert. »Das Zweite, was du genannt hast.« Und er umarmte sie.
Am achten Tag fand die dritte Invasion statt. Wieder war es Laura, die als Erste aufstand und den Vorfall bemerkte. Sie sah etwas aus den Augenwinkeln, machte auf der Stelle einen Satz in die Luft, und ohne zu wissen, wieso und weshalb, fiel sie wieder gerade auf den Küchentisch zurück und kniff die Augen fest zusammen.
Dann, als sie sich hinreichend sicher fühlte, öffnete sie sie wieder, zitternd und schwitzend, und blickte auf den Fußboden. Dort spazierten ganz gemächlich an die dreißig Spinnen vorüber, die wie eine repräsentative Auswahl ihrer Gattung aussahen: Eine war flach und behaart, eine andere bestand lediglich aus einem kugelförmigen Kopf auf unendlich langen Beinen wie die einer Katze, eine dritte war rötlich und groß wie eine Krabbe, eine v ierte glich haargenau der Schwarzen Witwe ...
Laura, die von den Schaben nicht besonders beeindruckt gewesen war und sich auch vor den Mäusen nicht geekelt hatte, verlor den Verstand, sobald sie eine Spinne sah.
Sie litt an dem, was man mit dem schwierig auszusprechenden Wort Arachnophobie bezeichnet, oder einfach ausgedrückt: an einer sich jeder Vernunft entziehenden, unkontrollierbaren Angst vor Spinnen. So kam es, dass sie, während sich ihr die Haare sträubten, einen gewaltigen Schrei ausstieß und ohnmächtig vom Tisch zu Boden fiel.
Übersetzung: Moshe Kahn
Copyright © 2008 für die deutschsprachige Ausgabe: Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Das wirkte sich dann aber doch nicht so verheerend aus, wie er befürchtet hatte. Livia mochte Beba, Mimìs Frau, und auch Mimì selbst. Sie hatte zwar ein bisschen herumgequengelt, das schon, aber Montalbano war überzeugt, dass die Angelegenheit damit erledigt war.
Doch er irrte sich, und zwar gründlich. Während des Telefongesprächs am folgenden Abend war Livia nämlich ganz unerwartet mit einem Plan herausgerückt.
»Such ganz schnell ein Haus, zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, direkt am Meer, irgendwo da in der Gegend.«
»Ich versteh nicht recht. Müssen wir etwa von Marinella wegziehen?«
»Wie dumm du dich doch anstellst, Salvo, wenn du den Dummen spielst! Ich hab von einem Haus für Laura, ihren Mann und ihr Kind geredet.«
Laura war Liv ias beste Freundin und engste Vertraute in allen Lebenslagen. »Kommen sie her?«
»Ja. Hast du was dagegen?«
»Überhaupt nichts, du weißt doch, dass ich Laura und ihren Mann sympathisch finde, allerdings ...« »Erklär mir dieses >allerdings<.«
Mein Gott, wie viel Aufhebens! »Ich dachte nur, dass wir endlich mal ein bisschen mehr Zeit für uns allein haben würden und ...«
»Hahaha!« Ein Lachen wie das von der bösen Stiefmutter in »Schneewittchen und die sieben Zwerge«.
»Und was soll jetzt dieses Lachen?«
»Weil du doch genau weißt, dass lediglich ich es bin, die hier Zeit für sich allein hat, verstehst du, während du dich den ganzen Tag und vielleicht auch noch die Nacht im Kommissariat hinter dem neuesten Mordfall verschanzt!«
»Ach, komm schon, Livia! Hier, im August, bei dieser Hitze, warten auch die Mörder ab, bis es Herbst wird.«
»Soll das ein Witz sein? Soll ich jetzt lachen?«
Und so hatte die lange Suche nach einem Haus begonnen, unterstützt durch die wenig zielführende Hilfe von Catarella.
»Dottori, ich hätte da eine Wohnung gefunden, wie Sie eine suchen, im Ortsteil Pezzodipane.«
»Aber der Ortsteil Pezzodipane liegt doch zehn Kilometer vom Meer entfernt!«
»Das stimmt zwar, aber dafür gibt's da einen künstlichen See.«
Oder: »Livia, ich hätte da eine wirklich hübsche kleine Wohnung in einer Art Wohnanlage, die liegt dort, wo ...«
»Kleine Wohnung? Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, ein Haus!«
»Ist eine kleine Wohnung denn nicht auch ein Haus? Und wenn nicht, was ist es denn dann? Etwa ein Zelt?«
»Nein, eine Wohnung ist kein Haus. Ihr Sizilianer stiftet ständig Verwirrung und nennt eine Wohnung Haus, während ich ein Haus meine, wenn ich Haus sage. Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken? Du sollst eine Villetta für eine Familie suchen.«
In den Maklerbüros in Vigàta hatte man ihn ausgelacht.
»Und Sie erwarten, dass Sie heute, am 16. Juli, noch für Anfang August eine Villetta am Meer finden? Die sind doch alle längst vermietet!«
Man sagte ihm, er solle seine Telefonnummer dalassen: Falls zufällig irgendjemand im letzten Augenblick absage, würde man ihn benachrichtigen. Und das Wunder geschah genau zu dem Zeitpunkt, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte.
»Hallo, Dottor Montalbano? Hier ist das Maklerbüro Aurora. Gerade ist eine Villetta, wie Sie sie suchen, frei geworden. Sie befindet sich in Marina di Montereale, Ortsteil Pizzo. Aber Sie müssten umgehend vorbeikommen, wir schließen nämlich gleich.«
Er hatte ein Verhör mittendrin abgebrochen und war davongestürzt. Auf den Fotos wirkte die Villetta genau so, wie Livia sie sich vorstellte. Mit Signor Callara, dem Inhaber des Maklerbüros, war er so verblieben, dass dieser am nächsten Morgen gegen neun bei ihm vorbeikommen und ihn abholen würde, damit er die Villetta besichtigen konnte, die in der Gegend von Montereale stand, keine zehn Kilometer von Marinella entfernt.
Montalbano dachte daran, dass zehn Kilometer Straße nach Montereale im Hochsommer sowohl fünf Minuten Autofahrt wie auch zwei Stunden bedeuten konnten, je nach Verkehr. Na, dann war's eben so, Livia und Laura mussten sich mit dem zufriedengeben, was noch verfügbar war, friss, Vogel, oder stirb. Kaum im Auto, fing Signor Callara an zu reden und hörte gar nicht mehr auf.
Er begann bei der jüngsten Geschichte des Hauses, erzählte, wie und warum die Villetta an einen gewissen Jacolino vermietet worden war, einen Angestellten aus Cremona, der die reguläre Kaution bezahlt hatte. Doch genau am Abend zuvor hatte dieser Jacolino im Büro angerufen und gesagt, dass die Mutter seiner Frau einen Unfall hatte, weshalb sie nicht mehr von Cremona wegkonnten. Und daher habe man vom Maklerbüro aus ihn, Montalbano, angerufen. Danach ging Signor Callara zur Vergangenheitsaufarbeitung über und erzählte in allen Einzelheiten, wie und warum die Villetta erbaut worden war.
Ungefähr vor sechs Jahren hatte ein aus Montereale stammender Siebzigjähriger namens Angelo Speciale, der aber sein ganzes Leben in Deutschland gearbeitet hatte, sich entschlossen, diese Villetta für sich bauen zu lassen, um dort nach der Rückkehr in seinen Geburtsort mit seiner Frau den Lebensabend zu verbringen.
Diese deutsche Frau, die Gudrun hieß, war vorher Witwe und hatte einen Sohn namens Ralf. Klar? Klar. Angelo Speciale, der in Begleitung seines Stiefsohns Ralf nach Montereale gekommen war, hatte einen ganzen Monat lang nach dem richtigen Bauplatz gesucht, ihn dann gefunden, ihn gekauft, sich vom Landvermesser Spitaleri den Bauplan ausarbeiten lassen und über ein Jahr darauf gewartet, dass der Bau fertig wurde. Ralf war immer bei ihm gewesen.
Anschließend waren sie nach Deutschland zurückgekehrt, um die Möbel und alles Übrige nach Montereale zu verfrachten. Doch dann hatte sich etwas Eigentümliches ereignet. Weil Angelo Speciale nicht gerne flog, reisten sie mit dem Zug. Als der in den Kölner Bahnhof einfuhr, suchte Signor Speciale jedoch vergeblich nach seinem Stiefsohn, der im Bett über ihm mitgereist war. Im Abteil befand sich zwar Ralfs Koffer, doch von ihm selbst keine Spur.
Der Schlafwagenschaffner sagte, er habe ihn an den vorherigen Bahnhöfen nicht aussteigen sehen. Kurz gesagt: Ralf war verschwunden.
»Hat man ihn dann wiedergefunden?«
»Ach, woher denn, Dottore mio! Von dem jungen Mann hat man seitdem nie wieder etwas gehört.« »Aber Signor Speciale ist dann doch dort eingezogen?«
»Nein, das ist ja das Verrückte! Dazu kam es gar nicht! Kaum einen Monat nach seiner Rückkehr nach Köln ist der arme Signor Speciale die Treppe runtergefallen, verletzte sich am Kopf und starb, der Unglückselige.«
»Und Signora Gudrun, die nun zweifache Witwe, hat die dann hier gewohnt?«
»Was sollte sie denn hier, die Arme, ohne Mann und ohne Sohn? Sie rief uns vor drei Jahren an und sagte uns, wir sollten die Villetta für sie vermieten. Und seit drei Jahren vermieten wir sie, allerdings nur im Sommer.«
»Und das restliche Jahr über nicht?«
»Zu abgeschieden, Dottore. Sie werden es ja selbst sehen.«
Es war wirklich abgeschieden. Man gelangte dorthin, indem man von der Provinzialstraße auf einen ansteigenden Weg abbog, an dem nur ein rustikales Häuschen, ein weiteres, noch rustikaleres Häuschen und am Ende schließlich die Villetta standen. Es war ein von der Sonne verbrannter Landstrich, auf dem es fast keine Bäume und Sträucher gab.
Doch wenn man zur Villetta kam, die auf einer Art Anhöhe ziemlich weit oben stand, veränderte sich der Ausblick schlagartig. Welche Pracht! Unterhalb, rechts und links, lag der goldene Strand, auf dem vereinzelt ein paar Sonnenschirme aufgestellt waren, und vor den Augen erstreckte sich ein klares Meer, endlos und einladend.
Die Villetta, die ganz ebenerdig gebaut war, hatte wie gewünscht zwei Schlafzimmer, ein großes mit Ehebett und ein kleineres mit einem kleinen Bett, und ein Wohnzimmer mit großen Fenstern, von denen aus man nur Himmel und Meer sah.
Auch ein Fernsehgerät gab es darin. Die Küche war geräumig und mit einem riesigen Kühlschrank ausgestattet. Und es gab zwei Bäder. Dazu eine Terrasse, die nicht mit Gold aufzuwiegen war, wie geschaffen, um dort zu Abend zu essen.
»Einverstanden«, sagte der Commissario. »Wie viel kostet sie?«
»Sehen Sie, Dottore, eigentlich vermieten wir solche Häuser nicht für zwei Wochen, aber weil Sie es sind ...« Und dann nannte er eine Summe, bei der einen der Schlag treffen konnte.
Montalbano ließ sich nicht aus der Fassung bringen, immerhin war Laura ziemlich reich und mochte auf diese Art dazu beitragen, die Armut des Südens ein wenig zu lindern.
»Einverstanden«, sagte er ein weiteres Mal.
Angesichts der Tatsache, dass die Dinge so gut liefen, beschloss Signor Callara, noch einmal nachzulegen.
»Natürlich wären da zusätzlich ...«
»Natürlich wären da zusätzlich keine weiteren Kosten«, sagte Montalbano, der sich nicht für dumm verkaufen lassen wollte.
»Einverstanden, einverstanden.«
»Wie kommt man zum Strand runter?«
»Schauen Sie, Sie gehen durch das Törchen an der Terrasse, und zehn Meter weiter beginnt eine Treppe aus Tuffstein, die Sie nach unten führt. Es sind fünfzig Stufen.«
»Würden Sie eine halbe Stunde auf mich warten?« Signor Callara sah ihn verwirrt an.
»Wenn's denn wirklich nur eine halbe Stunde ist ...«
Einmal ausgiebig in diesem Meer zu schwimmen, das ihn geradezu aufzufordern schien, das hatte Montalbano vom ersten Augenblick an im Sinn gehabt, in dem er es gesehen hatte. Und das tat er nun in der Unterhose. Während seiner Rückkehr über die fünfzig Stufen, die er hochsteigen musste, hatte die Sonne ihn bereits getrocknet.
Am Morgen des 1. August fuhr Montalbano zum Flughafen von Punta Raisi, um Livia, Laura und ihren dreijährigen Sohn Bruno abzuholen.
Guido dagegen, Lauras Mann, wollte mit allem Gepäck im Autoreisezug kommen. Bruno war ein Kind, das keine zwei Minuten still sitzen konnte. Laura und Guido waren ein bisschen besorgt darüber, dass der Kleine nicht sprach und nur über Gesten kommunizierte.
Er kritzelte nicht mal was, wie alle Kinder seines Alters, doch dafür verstand er es meisterhaft, der gesamten Schöpfung gehörig auf die Nerven zu gehen. Sie fuhren nach Marinella, wo Adelina bereits das Mittagessen für die ganze Gesellschaft vorbereitet hatte.
Doch die Haushälterin war, als sie eintrafen, nicht mehr da, und Montalbano wusste, dass er sie während der zwei Wochen, die Livia in Marinella war, auch nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Liv ia empfand Adelina gegenüber eine tiefe und obendrein voll und ganz erwiderte Abneigung. Guido tauchte gegen eins auf.
Sie aßen zusammen, und gleich darauf setzte Montalbano sich mit Liv ia ins Auto, um den Lotsen für Guidos Auto zu spielen, in dem seine ganze Familie saß. Als Laura die Villetta sah, war sie derartig begeistert, dass sie Montalbano um den Hals fiel und ihn küsste.
Auch Bruno gab durch Zeichen zu verstehen, dass er vom Commissario auf den Arm genommen werden wollte. Und kaum war er in Höhe seines Gesichts, spuckte der Kleine ihm das Bonbon, das er gerade lutschte, ins Auge.
Sie verabredeten, dass Livia am nächsten Vormittag Laura mit Salvos Auto besuchen würde, um den ganzen Tag zu bleiben, und er würde sich von einem Dienstwagen abholen lassen. Abends, nach der Arbeit im Kommissariat, würde Salvo sich nach Pizzo bringen lassen und mit den anderen entscheiden, wohin sie zum Essen gehen wollten.
Für Montalbano war diese Lösung hervorragend, weil er auf diese Weise mittags in Enzos Trattoria genüsslich all das vertilgen konnte, was er gerne mochte.
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Die Probleme in der Villetta in Pizzo fingen bereits am Vormittag des dritten Tages an. Liv ia, die zu ihrer Freundin gefahren war, fand alles in einem chaotischen Zustand vor: Die Kleider waren aus dem Schrank gezogen und auf die Terrassenstühle gelegt, die Matratzen an die Wand unter den Schlafzimmerfenstern gelehnt, die Küchenutensilien auf den kleinen Vorplatz vor der Eingangstür geworfen worden.
Bruno, der nackt war, hielt den Gartenschlauch in der Hand und sorgte dafür, dass die Anziehsachen, die Matratzen und Betttücher tüchtig durchgeweicht wurden. Er versuchte auch, Liv ia vollzuspritzen, sobald er sie auftauchen sah, doch Livia, die ihn gut genug kannte, wich ihm geschickt aus.
Laura lag ausgestreckt auf einem Liegestuhl neben der Terrassenmauer und hatte die Stirn mit einem feuchten Tuch bedeckt.
»Was ist denn hier los?«
»Warst du schon im Haus?«
»Nein.« »Sieh es dir von der Terrasse aus an, geh bloß nicht hinein.«
Als Erstes bemerkte Livia, dass der Fußboden beinahe schwarz geworden war. Als Zweites bemerkte sie, dass der Fußboden sich bewegte, und zwar in alle Richtungen. Danach bemerkte sie nichts mehr, weil sie begriffen hatte, was da vor sich ging. Sie stieß einen gewaltigen Schrei aus und flüchtete von der Terrasse.
»Das sind ja Tausende von Schaben!«
»Heute, ganz früh am Morgen«, sagte Laura, der es die Luft abschnürte, mühevoll, »bin ich wach geworden und in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Da habe ich sie gesehen, allerdings waren es da noch nicht so viele ... Ich habe Guido geweckt, wir haben versucht, in Sicherheit zu bringen, was wir konnten, aber dann ging's einfach nicht mehr. Sie kamen aus einer Ritze im Wohnzimmerfußboden ...«
»Und wo ist Guido jetzt?«
»Er ist nach Montereale gefahren und hat mit dem Bürgermeister gesprochen, der sehr zuvorkommend war. Er wird jeden Augenblick zurück sein.«
»Aber warum hat er denn nicht Salvo angerufen?«
»Er hat gesagt, er fände es nicht angemessen, wegen einer Schabeninvasion gleich die Polizei zu rufen.«
Eine Viertelstunde später kehrte Guido zurück, gefolgt von einem Auto der Gemeindeverwaltung mit v ier Müllmännern, die mit Sprühflaschen und Besen bewaffnet waren. Livia nahm Laura und Bruno mit nach Marinella, während Guido in Pizzo blieb, um die Schädlingsvernichtung und die Säuberungsarbeiten im Haus zu koordinieren.
Um vier Uhr nachmittags tauchte auch er in Marinella auf. »Sie sind genau durch diese Ritze im Fußboden gekrochen. Wir haben zwei ganze Flaschen da hineingesprüht und sie dann zugemauert.« »Hoffentlich gibt's nicht noch andere Ritzen«, sagte Laura, die nicht besonders überzeugt zu sein schien.
»Sei ganz beruhigt, wir haben überall genau nachgesehen«, sagte Guido im Brustton der Überzeugung. »Das wird nicht mehr vorkommen. Wir können ganz beruhigt nach Hause fahren.« »Aber weshalb sind sie nur da rausgekrochen ...«, warf Livia ein.
»Einer von diesen Herren hat mir erklärt, dass die Villetta gestern Nacht eine unmerkliche Absenkung erfahren haben muss, die diese Öffnung zur Folge hatte. Und so sind die Schaben, die sich unter der Erde befanden, nach oben gewandert, weil sie der Geruch der Nahrungsmittel, unsere Anwesenheit oder wer weiß was sonst angezogen hat.«
Am fünften Tag kam es zur zweiten Invasion. Doch diesmal waren es keine Schaben, sondern winzige Mäuse. Als Laura aufstand, sah sie im gesamten Haus an die fünfzehn, sie waren ganz klein, sogar richtig niedlich. Sie schossen rasend schnell zur Fenstertür der Terrasse hinaus, sobald sie sich bewegte. In der Küche fand sie zwei weitere, die Brotkrumen fraßen. Doch anders als die meisten Frauen hatte Laura keine besondere Angst vor Mäusen.
Guido rief wieder den Bürgermeister an, fuhr nach Montereale und kehrte mit zwei Mausefallen zurück, hundert Gramm pikantem Käse und einem freundlichen und geduldigen roten Kater, der nicht einmal dann aggressiv wurde, als Bruno versuchte, ihm ein Auge auszureißen.
»Aber wie kommt es nur, dass nach den Schaben jetzt auch noch die Mäuse herauskommen?«, fragte Livia Montalbano, als sie sich gerade hingelegt hatten.
Montalbano hatte keine Lust, über Mäuse zu reden, denn Livia lag nackt neben ihm.
»Tja, weißt du, dieses Haus war ein Jahr lang unbewohnt, und daher ...«, lautete seine etwas vage Antwort. »Vielleicht hätte man es mal putzen, durchfegen und desinfizieren müssen, bevor Laura dort eingezogen ist ...«, sagte Livia.
»Das könnte ich jetzt auch gut gebrauchen«, unterbrach Montalbano sie.
»Was?«, fragte Laura irritiert. »Das Zweite, was du genannt hast.« Und er umarmte sie.
Am achten Tag fand die dritte Invasion statt. Wieder war es Laura, die als Erste aufstand und den Vorfall bemerkte. Sie sah etwas aus den Augenwinkeln, machte auf der Stelle einen Satz in die Luft, und ohne zu wissen, wieso und weshalb, fiel sie wieder gerade auf den Küchentisch zurück und kniff die Augen fest zusammen.
Dann, als sie sich hinreichend sicher fühlte, öffnete sie sie wieder, zitternd und schwitzend, und blickte auf den Fußboden. Dort spazierten ganz gemächlich an die dreißig Spinnen vorüber, die wie eine repräsentative Auswahl ihrer Gattung aussahen: Eine war flach und behaart, eine andere bestand lediglich aus einem kugelförmigen Kopf auf unendlich langen Beinen wie die einer Katze, eine dritte war rötlich und groß wie eine Krabbe, eine v ierte glich haargenau der Schwarzen Witwe ...
Laura, die von den Schaben nicht besonders beeindruckt gewesen war und sich auch vor den Mäusen nicht geekelt hatte, verlor den Verstand, sobald sie eine Spinne sah.
Sie litt an dem, was man mit dem schwierig auszusprechenden Wort Arachnophobie bezeichnet, oder einfach ausgedrückt: an einer sich jeder Vernunft entziehenden, unkontrollierbaren Angst vor Spinnen. So kam es, dass sie, während sich ihr die Haare sträubten, einen gewaltigen Schrei ausstieß und ohnmächtig vom Tisch zu Boden fiel.
Übersetzung: Moshe Kahn
Copyright © 2008 für die deutschsprachige Ausgabe: Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
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Autoren-Porträt von Andrea Camilleri
Andrea Camilleri ist der erfolgreichste zeitgenössische Autor Italiens und begeistert mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk ein Millionenpublikum. Ob er seine Leser mit seinem unwiderstehlichen Helden Salvo Montalbano in den Bann zieht, ihnen mit kulinarischen Köstlichkeiten den Mund wässrig macht oder ihnen unvergessliche Einblicke in die mediterrane Seele gewährt: Dem Charme der Welt Camilleris vermag sich niemand zu entziehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Camilleri
- 2010, 9. Aufl., 288 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Kahn, Moshe
- Übersetzer: Moshe Kahn
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404164547
- ISBN-13: 9783404164547
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