Dark River
Das Duell der Traveler. Roman
Zwei verfeindete Brüder. Eine mysteriöse Bruderschaft. Und die Jagd nach dem Mann, der die Menschheit retten kann. Gabriel und Michael Corrigan sind Traveler: die letzten Überlebenden einer Riege von Propheten, die für Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dark River “
Zwei verfeindete Brüder. Eine mysteriöse Bruderschaft. Und die Jagd nach dem Mann, der die Menschheit retten kann. Gabriel und Michael Corrigan sind Traveler: die letzten Überlebenden einer Riege von Propheten, die für Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen. Doch dann ist Michael zur Bruderschaft der Tabula übergelaufen. Die versucht die gesamte Menschheit mit Hilfe eines weltumspannenden Überwachungsnetzes zu kontrollieren... Die erschreckende und gleichzeitig realitistische Vision einer völlig überwachten Welt. »Ein Zukunftsthriller der Extraklasse!« (BamS)
Lese-Probe zu „Dark River “
PROLOGDer Himmel verdüsterte sich, und die ersten Schneeflocken fielen, als die Mitglieder von New Harmony zum Abendessen in ihre Häuser zurückkehrten. Die Erwachsenen, die an einer Schutzmauer um das Gemeinschaftszentrum arbeiteten, bliesen sich in die Hände und fingen an, von Gewitterfronten zu reden, während die Kinder den Kopf in den Nacken legten, den Mund aufrissen, herumsprangen und versuchten, die Eiskristalle mit der Zunge aufzufangen.
Alice Chen war ein kleines, ernstes Mädchen mit Jeans, Arbeiterschuhen und einem blauen Nylonparka. Sie war gerade erst elf Jahre alt geworden, aber ihre besten Freundinnen Helen und Melissa waren schon zwölf, fast dreizehn. In letzter Zeit hatten die beiden älteren Mädchen immer wieder lange Gespräche über kindisches Verhalten geführt und darüber, welche Jungen in New Harmony dumm und unreif waren.
Obwohl Alice die Schneeflocken fangen und naschen wollte, kam sie zu dem Schluss, dass es ziemlich unreif wäre, wie ein kleines Kind mit ausgestreckter Zunge herumzuhopsen. Sie setzte ihre Strickmütze auf und folgte ihren Freundinnen einen der schmalen Wege hinunter, die in Serpentinen in das Tal führten. Es war nicht einfach, erwachsen zu sein. Alice fühlte sich erleichtert, als Melissa Helen anstupste, "Du bist dran!" rief und davonschoss.
Die drei Freundinnen rannten ins Tal, lachten und versuchten, sich gegenseitig einzuholen. Die Abendluft war kalt und roch nach Kiefer und feuchter Erde und ganz schwach nach dem Holzfeuer, das neben den Gewächshäusern brannte. Als die Mädchen eine Lichtung überquerten, fielen die Schneeflocken plötzlich nicht mehr nach unten, sondern drehten sich im Kreis, so, als würde eine Geisterfamilie zwischen den Bäumen Fangen spielen.
In der Ferne war ein mechanisches Geräusch zu hören, das immer lauter wurde. Die Mädchen blieben stehen. Sekunden später donnerte ein Helikopter mit dem Logo der Forstverwaltung von Arizona über ihre Köpfe hinweg und das Tal entlang. Sie hatten schon öfter
... mehr
solche Hubschrauber gesehen, aber nur im Sommer. Es war merkwürdig, dass einer im Februar über das Tal flog.
"Wahrscheinlich vermissen sie jemanden", sagte Melissa. "Bestimmt hat sich irgendein Tourist auf der Suche nach den indianischen Ruinen verlaufen."
"Und jetzt wird es dunkel", sagte Alice. Es musste schlimm sein, sich so ganz allein wiederzufinden, dachte sie, und müde und verängstigt durch den Schnee zu stolpern.
Helen beugte sich vor und schlug Alice auf die Schulter. "Du bist dran!" Und schon rannten sie erneut los.
Unter dem Helikopter hingen ein Nachtsichtgerät und ein Thermo-Bildgenerator. Das Nachtsichtgerät fing das sichtbare Licht ebenso auf wie den unteren Bereich des Infrarotspektrums, während der Thermo-Bildgenerator jedes Objekt aufspürte, das Wärme ausstrahlte. Beide Geräte schickten ihre Daten an einen Computer, der alles zu einem einzigen Videobild kombinierte.
Knapp dreißig Kilometer vor New Harmony saß Nathan Boone auf der Rückbank eines ehemaligen Bäckerei-Lieferwagens, der zu einem Überwachungsfahrzeug ausgebaut worden war. Er nippte an seinem Kaffee - schwarz, ohne Zucker und starrte auf den Monitor, auf dem ein Schwarzweißbild von New Harmony auftauchte.
Der Sicherheitschef der Bruderschaft war ein akkurat gekleideter Mann mit kurzem, grauem Haar und Nickelbrille. Er hatte eine ernste, beinahe herablassende Art. Polizisten und Grenzschützer sagten bei der ersten Begegnung mit ihm stets "Ja, Sir", und Zivilisten senkten für gewöhnlich den Blick, wenn er sie ansprach.
Boone hatte schon während seiner Militärzeit mit Nachtsichtgeräten gearbeitet, aber die neue Dualkamera bedeutete einen echten Fortschritt. Jetzt konnte er Ziele sowohl außerhalb auch als innerhalb von Gebäuden gleichzeitig sichten: Eine Person spazierte vor dem Haus zwischen Bäumen umher, die andere stand in der Küche und spülte Geschirr. Noch hilfreicher war, dass der Computer die Lichtquellen neuerdings bewerten und mit hoher Trefferquote einschätzen konnte, ob es sich bei einem Objekt um einen Menschen oder eine heiße Bratpfanne handelte. Boone betrachtete die Kamera als einen Beweis für seine These, dass Wissenschaft und Technik - die Zukunft insgesamt, wenn man so wollte -auf seiner Seite waren.
George Cossette, der andere Mann im Lieferwagen, war ein Überwachungsexperte, den man aus Genf eingeflogen hatte. Er war ein blasser, junger Mann mit unglaublich vielen Lebensmittelallergien. Während der achttägigen Observierung hatte er gelegentlich den bordeigenen Internetanschluss genutzt, um auf Plastikfiguren von Comic-Helden zu bieten.
"Geben Sie mir eine Zahl", sagte Boone, den Blick unentwegt auf die Übertragung aus dem Helikopter gerichtet.
Cossette konzentrierte sich auf den Computerbildschirm und tippte Befehle ein. "Alle Wärmequellen oder nur die menschlichen?"
"Nur die menschlichen. Danke."
Klick. Klick. Cossettes Finger flogen über die Tastatur. Wenige Sekunden später erschienen die Umrisse der achtundsechzig Einwohner von New Harmony auf dem Bildschirm.
"Wie exakt ist das?"
"Zwischen achtundneunzig und neunundneunzig Prozent. Eventuell haben wir eine oder zwei Personen übersehen, die sich am Rand des Scannerfeldes aufhalten."
Boone nahm seine Brille ab, putzte sie mit einem kleinen Flanelltuch und betrachtete das Video ein zweites Mal. Seit vielen Jahren predigten die Traveler und ihre Wegweiser vom so genannten "Licht" im Innern eines jeden Menschen. Inzwischen hatte man aus dem wirklichen Licht - nicht dem von der spirituellen Art - eine neue Detektionsmethode entwickelt. Es war unmöglich geworden, sich zu verstecken, selbst bei Dunkelheit.
Alice betrat die Küche, und die Schneeflocken, die in ihren Haaren hingen, schmolzen, noch bevor sie ihre Jacke ausgezogen hatte. Das Haus ihrer Familie war im Stil des amerikanischen Südwestens gebaut, mit einem Flachdach, kleinen Fenstern und wenigen Außenverzierungen. Wie alle anderen Häuser im Tal war auch dieses aus Stroh - in den Wänden steckten ganze Ballen davon, von Stahlstangen zusammengehalten und mit wasserdichtem Putz abgedeckt. Ein einziger, großer Raum mit Küche und Wohnzimmer nahm das Erdgeschoss ein, und über eine offene Treppe gelangte man nach oben ins Schlafloft. Von dort gingen Türen in Alices Zimmer, ins Büro und ins Bad ab. Weil die Wände so dick waren, sahen alle Fensternischen wie kleine Alkoven aus. In dem in der Küche stand eine Schale mit unreifen Avocados, daneben lagen ein paar alten Knochen, die sie draußen in der Wüste gefunden hatten.
Der Topf auf dem Elektroherd blubberte vor sich hin, und die Fenster waren beschlagen. An kalten Abenden wie diesem hatte Alice das Gefühl, in einer Raumkapsel zu leben, die auf den Grund einer tropischen Lagune gesunken war. Wischte sie die Feuchtigkeit vom Fensterglas, könnte sie draußen bestimmt einen Lotsenfisch vor weißen Korallen vorbeischwimmen sehen.
Wie immer hatte ihre Mutter die Küche in einem chaotischen Zustand hinterlassen - schmutzige Schüsseln und Löffel, Basilikumstängel und eine offene Mehldose, die nur auf die Mäuse zu warten schien. Während Alice sich an die Arbeit machte, die Lebensmittel wegräumte und Krümel aufwischte, schwang ihr schwarzer Zopf hin und her. Sie spülte die Rührschüsseln und Löffel ab und legte sie auf ein sauberes Geschirrtuch wie Skalpelle auf einen OP-Tisch. Als sie gerade das Mehl zurückstellte, kam ihre Mutter mit einem Stapel medizinischer Fachzeitschriften unter dem Arm vom Schlafloft herunter.
Dr. Joan Chen war eine zierliche Frau mit kurzem, schwarzem Haar. Sie war Ärztin und mit ihrer Tochter nach New Harmony gekommen, nachdem ihr Mann bei einem Autounfall sein Leben verloren hatte. Jeden Abend vor dem Essen zog Joan sich um und tauschte ihre Jeans und das Flanellhemd gegen einen langen Rock und eine Seidenbluse.
"Danke, mein Schatz. Du hättest nicht aufräumen müssen. Das hätte ich später erledigt ..." Joan ließ sich auf den geschnitzten Stuhl neben dem Kamin fallen und packte sich die Zeitschriften auf den Schoß.
"Wer kommt zum Essen?", fragte Alice. In New Harmony gehörte es dazu, abends gemeinsam mit anderen zu essen.
"Martin und Antonio. Das Finanzkomitee muss irgendwas entscheiden."
"Hast du Brot aus der Bäckerei mitgebracht?"
"Ja, natürlich", sagte Joan. Dann wedelte sie mit der rechten Hand, so als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. "Das heißt, vielleicht. Ich glaube schon."
Alice durchsuchte die Küche und fand einen Brotlaib, der ganz offensichtlich älter als drei Tage war. Sie schaltete den Ofen ein, schnitt das Brot der Länge nach durch, berieb es mit frischem Knoblauch und tropfte anschließend Olivenöl darüber. Während das Brot auf dem Backblech röstete, deckte sie den Tisch und holte die große Pastaschüssel aus dem Schrank. Als endlich alles fertig war, wollte sie, zum Zeichen des Protestes gegen die ganze Arbeit, schweigend an ihrer Mutter vorbeimarschieren. Aber Joan streckte einen Arm aus und griff nach ihrer Hand.
"Mein Liebes, ich danke dir. Ich habe großes Glück, so eine wundervolle Tochter zu haben."
Rund um New Harmony hatten die Späher ihre Posten bezogen; der Rest der Söldnertruppe verließ gerade das Hotel in San Lucas. Boone schickte eine E-Mail an Nash, den amtierenden Vorsitzenden der Bruderschaft. Minuten später bekam er eine Antwort: Die im Vorfeld besprochene Maßnahme ist hiermit bestätigt.
Boone rief den Fahrer des Geländewagens an, in dem das erste Team saß. "Begeben Sie sich zum Punkt Delta. Alle Mitarbeiter sollten jetzt ihre PTS-Tabletten einnehmen."
Jeder Söldner hatte einen kleinen Plastikbeutel mit zwei Tabletten gegen prätraumatischen Stress bekommen. Boones Leute nannten die Tabletten scherzhaft "Pitbull-Pillen"; sie vor einem Einsatz zu nehmen hieß, "seine Pits einzuwerfen". Das Medikament immunisierte einen Menschen in Gewaltsituationen vorübergehend gegen jegliches Mitleid oder Schuldgefühle.
Die PTS-Medikamente waren ursprünglich an der Harvard Universität entwickelt worden; Neurologen hatten entdeckt, dass Unfallopfer nach der Einnahme eines Herzmedikamentes namens Propranolol weniger schwere körperliche Traumata davontrugen. Wissenschaftler der Evergreen Foundation, der Forschungseinrichtung der Bruderschaft, erkannten die Bedeutung dieser Entdeckung schnell. Sie beschafften sich einen Forschungsauftrag vom US-Verteidigungsministerium, um die Auswirkungen des Stoffes auf Soldaten im Kriegseinsatz zu untersuchen. Bei Ekel, Angst und Schockzuständen dämpften PTS-Medikamente die Hormonausschüttung im Gehirn, was die Ausbildung traumatischer Erinnerungen verhinderte.
Nathan Boone hatte noch nie eine PTS-Tablette oder irgendein anderes Anti-Trauma-Medikament eingenommen. Wenn man an das, was man tat, wirklich glaubte, wenn man wusste, dass man sich im Recht befand -, dann gab es so etwas wie Schuldgefühle nicht.
Alice blieb in ihrem Zimmer, bis das Finanzkomitee vollzählig zum Abendessen erschienen war. Martin Greenwald kam als Erster; vorsichtig klopfte er an die Küchentür und wartete darauf, von Joan begrüßt zu werden. Martin war ein älterer Mann mit kurzen Beinen und dicken Brillengläsern. Er hatte in Houston ein Leben als erfolgreicher Geschäftsmann geführt, bis er eines Nachmittags eine Autopanne auf dem Highway hatte und ein Mann namens Matthew Corrigan anhielt, um ihm zu helfen. Wie sich herausstellte, war Matthew ein Traveler, ein spiritueller Lehrer, der über die Gabe verfügte, seinen Körper zu verlassen und Parallelwelten zu besuchen. Er hatte mehrere Wochen damit verbracht, den Greenwalds und ihren Freunden davon zu erzählen, dann hatte er sie bei einem letzten Treffen der Reihe nach umarmt und war einfach gegangen. In New Harmony setzte man die Vorstellungen des Travelers um: Es war der Versuch, außerhalb des Systems ein neues Leben zu führen.
Alice hatte die anderen Kinder über die Traveler reden hören, aber sie war sich nicht ganz sicher, wie das Ganze funktionierte. Sie wusste, dass es sechs verschiedene Welten gab, die sich Sphären nannten. Diese Welt - mit ihrem frisch gebackenen Brot und dem schmutzigen Geschirr - bildete die Vierte Sphäre. Die Dritte Sphäre war ein Wald mit freundlichen Tieren, das klang toll. Aber es gab auch die Sphäre der hungrigen Geister und einen anderen Ort, an dem sich alle ständig bekämpften.
Matthews Sohn Gabriel war ein junger Mann Mitte zwanzig, und er war ebenfalls ein Traveler. Im Oktober hatte er einmal in New Harmony übernachtet, in Begleitung eines Harlequins namens Maya. Inzwischen war Anfang Februar, und während die Erwachsenen immer noch über Gabriel redeten, stritten die Kinder fortwährend über den Harlequin. Ricky Cutler behauptete, dass Maya vermutlich Dutzende Menschen auf dem Gewissen habe und dass sie eine Technik beherrsche, die sich Tigerkralle nannte: Ein Schlag aufs Herz, und der Gegner ist tot. Alice kam zu dem Schluss, dass die Tigerkralle ein riesiger Schwindel war, den sich irgendjemand fürs Internet ausgedacht haben musste. Maya war ein ganz realer Mensch gewesen, eine junge Frau mit dickem, schwarzem Haar und gespenstisch blauen Augen, die ihr Schwert in einem Köcher über der Schulter trug.
Ein paar Minuten nach Martins Ankunft klopfte Antonio Cardenas an die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Antonio war ein großspuriger, athletischer Mann, der früher als Bauunternehmer in Houston gearbeitet hatte. Als die erste Gruppe das Tal besiedelte, hatte er die drei Windturbinen auf dem Hochplateau gebaut, die die Gemeinschaft mit Strom versorgten. Antonio war in New Harmony beliebt; einige der kleineren Jungen trugen ihre Werkzeuggürtel sogar auf dieselbe Art wie er, tief auf der Hüfte.
Die beiden Männer lächelten Alice an und erkundigten sich nach ihrem Cellounterricht. Man setzte sich an den Eichentisch, der wie die meisten anderen Möbel im Haus aus Mexiko kam. Die Nudeln wurden serviert, und die Erwachsenen fingen an, sich über Fragen des Finanzkomitees zu unterhalten. Die Bewohner von New Harmony hatten mittlerweile genug Geld gespart, um ein ausgeklügeltes Akkusystem zur Stromspeicherung anzuschaffen. Das gängige System ermöglichte es jeder Familie, einen Herd, einen Kühlschrank und zwei Heizlüfter zu betreiben. Mehr Akkus würden auch mehr Haushaltsgeräte bedeuten, und das war vielleicht keine gute Idee.
"Ich glaube, es wäre weitaus effizienter, die Waschmaschinen im Gemeinschaftszentrum zu belassen", sagte Martin. "Und ich glaube auch nicht, dass wir Espressomaschinen und Mikrowellen brauchen."
"Da muss ich widersprechen", sagte Joan. "Mikrowellen verbrauchen weniger Strom."
Antonio nickte. "Und ich hätte morgens gern einen Cappuccino."
Während Alice das benutzte Geschirr abräumte, warf sie einen Blick auf die Wanduhr über der Spüle. In Arizona war es Mittwoch und spät am Abend, was in Australien Donnerstagnachmittag bedeutete. Ihr blieben noch zehn Minuten, sich auf den Musikunterricht vorzubereiten. Die Erwachsenen merkten gar nicht, wie sie schnell ihren Wintermantel überzog, ihren Cellokoffer nahm und das Haus verließ.
Es schneite noch immer. Auf dem Weg von der Haustür zum Gartentor machten die Gummisohlen ihrer Arbeitsschuhe ein knirschendes Geräusch. Eine zwei Meter hohe Mauer aus Lehmziegeln umgab das Haus und den Gemüsegarten. Im Sommer hielt sie die Rehe fern. Letztes Jahr hatte Antonio ein breites Gartentor mit geschnitzten Szenen aus dem Garten Eden angebracht. Wenn man nah genug an das dunkle Eichenholz herantrat, konnte man Adam und Eva erkennen, einen blühenden Baum und eine Schlange.
Alice stieß das Tor auf und trat durch den Torbogen. Der Weg durchs Tal, der bis zum Gemeinschaftszentrum hinaufführte, war mit Schnee bedeckt, aber das störte sie nicht. Ihre Kerosinlampe schaukelte in den Schneeflocken hin und her. Der Schnee hatte Kiefern und Bergmahagoni bedeckt und einen Stapel Feuerholz in einen weißen Haufen verwandelt, der aussah wie ein schlafender Bär.
Das Gemeinschaftszentrum bestand aus vier großen Gebäuden, in deren Mitte ein Hof lag. In einem der Gebäude war die Schule für die älteren Kinder untergebracht, insgesamt acht Klassenzimmer, in denen online gelernt wurde. Ein Router in der Abstellkammer war über ein Kabel mit der Satellitenschüssel auf dem Hochplateau verbunden. Durch New Harmony liefen keine Telefonkabel, und Handys funktionierten im Tal nicht. Die Bewohner nutzten entweder das Internet oder das Satellitentelefon im Gemeinschaftszentrum.
Alice schaltete einen Computer ein, holte ihr Cello aus dem Koffer und schob einen Stuhl mit hoher Rückenlehne vor die Webcam. Sie wählte sich ins Internet ein, und einen Moment später erschien ihre Cellolehrerin auf dem Großbildmonitor. Miss Harwick war eine ältere Dame, die früher im Ensemble der Oper von Sydney gespielt hatte.
"Hast du geübt, Alice?"
"Ja, Madam."
"Dann lass uns heute mit Greensleeves beginnen."
Alice zog den Bogen über die Saiten, und ihr Körper absorbierte die tiefen Vibrationen der ersten Noten. Wenn sie Cello spielte, fühlte sie sich größer, bedeutender, und dieses Gefühl hielt noch Stunden nach dem Spielen an.
"Sehr gut", sagte Miss Harwick. "Jetzt spiele bitte Teil B noch einmal. Konzentriere dich diesmal auf die Tonlage im dritten Takt, und ..."
Plötzlich wurde der Bildschirm schwarz. Zuerst dachte Alice, es gäbe ein Problem mit dem Generator. Aber alle Lampen brannten noch, außerdem konnte sie die Lüftung des Computers leise brummen hören.
Als sie die Kabel überprüfte, öffnete sich quietschend die Tür, und Brian Bates kam ins Zimmer. Brian war ein fünfzehnjähriger Junge mit dunkelbraunen Augen und blonden Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Helen und Melissa fanden ihn süß, aber Alice redete über solche Sachen nicht gern. Sie und Brian waren als Musikschüler befreundet; er spielte Trompete und wurde von Lehrern in London und New Orleans unterrichtet.
"Hey, Celloissima. Ich wusste gar nicht, dass du heute Abend übst."
"Eigentlich habe ich gerade eine Stunde, aber der Computer ist plötzlich ausgegangen." "Hast du irgendwas angefasst?"
"Natürlich nicht. Ich bin online gegangen und habe mich bei Miss Harwick gemeldet. Bis vor ein paar Sekunden war alles okay."
"Keine Sorge. Ich bringe das in Ordnung. In vierzig Minuten habe ich eine Stunde bei einem neuen Lehrer in London. Er spielt beim Jazz Tribe."
Brian stellte den Trompetenkoffer ab und zog seinen Parka aus. "Wie läuft der Unterricht, Celloissima? Ich habe dich am Donnerstag spielen hören. Klang ziemlich gut.""Ich muss mir wohl auch einen Spitznamen für dich ausdenken", sagte Alice. "Wie wäre es mit Brianissima?"
"Wahrscheinlich vermissen sie jemanden", sagte Melissa. "Bestimmt hat sich irgendein Tourist auf der Suche nach den indianischen Ruinen verlaufen."
"Und jetzt wird es dunkel", sagte Alice. Es musste schlimm sein, sich so ganz allein wiederzufinden, dachte sie, und müde und verängstigt durch den Schnee zu stolpern.
Helen beugte sich vor und schlug Alice auf die Schulter. "Du bist dran!" Und schon rannten sie erneut los.
Unter dem Helikopter hingen ein Nachtsichtgerät und ein Thermo-Bildgenerator. Das Nachtsichtgerät fing das sichtbare Licht ebenso auf wie den unteren Bereich des Infrarotspektrums, während der Thermo-Bildgenerator jedes Objekt aufspürte, das Wärme ausstrahlte. Beide Geräte schickten ihre Daten an einen Computer, der alles zu einem einzigen Videobild kombinierte.
Knapp dreißig Kilometer vor New Harmony saß Nathan Boone auf der Rückbank eines ehemaligen Bäckerei-Lieferwagens, der zu einem Überwachungsfahrzeug ausgebaut worden war. Er nippte an seinem Kaffee - schwarz, ohne Zucker und starrte auf den Monitor, auf dem ein Schwarzweißbild von New Harmony auftauchte.
Der Sicherheitschef der Bruderschaft war ein akkurat gekleideter Mann mit kurzem, grauem Haar und Nickelbrille. Er hatte eine ernste, beinahe herablassende Art. Polizisten und Grenzschützer sagten bei der ersten Begegnung mit ihm stets "Ja, Sir", und Zivilisten senkten für gewöhnlich den Blick, wenn er sie ansprach.
Boone hatte schon während seiner Militärzeit mit Nachtsichtgeräten gearbeitet, aber die neue Dualkamera bedeutete einen echten Fortschritt. Jetzt konnte er Ziele sowohl außerhalb auch als innerhalb von Gebäuden gleichzeitig sichten: Eine Person spazierte vor dem Haus zwischen Bäumen umher, die andere stand in der Küche und spülte Geschirr. Noch hilfreicher war, dass der Computer die Lichtquellen neuerdings bewerten und mit hoher Trefferquote einschätzen konnte, ob es sich bei einem Objekt um einen Menschen oder eine heiße Bratpfanne handelte. Boone betrachtete die Kamera als einen Beweis für seine These, dass Wissenschaft und Technik - die Zukunft insgesamt, wenn man so wollte -auf seiner Seite waren.
George Cossette, der andere Mann im Lieferwagen, war ein Überwachungsexperte, den man aus Genf eingeflogen hatte. Er war ein blasser, junger Mann mit unglaublich vielen Lebensmittelallergien. Während der achttägigen Observierung hatte er gelegentlich den bordeigenen Internetanschluss genutzt, um auf Plastikfiguren von Comic-Helden zu bieten.
"Geben Sie mir eine Zahl", sagte Boone, den Blick unentwegt auf die Übertragung aus dem Helikopter gerichtet.
Cossette konzentrierte sich auf den Computerbildschirm und tippte Befehle ein. "Alle Wärmequellen oder nur die menschlichen?"
"Nur die menschlichen. Danke."
Klick. Klick. Cossettes Finger flogen über die Tastatur. Wenige Sekunden später erschienen die Umrisse der achtundsechzig Einwohner von New Harmony auf dem Bildschirm.
"Wie exakt ist das?"
"Zwischen achtundneunzig und neunundneunzig Prozent. Eventuell haben wir eine oder zwei Personen übersehen, die sich am Rand des Scannerfeldes aufhalten."
Boone nahm seine Brille ab, putzte sie mit einem kleinen Flanelltuch und betrachtete das Video ein zweites Mal. Seit vielen Jahren predigten die Traveler und ihre Wegweiser vom so genannten "Licht" im Innern eines jeden Menschen. Inzwischen hatte man aus dem wirklichen Licht - nicht dem von der spirituellen Art - eine neue Detektionsmethode entwickelt. Es war unmöglich geworden, sich zu verstecken, selbst bei Dunkelheit.
Alice betrat die Küche, und die Schneeflocken, die in ihren Haaren hingen, schmolzen, noch bevor sie ihre Jacke ausgezogen hatte. Das Haus ihrer Familie war im Stil des amerikanischen Südwestens gebaut, mit einem Flachdach, kleinen Fenstern und wenigen Außenverzierungen. Wie alle anderen Häuser im Tal war auch dieses aus Stroh - in den Wänden steckten ganze Ballen davon, von Stahlstangen zusammengehalten und mit wasserdichtem Putz abgedeckt. Ein einziger, großer Raum mit Küche und Wohnzimmer nahm das Erdgeschoss ein, und über eine offene Treppe gelangte man nach oben ins Schlafloft. Von dort gingen Türen in Alices Zimmer, ins Büro und ins Bad ab. Weil die Wände so dick waren, sahen alle Fensternischen wie kleine Alkoven aus. In dem in der Küche stand eine Schale mit unreifen Avocados, daneben lagen ein paar alten Knochen, die sie draußen in der Wüste gefunden hatten.
Der Topf auf dem Elektroherd blubberte vor sich hin, und die Fenster waren beschlagen. An kalten Abenden wie diesem hatte Alice das Gefühl, in einer Raumkapsel zu leben, die auf den Grund einer tropischen Lagune gesunken war. Wischte sie die Feuchtigkeit vom Fensterglas, könnte sie draußen bestimmt einen Lotsenfisch vor weißen Korallen vorbeischwimmen sehen.
Wie immer hatte ihre Mutter die Küche in einem chaotischen Zustand hinterlassen - schmutzige Schüsseln und Löffel, Basilikumstängel und eine offene Mehldose, die nur auf die Mäuse zu warten schien. Während Alice sich an die Arbeit machte, die Lebensmittel wegräumte und Krümel aufwischte, schwang ihr schwarzer Zopf hin und her. Sie spülte die Rührschüsseln und Löffel ab und legte sie auf ein sauberes Geschirrtuch wie Skalpelle auf einen OP-Tisch. Als sie gerade das Mehl zurückstellte, kam ihre Mutter mit einem Stapel medizinischer Fachzeitschriften unter dem Arm vom Schlafloft herunter.
Dr. Joan Chen war eine zierliche Frau mit kurzem, schwarzem Haar. Sie war Ärztin und mit ihrer Tochter nach New Harmony gekommen, nachdem ihr Mann bei einem Autounfall sein Leben verloren hatte. Jeden Abend vor dem Essen zog Joan sich um und tauschte ihre Jeans und das Flanellhemd gegen einen langen Rock und eine Seidenbluse.
"Danke, mein Schatz. Du hättest nicht aufräumen müssen. Das hätte ich später erledigt ..." Joan ließ sich auf den geschnitzten Stuhl neben dem Kamin fallen und packte sich die Zeitschriften auf den Schoß.
"Wer kommt zum Essen?", fragte Alice. In New Harmony gehörte es dazu, abends gemeinsam mit anderen zu essen.
"Martin und Antonio. Das Finanzkomitee muss irgendwas entscheiden."
"Hast du Brot aus der Bäckerei mitgebracht?"
"Ja, natürlich", sagte Joan. Dann wedelte sie mit der rechten Hand, so als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. "Das heißt, vielleicht. Ich glaube schon."
Alice durchsuchte die Küche und fand einen Brotlaib, der ganz offensichtlich älter als drei Tage war. Sie schaltete den Ofen ein, schnitt das Brot der Länge nach durch, berieb es mit frischem Knoblauch und tropfte anschließend Olivenöl darüber. Während das Brot auf dem Backblech röstete, deckte sie den Tisch und holte die große Pastaschüssel aus dem Schrank. Als endlich alles fertig war, wollte sie, zum Zeichen des Protestes gegen die ganze Arbeit, schweigend an ihrer Mutter vorbeimarschieren. Aber Joan streckte einen Arm aus und griff nach ihrer Hand.
"Mein Liebes, ich danke dir. Ich habe großes Glück, so eine wundervolle Tochter zu haben."
Rund um New Harmony hatten die Späher ihre Posten bezogen; der Rest der Söldnertruppe verließ gerade das Hotel in San Lucas. Boone schickte eine E-Mail an Nash, den amtierenden Vorsitzenden der Bruderschaft. Minuten später bekam er eine Antwort: Die im Vorfeld besprochene Maßnahme ist hiermit bestätigt.
Boone rief den Fahrer des Geländewagens an, in dem das erste Team saß. "Begeben Sie sich zum Punkt Delta. Alle Mitarbeiter sollten jetzt ihre PTS-Tabletten einnehmen."
Jeder Söldner hatte einen kleinen Plastikbeutel mit zwei Tabletten gegen prätraumatischen Stress bekommen. Boones Leute nannten die Tabletten scherzhaft "Pitbull-Pillen"; sie vor einem Einsatz zu nehmen hieß, "seine Pits einzuwerfen". Das Medikament immunisierte einen Menschen in Gewaltsituationen vorübergehend gegen jegliches Mitleid oder Schuldgefühle.
Die PTS-Medikamente waren ursprünglich an der Harvard Universität entwickelt worden; Neurologen hatten entdeckt, dass Unfallopfer nach der Einnahme eines Herzmedikamentes namens Propranolol weniger schwere körperliche Traumata davontrugen. Wissenschaftler der Evergreen Foundation, der Forschungseinrichtung der Bruderschaft, erkannten die Bedeutung dieser Entdeckung schnell. Sie beschafften sich einen Forschungsauftrag vom US-Verteidigungsministerium, um die Auswirkungen des Stoffes auf Soldaten im Kriegseinsatz zu untersuchen. Bei Ekel, Angst und Schockzuständen dämpften PTS-Medikamente die Hormonausschüttung im Gehirn, was die Ausbildung traumatischer Erinnerungen verhinderte.
Nathan Boone hatte noch nie eine PTS-Tablette oder irgendein anderes Anti-Trauma-Medikament eingenommen. Wenn man an das, was man tat, wirklich glaubte, wenn man wusste, dass man sich im Recht befand -, dann gab es so etwas wie Schuldgefühle nicht.
Alice blieb in ihrem Zimmer, bis das Finanzkomitee vollzählig zum Abendessen erschienen war. Martin Greenwald kam als Erster; vorsichtig klopfte er an die Küchentür und wartete darauf, von Joan begrüßt zu werden. Martin war ein älterer Mann mit kurzen Beinen und dicken Brillengläsern. Er hatte in Houston ein Leben als erfolgreicher Geschäftsmann geführt, bis er eines Nachmittags eine Autopanne auf dem Highway hatte und ein Mann namens Matthew Corrigan anhielt, um ihm zu helfen. Wie sich herausstellte, war Matthew ein Traveler, ein spiritueller Lehrer, der über die Gabe verfügte, seinen Körper zu verlassen und Parallelwelten zu besuchen. Er hatte mehrere Wochen damit verbracht, den Greenwalds und ihren Freunden davon zu erzählen, dann hatte er sie bei einem letzten Treffen der Reihe nach umarmt und war einfach gegangen. In New Harmony setzte man die Vorstellungen des Travelers um: Es war der Versuch, außerhalb des Systems ein neues Leben zu führen.
Alice hatte die anderen Kinder über die Traveler reden hören, aber sie war sich nicht ganz sicher, wie das Ganze funktionierte. Sie wusste, dass es sechs verschiedene Welten gab, die sich Sphären nannten. Diese Welt - mit ihrem frisch gebackenen Brot und dem schmutzigen Geschirr - bildete die Vierte Sphäre. Die Dritte Sphäre war ein Wald mit freundlichen Tieren, das klang toll. Aber es gab auch die Sphäre der hungrigen Geister und einen anderen Ort, an dem sich alle ständig bekämpften.
Matthews Sohn Gabriel war ein junger Mann Mitte zwanzig, und er war ebenfalls ein Traveler. Im Oktober hatte er einmal in New Harmony übernachtet, in Begleitung eines Harlequins namens Maya. Inzwischen war Anfang Februar, und während die Erwachsenen immer noch über Gabriel redeten, stritten die Kinder fortwährend über den Harlequin. Ricky Cutler behauptete, dass Maya vermutlich Dutzende Menschen auf dem Gewissen habe und dass sie eine Technik beherrsche, die sich Tigerkralle nannte: Ein Schlag aufs Herz, und der Gegner ist tot. Alice kam zu dem Schluss, dass die Tigerkralle ein riesiger Schwindel war, den sich irgendjemand fürs Internet ausgedacht haben musste. Maya war ein ganz realer Mensch gewesen, eine junge Frau mit dickem, schwarzem Haar und gespenstisch blauen Augen, die ihr Schwert in einem Köcher über der Schulter trug.
Ein paar Minuten nach Martins Ankunft klopfte Antonio Cardenas an die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Antonio war ein großspuriger, athletischer Mann, der früher als Bauunternehmer in Houston gearbeitet hatte. Als die erste Gruppe das Tal besiedelte, hatte er die drei Windturbinen auf dem Hochplateau gebaut, die die Gemeinschaft mit Strom versorgten. Antonio war in New Harmony beliebt; einige der kleineren Jungen trugen ihre Werkzeuggürtel sogar auf dieselbe Art wie er, tief auf der Hüfte.
Die beiden Männer lächelten Alice an und erkundigten sich nach ihrem Cellounterricht. Man setzte sich an den Eichentisch, der wie die meisten anderen Möbel im Haus aus Mexiko kam. Die Nudeln wurden serviert, und die Erwachsenen fingen an, sich über Fragen des Finanzkomitees zu unterhalten. Die Bewohner von New Harmony hatten mittlerweile genug Geld gespart, um ein ausgeklügeltes Akkusystem zur Stromspeicherung anzuschaffen. Das gängige System ermöglichte es jeder Familie, einen Herd, einen Kühlschrank und zwei Heizlüfter zu betreiben. Mehr Akkus würden auch mehr Haushaltsgeräte bedeuten, und das war vielleicht keine gute Idee.
"Ich glaube, es wäre weitaus effizienter, die Waschmaschinen im Gemeinschaftszentrum zu belassen", sagte Martin. "Und ich glaube auch nicht, dass wir Espressomaschinen und Mikrowellen brauchen."
"Da muss ich widersprechen", sagte Joan. "Mikrowellen verbrauchen weniger Strom."
Antonio nickte. "Und ich hätte morgens gern einen Cappuccino."
Während Alice das benutzte Geschirr abräumte, warf sie einen Blick auf die Wanduhr über der Spüle. In Arizona war es Mittwoch und spät am Abend, was in Australien Donnerstagnachmittag bedeutete. Ihr blieben noch zehn Minuten, sich auf den Musikunterricht vorzubereiten. Die Erwachsenen merkten gar nicht, wie sie schnell ihren Wintermantel überzog, ihren Cellokoffer nahm und das Haus verließ.
Es schneite noch immer. Auf dem Weg von der Haustür zum Gartentor machten die Gummisohlen ihrer Arbeitsschuhe ein knirschendes Geräusch. Eine zwei Meter hohe Mauer aus Lehmziegeln umgab das Haus und den Gemüsegarten. Im Sommer hielt sie die Rehe fern. Letztes Jahr hatte Antonio ein breites Gartentor mit geschnitzten Szenen aus dem Garten Eden angebracht. Wenn man nah genug an das dunkle Eichenholz herantrat, konnte man Adam und Eva erkennen, einen blühenden Baum und eine Schlange.
Alice stieß das Tor auf und trat durch den Torbogen. Der Weg durchs Tal, der bis zum Gemeinschaftszentrum hinaufführte, war mit Schnee bedeckt, aber das störte sie nicht. Ihre Kerosinlampe schaukelte in den Schneeflocken hin und her. Der Schnee hatte Kiefern und Bergmahagoni bedeckt und einen Stapel Feuerholz in einen weißen Haufen verwandelt, der aussah wie ein schlafender Bär.
Das Gemeinschaftszentrum bestand aus vier großen Gebäuden, in deren Mitte ein Hof lag. In einem der Gebäude war die Schule für die älteren Kinder untergebracht, insgesamt acht Klassenzimmer, in denen online gelernt wurde. Ein Router in der Abstellkammer war über ein Kabel mit der Satellitenschüssel auf dem Hochplateau verbunden. Durch New Harmony liefen keine Telefonkabel, und Handys funktionierten im Tal nicht. Die Bewohner nutzten entweder das Internet oder das Satellitentelefon im Gemeinschaftszentrum.
Alice schaltete einen Computer ein, holte ihr Cello aus dem Koffer und schob einen Stuhl mit hoher Rückenlehne vor die Webcam. Sie wählte sich ins Internet ein, und einen Moment später erschien ihre Cellolehrerin auf dem Großbildmonitor. Miss Harwick war eine ältere Dame, die früher im Ensemble der Oper von Sydney gespielt hatte.
"Hast du geübt, Alice?"
"Ja, Madam."
"Dann lass uns heute mit Greensleeves beginnen."
Alice zog den Bogen über die Saiten, und ihr Körper absorbierte die tiefen Vibrationen der ersten Noten. Wenn sie Cello spielte, fühlte sie sich größer, bedeutender, und dieses Gefühl hielt noch Stunden nach dem Spielen an.
"Sehr gut", sagte Miss Harwick. "Jetzt spiele bitte Teil B noch einmal. Konzentriere dich diesmal auf die Tonlage im dritten Takt, und ..."
Plötzlich wurde der Bildschirm schwarz. Zuerst dachte Alice, es gäbe ein Problem mit dem Generator. Aber alle Lampen brannten noch, außerdem konnte sie die Lüftung des Computers leise brummen hören.
Als sie die Kabel überprüfte, öffnete sich quietschend die Tür, und Brian Bates kam ins Zimmer. Brian war ein fünfzehnjähriger Junge mit dunkelbraunen Augen und blonden Haaren, die ihm bis auf die Schultern fielen. Helen und Melissa fanden ihn süß, aber Alice redete über solche Sachen nicht gern. Sie und Brian waren als Musikschüler befreundet; er spielte Trompete und wurde von Lehrern in London und New Orleans unterrichtet.
"Hey, Celloissima. Ich wusste gar nicht, dass du heute Abend übst."
"Eigentlich habe ich gerade eine Stunde, aber der Computer ist plötzlich ausgegangen." "Hast du irgendwas angefasst?"
"Natürlich nicht. Ich bin online gegangen und habe mich bei Miss Harwick gemeldet. Bis vor ein paar Sekunden war alles okay."
"Keine Sorge. Ich bringe das in Ordnung. In vierzig Minuten habe ich eine Stunde bei einem neuen Lehrer in London. Er spielt beim Jazz Tribe."
Brian stellte den Trompetenkoffer ab und zog seinen Parka aus. "Wie läuft der Unterricht, Celloissima? Ich habe dich am Donnerstag spielen hören. Klang ziemlich gut.""Ich muss mir wohl auch einen Spitznamen für dich ausdenken", sagte Alice. "Wie wäre es mit Brianissima?"
... weniger
Autoren-Porträt von John Twelve Hawks
John Twelve Hawks ist der Autor des internationalen Bestsellers "Traveler".
Bibliographische Angaben
- Autor: John Twelve Hawks
- 2008, 1, 443 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Eva Bonné
- Übersetzer: Eva Bonné
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442203198
- ISBN-13: 9783442203192
Rezension zu „Dark River “
»Ein brisanter Pageturner, der die reale Gefahr der totalen Überwachung auf die Matrix eines Cyber-Thrillers spannt.«
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