Das blutrote Parfüm
Historischer Roman. Originalausgabe
Blutrot ist dein Duft, blutrot soll dein Tod sein
1776: Amélies Ehe ist zu Ende. Ihr bleibt nur der Schatz ihres Wissens um das Parfümhandwerk. Keine kennt die Welt von Sandelholz und Lavendel wie sie. Sie kehrt auf den Mont-Saint-Michel...
1776: Amélies Ehe ist zu Ende. Ihr bleibt nur der Schatz ihres Wissens um das Parfümhandwerk. Keine kennt die Welt von Sandelholz und Lavendel wie sie. Sie kehrt auf den Mont-Saint-Michel...
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Produktinformationen zu „Das blutrote Parfüm “
Blutrot ist dein Duft, blutrot soll dein Tod sein
1776: Amélies Ehe ist zu Ende. Ihr bleibt nur der Schatz ihres Wissens um das Parfümhandwerk. Keine kennt die Welt von Sandelholz und Lavendel wie sie. Sie kehrt auf den Mont-Saint-Michel zurück und eröffnet zum Missfallen der Kirche eine Duftwerkstatt. Als sie vor ihrer Tür eine bestimmte Essenz findet, weiß sie, dass sie sterben soll, so bald ihr Mörder sein tödliches Parfüm für sie vollendet hat.
1776: Amélies Ehe ist zu Ende. Ihr bleibt nur der Schatz ihres Wissens um das Parfümhandwerk. Keine kennt die Welt von Sandelholz und Lavendel wie sie. Sie kehrt auf den Mont-Saint-Michel zurück und eröffnet zum Missfallen der Kirche eine Duftwerkstatt. Als sie vor ihrer Tür eine bestimmte Essenz findet, weiß sie, dass sie sterben soll, so bald ihr Mörder sein tödliches Parfüm für sie vollendet hat.
Klappentext zu „Das blutrote Parfüm “
Blutrot ist dein Duft, blutrot soll dein Tod sein1776: Amélies Ehe ist zu Ende. Ihr bleibt nur der Schatz ihres Wissens um das Parfümhandwerk. Keine kennt die Welt von Sandelholz und Lavendel wie sie. Sie kehrt auf den Mont-Saint-Michel zurück und eröffnet zum Missfallen der Kirche eine Duftwerkstatt. Als sie vor ihrer Tür eine bestimmte Essenz findet, weiß sie, dass sie sterben soll, so bald ihr Mörder sein tödliches Parfüm für sie vollendet hat.
"Ein ausgezeichneter, sehr gut recherchierter Erstling, dem hoffentlich noch viele Romane folgen."Frankfurter Stadtkurier über "Die Goldschmiedin"
Lese-Probe zu „Das blutrote Parfüm “
Das Blutrote Parfüm von Sina BeerwaldProlog
Nach Mitternacht erfüllte ein betörender, süß-holziger Duft die Räume des herrschaftlichen Hauses in der Pariser Rue Dauphine. Warm und weich schmiegte sich der Geruch in ihre Nase. Eine neue und besonders verwegene Parfümkreation, weil diese verbotene Lüste wecken konnte ...
Im Schein der Öllampe kniete sich Amélie in der Parfümwerkstatt nieder. Sie achtete darauf, mit dem Stoff ihres weißen Mousselinekleides den leicht gekrümmt vor sich am Boden liegenden Männerkörper nicht zu berühren. Mit einer letzten zärtlichen Geste schloss sie ihrem toten Ehemann die Augen, strich ihm vorsichtig die dunkelrot verfärbten, klebrigen Haare von der aufgeplatzten linken Schläfe, dort, wo der Tod seine Krallen hineingehauen hatte. Hassliebe wallte in ihr auf.
Neben dem Kopf der Leiche hob Amélie die Reste des zerbrochenen Flakons auf, vorsichtig, um sich nicht an den scharfen Glaskanten zu schneiden. Blassgelbes zähflüssiges Öl tropfte aus dem schön geschliffenen Fläschchen und vermischte sich mit dem Blut an ihren Fingern.
Fassungslos starrte sie die rötliche Spur des Todes an. Warum hatte es so weit kommen müssen? War das wirklich alles geschehen? Panik durchflutete sie. Wie einen Fremdkörper streckte sie ihre Hand weit von sich und ließ das Flakon fallen. Sie sprang auf und suchte nach einer Möglichkeit, sich die Zeichen der Schuld abzuwischen.
... mehr
Amélie hastete in der Parfümwerkstatt umher, dem Raum, von dem ihr Mann stets angenommen hatte, er sei ihr fremd. Doch sie kannte nahezu jede der über einhundert Essenzen in den Fläschchen: Orange, Sandelholz und Rose waren ihr längst vertraut, ebenso wie die schwierig zu bezähmenden animalischen Gerüche von Zibet, Moschus und Ambra. Schließlich war ihr Ehemann häufig und lange genug bei der Kundschaft und anderswo unterwegs ... Gewesen, fügte sie in Gedanken hinzu und glaubte, an dem ungesagten Wort zu ersticken.
Zitternd wanderten ihre Hände im Halbdunkel auf dem massiven Holztisch zwischen Flakons, Pipetten und Döschen hin und her, und endlich fand sie das klein zusammengefaltete Baumwolltuch zwischen den Bechergläsern, in das ihr Mann immer hineingeatmet hatte, um die vom Riechen angestrengte Nase zu beruhigen und wieder für neue Gerüche aufnahmefähig zu machen. Sie tränkte den Stoff mit reichlich Parfümalkohol und schrubbte ihre blutverschmierten Finger, bis das Brennen auf ihrer Haut in einem stechenden Schmerz gipfelte. Hektisch knüllte sie das mögliche Beweisstück zusammen, stopfte es in ihren Ausschnitt und griff nach der Öllampe.
Amélies Atem ging flach und stoßweise, und wie unter Zwang warf sie einen letzten Blick auf den Toten. Ihr stämmiger Ehemann lag halb auf dem Rücken, als sei er vor etwas zurückgewichen und dabei unglücklich gestolpert. Seine Beine waren leicht angewinkelt, der Kopf unnatürlich zur Seite gedreht. Dieses Bild verfolgte sie, als sie aus der Werkstatt lief.
Draußen mitten im langen Flur blieb sie abrupt stehen und horchte in die vom flackernden Lichtschein erhellte Dunkelheit. Ihre Tochter, wo war sie hingerannt?
Amélie eilte ein paar Türen weiter zu ihrem Zimmer. Da die Bediensteten alle im Seitenflügel des Anwesens schliefen, musste sie nicht befürchten, durch ein unbedachtes Geräusch jemandes Aufmerksamkeit zu erwecken.
In dem großen, mit kostbaren Schnitzmöbeln ausgestatteten Mädchenzimmer spürte Amélie die Anwesenheit ihrer fünfzehnjährigen Tochter. Nach kurzer Überlegung riss sie die vergoldete Kleiderschranktüre auf, und tatsächlich, Linnea kauerte in dem seit Kindertagen nicht mehr benutzten Versteck zwischen den bestickten Seidenkleidern, hielt die Knie mit den Armen umschlungen und sah ihr mit angstvoll geweiteten, tränennassen Augen entgegen.
»Es ist nichts passiert!«, herrschte Amélie ihre Tochter im Ausbruch der Verzweiflung an, fegte die bunten Stoffe achtlos beiseite, packte Linnea an der Schulter und schüttelte sie, was ihr zugleich leidtat.
»Hast du verstanden?«, rief sie und leuchtete ihr mit der Lampe ins Gesicht.
»Mon père«, schluchzte Linnea, jegliche Farbe war von ihren sommersprossigen Wangen gewichen. »Papa!«
»Vergiss die Bilder in deinem Kopf! Es ist nichts passiert, Linnea, hörst du, nichts ist passiert! Komm heraus und such deine Sachen zusammen! Wir machen eine kleine Reise.«
Immer noch hemmungslos weinend kletterte Linnea aus dem Schrank und blieb mit abgewandtem Kopf und leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper vor ihrer Mutter stehen.
»Sieh mich an!« Fordernd griff Amélie nach dem Kinn ihrer Tochter und erschrak selbst über die Härte ihrer Geste. Sie streichelte Linnea in wortloser Entschuldigung über die Wange und strich ein paar in Unordnung geratene rote Haare am Hinterkopf des Frisurenkunstwerks glatt, mit dem die Tochter ihren Vater an seinem heutigen, sechzigsten Geburtstag hatte beeindrucken wollen. Doch Alphonse de Maurier hatte es vorgezogen, der eigens für ihn arrangierten Feier mit über zweihundert geladenen Gästen von Beginn an fernzubleiben und sein Erscheinen nach Mitternacht hatte er damit gerechtfertigt, dass er bei der Präsentation seiner neuen Parfümkreationen von der Kundin in deren Hause aufgehalten worden sei.
Eine Ausrede, dachte Amélie. Längst gab sich Alphonse keine große Mühe mehr, etwas nach außen hin vor ihr zu verbergen. Ein Jahr lang hatte sie ihren Ehemann beschworen, der Familie zuliebe die Sache zu beenden. Zum Jahreswechsel hatte er es ihr versprochen, und vier Monate später immer noch nicht Wort gehalten.
Linnea hielt dem Blickkontakt nicht mehr stand, sie drehte sich von ihrer Mutter weg, und ihre angespannte Körperhaltung zeugte davon, dass sie am liebsten weggerannt wäre. Amélie überging ihre Abwehr, umarmte Linnea und drückte ihren Kopf sanft an ihre Brust, wo ihr Herz wild hämmerte.
Doch Linnea entzog sich ihr. »Der Geruch, Maman, ich halte den Geruch nicht aus!«
Erschrocken presste Amélie die Faust auf ihren Ausschnitt, aus dem der Duft des blutroten Parfüms strömte.
»Maman?« Linnea entzog sich ihr. »Es war ein Unfall, es war doch ein Unfall, nicht wahr, Maman?«
»Natürlich, meine Kleine, natürlich. Es war sicher keine Absicht - und jetzt kein Wort mehr davon. Schwör mir das!«
»Ich schwöre«, wiederholte Linnea in hilfloser Verzweiflung. »Aber Maman, wir können ihn doch nicht einfach da liegen ...«
»Kein Wort mehr!«, fuhr Amélie ihrer Tochter erneut über den Mund. Linnea tat die augenscheinliche mütterliche Härte sichtlich weh, doch Amélie fühlte sich nicht mehr als Herrin ihrer selbst, vielmehr war sie eine Gefangene des Geschehens. Was sollte sie jetzt tun? Ihre Gedanken kreisten wie von Windmühlenflügeln getrieben, und sie glaubte, jeden Moment den Verstand zu verlieren.
»Linnea, hör zu, du tust jetzt genau, was ich sage. Du packst sofort deine wichtigsten Habseligkeiten. Kleidung, Wäsche, ein paar Bücher! Aber wirklich nur das Notwendigste! Alles muss in eine Reisetruhe passen. Wenn dich jemand von den Bediensteten fragt, sagst du, wir werden zur Erholung wegfahren, während dein Vater auf eine längere Geschäftsreise nach England gehen musste. Ich kümmere mich um alles ...«, auch wenn mein Plan alles andere als durchdacht ist, setzte sie im Stillen hinzu.
***
1
Das blutrote Parfüm
»Ein ewiger Duft, dessen Rezept ich dir vorgeben werde, Essenz für Essenz.«
Zwei kräftige, hintereinander angeschirrte Rösser zogen mit gesenkten Köpfen den offenen Karren über das Watt. Unablässig schnaubten sie den Sand aus den Nüstern, die Muskeln spannten sich unter dem schwarzen, perlnass glänzenden Fell. Tiefe Räderspuren gruben sich in den goldgelben Sand, auf einer unberührten und einsamen Ebene von mörderischer Schönheit.
Halb sitzend, halb liegend kauerte Amélie auf einem schmalen Brett auf der rechten Vorderseite des Karrens, der für Erntefuhren, nicht aber für Personenreisen gebaut war. Mit dem Zipfel einer steif gewordenen Leinendecke, die das geladene Gut notdürftig bedeckte, schützte sich Amélie vor dem angriffslustigen Aprilwind. Eingepfercht zwischen waghalsig gestapelten, eilig festgezurrten Kisten saß ihre Tochter zähneklappernd auf der gegenüberliegenden Seite
und sorgte sich, dass sie die kostbare Ladung - das Einzige, was sie noch besaßen - nicht verloren.
Auf dem Festland, im Ort Genêts an der normannischen Küste, von wo aus Amélie zum ersten Mal wieder ihre Heimat draußen im Meer schemenhaft erblickt hatte, sangen bereits die Frühlingsboten ihr Lied, die Magnolienbäume öffneten ihre zartrosaweißen Knospen und verströmten einen seelenvollen, süßen Duft. Auf dieser schutzlosen Weite aber waren die Böen noch schneidend kalt.
»Maman«, rief Linnea, »wann sind wir endlich da? Und wohin fahren wir überhaupt? Warum sagst du mir das nicht endlich?« Ihre Stimme verriet die Zerrissenheit zwischen Miss trauen und blindem Vertrauen ihrer Mutter gegenüber.
Amélie entschloss sich, ihre Tochter nicht länger im Ungewissen zu lassen. »Wir sind ganz weit im Norden des Landes, Linnea. Und wir erreichen bald unser Ziel, eine Insel vor der Normandieküste.«
»Wir fahren auf den Mont-Saint-Michel?«, schlussfolgerte Linnea sofort mit ungläubiger Stimme, obwohl sie den Namen der Heimat ihrer Mutter einzig von knappen Erwähnungen her kannte. »Werden wir dort wohnen? Wer lebt da noch? Gibt es dort wilde Tiere? Erzähl mir davon!«
Amélie richtete ihren Blick in die Ferne. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, das Meer hatte sich bis zum Horizont zurückgezogen, und doch spürte sie den herannahenden gluckernden Wellensaum. Sie roch das Salz in der Luft, trocken und stechend klebte es in ihren Nasenflügeln. Die Gefahr des auflaufenden Wassers lauerte in ihrem Rücken - man sagte, die Flut nähere sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes.
»Da gibt es auch nicht viel zu erzählen!«, erwiderte Amélie. »Es ist eine kleine vorgelagerte Insel, wie du weißt, und ich war seit rund zwanzig Jahren nicht mehr dort. Das ist alles.« Ihr stand jetzt nicht der Sinn nach vielen Worten, zu übermächtig war ihre nervöse Anspannung.
Die ungewöhnlich groß gebauten Kutschenräder drehten sich knirschend und unablässig im Sand mahlend wie Mühlsteine. Stillstand an der falschen Stelle bedeutete den Tod, das Versinken in einer Falle auf sicher geglaubtem Boden. Der Treibsand verschlang alles, was sein gieriges Maul fassen konnte, zog die Beine eines Menschen an den Knöcheln in die Tiefe, und je mehr sich derjenige wehrte, desto schneller sank sein Körper ein, bis nur noch Schultern und Kopf herausschauten. Gänzlich verschlungen wurde ein Mensch nur in sagenumwobenen Legenden; tatsächlich war es die aufkommende Flut, die die hilflosen Schreie der Todgeweihten erstickte und binnen eines Augenblicks das qualvoll begonnene Werk ihres Komplizen vollendete.
Der schwarz gekleidete Kutscher trieb die Pferde an. Gebeugt saß er unmittelbar vor ihnen auf dem behelfsmäßig wirkenden Kutschbock, die angewinkelten Füße auf der Deichsel abgestützt. Aus dem Handgelenk ließ er die Peitsche knallen und die Schnur dicht über den Rücken der Tiere hinwegsausen. Er hatte nach der Preisverhandlung in Genêts nicht einmal seinen Namen genannt, nur mit einem Nicken seine Zustimmung kundgetan und danach ohne ein Wort die schweren Kisten auf den Karren gehoben. Seiner sehnigen Gestalt war die in ihr steckende Kraft nicht anzusehen, und es fiel Amélie schwer, sein Alter zu bestimmen, er konnte erst knapp dreißig, aber auch schon über vierzig sein. Sein Äußeres jedenfalls, seine geflickte, nachlässige Kleidung, die zerzausten, schulterlangen schwarzen Locken, sein struppiger, bis auf die Brust reichender, salzverkrusteter Vollbart machten ihn zu einem von jenen Menschen, denen Amélie in Paris aus dem Weg zu gehen gelernt hatte.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte Amélie im spontanen Bemühen, sich den Fremden ein wenig vertraut zu machen.
Der Kutscher drehte sich halb um, und im Ausdruck seiner wasserblauen Augen lag spöttische Belustigung. »Brauchen Sie unbedingt einen Namen für mich? Dann nennen Sie mich Montagnard.«
Bergbewohner? Amélie lag eine Nachfrage auf der Zunge, doch er hatte sich bereits wieder nach vorne gewandt, um jegliche Fortsetzung des Gesprächs im Keim zu ersticken. Ausgesprochen redselig, dieser Montagnard, dachte sie. Leider war er jedoch der einzige Kutscher auf dem Festland gewesen, der spät an diesem Vormittag noch auf Kundschaft gewartet hatte.
Die widrigen Wegbedingungen fochten den Kutscher nicht an, mit stoischem Gesichtsausdruck, die kräftigen Augenbrauen zusammengezogen, behielt er sein Ziel im Blick.
Die schemenhaften Umrisse des Mont-Saint-Michel traten allmählich klarer aus dem Dunst hervor, so als zöge jemand ein hauchdünnes Tuch über dem verwaschenen, graublauen Steinhaufen fort. Der mit jeder Minute deutlicher ins Goldbraune changierende Felsen erhob sich aus dem Wasser wie zum Gebet gefaltete, gichtgekrümmte Hände und schwoll zu majestätischer Größe an.
Unzählige kleine Steinhäuser knieten dicht gedrängt in starrer Anbetung vor der über ihnen thronenden Kirche. Die Fialen am Strebewerk der Kathedrale ragten wie Stacheln in den Himmel, umsäumt von einer unüberschaubaren Fülle an Verzierungen, Säulen, Bögen, Türmchen und Wasserspeiern. Ein unwirklicher und verwunschener Ort. So als habe Gott dieses unliebsame Gewächs einst mit spitzen Fingern am Kirchturm gepackt, samt den umliegenden Häusern mit dem Wurzelballen aus der Erde gerissen, in diesem Niemandsland hier fallen gelassen und dem Vergessen anheimgestellt.
Mit ehrfurchtsvollem Erstaunen und wachsender Neugierde betrachtete Amélie ihre Heimat, Erinnerungen flochten sich in ihre Gedanken, sie saugte die Fülle an Eindrücken in sich auf und konnte sich kaum sattsehen.
Wie viel hatte sich wohl verändert? Tief in ihrem Herzen kannte Amélie die Antwort: Nichts. Auf dem Mont war die Lebensweise der Bewohner festgeschrieben wie die von Moses in Stein gemeißelten Gebote. Alles würde noch so sein wie damals. Ein beruhigender und zugleich auch ein wenig erschreckender Gedanke. Wie mochte das näher rückende Ende der Reise wohl auf Linnea wirken? Amélie warf einen Seitenblick auf ihre Tochter und schloss aus deren fahrigen Beinbewegungen auf eine zunehmende Unruhe des Mädchens.
»Wie geht es dir?«, schrie Amélie, um das Rädergeräusch zu übertönen.
»Gut, aber ich kann ... ich kann die Kiste ... sie rutscht!«, hörte Amélie gerade noch, dann folgte der schmatzende Aufprall auf dem Sandboden.
»Kutscher, anhalten!«, rief Linnea voller Entsetzen und machte sich zum Absprung bereit.
»Kind, um Gottes willen, nicht! Nicht springen!« Amélie rappelte sich auf.
Gerade noch rechtzeitig drehte sich Montagnard auf dem Kutschbock um, packte Linnea am Arm und bugsierte sie mit einer energischen Bewegung zurück. »Hier ist dein Platz, junges Fräulein!«
»Aber ich will ...«
»Du willst dich umbringen, ja?«, schnitt der Kutscher ihr das Wort ab.
»Wir müssen die Sachen retten!«, rief Linnea.
Amélie versuchte ihre Tochter zu beruhigen und schaute dabei der Kiste nach. Da erkannte sie den roten Strich, mit dem sie den Deckel markiert hatte. Ihr wurde heiß und kalt. »Meine Tochter hat Recht!«, redete sie auf den Kutscher ein. Amélie gelang es aufzustehen, schwankend suchte sie auf der engen Trittstelle das Gleichgewicht.
Die Peitsche knallte dicht neben ihr. »Solange ich auf dem Kutschbock sitze, verlässt niemand dieses Gefährt!«, brüllte Montagnard. »Kein verfluchtes Gepäckstück auf dieser Welt ist ein Menschenleben wert!«
Erschrocken über seinen Ausbruch setzte sich Amélie wieder hin, aber den Verlust konnte und wollte sie nicht hinnehmen. Die Augen gegen die Sonne abgeschirmt schaute sie in Richtung der verlorenen Habe. Rund acht Pferdelängen weit lag diese nun schon entfernt, und der Abstand wurde immer größer. Sie rang mit sich, dachte daran, ihr eigenes Leben zu riskieren, um ihrer beider Zukunft zu retten.
Ruckartig stand sie wieder auf. Sie bahnte sich einen Weg an Montagnards Kutschbock vorbei und sprang.
Zuerst landete sie auf den Füßen, doch im Schwung fiel sie nach vorn, ihre Hände griffen in den nassen Sand, ihre Knie wurden feucht. Mühsam rappelte sie sich auf, zwei Schritte, noch zwei Schritte, dann sank sie bis über die Knöchel ein. Panik wallte in ihr auf, sie versuchte sie zu verdrängen und nicht zurückzuschauen. Weiter, weiter, dachte sie nur. Sie verlor einen Schuh, den anderen.
»Maman!«, schrie Linnea. »Komm zurück!«
Amélie drehte sich um. Die Kutsche hatte die Fahrt verlangsamt und schien doch bereits unerreichbar weit weg. Wohin jetzt? Die kalte Sandmasse umschloss schon ihre Waden, kroch weiter ihren Weg der drohenden Vernichtung.
»Nicht bewegen!« Montagnard warf ihr das Ende eines langen Seils zu, und es landete genau vor ihren Füßen, Wasser spritzte auf. »Halten Sie sich daran fest und dann langsam, langsam zu uns zurückgehen!«
Amélie hielt die Luft an, sie drehte sich noch ein letztes Mal nach der Kiste um, dann krallten sich ihre Finger um das Seil, sie redete sich ein, ihre Füße steckten nicht in einer tödlichen Falle, während sie sich zu retten versuchte, begleitet durch die schluchzenden Schreie ihrer Tochter.
Ihr Herz raste, als sie endlich das große Kutschenrad zu fassen bekam. Mit zitternden Beinen und letzter Kraft kletterte sie in den sich weiter fortbewegenden Wagen, wobei ihr der Kutscher nun nicht mehr half. Mit verschlossener Miene rollte Montagnard das Seil auf, richtete den Blick nach vorn und nahm die Zügel wieder auf.
»Maman!«, rief Linnea erleichtert.
Mein Gott, dachte Amélie, wie schnell war das gegangen, wie leichtfertig hatte sie ihr Leben riskiert und ihre Tochter beinahe als Waisenkind zurückgelassen.
»Es ist alles gut, Linnea, alles gut. Wir sind bald da. Es ist nichts passiert ...« Plötzlich beunruhigt tastete sie in ihrer Rocktasche nach dem Münzbeutel und stellte erleichtert fest, dass er noch da war.
»Was war in der Kiste, Maman?«
»Nichts Wichtiges, mein Mädchen, nichts Wichtiges «, versuchte Amélie sie auf andere Gedanken zu bringen. Erschöpft nahm sie ihre unbequeme Position auf dem schmalen Brett wieder ein und atmete tief durch. Nichts Wichtiges, nur unersetzbar wertvolle Parfümessenzen, die Grundlage, auf der ich unser neues Leben aufbauen wollte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schloss ihre Lider, damit niemand ihre Verzweiflung sehen konnte.
***
Die Zeit bis zur Ankunft verging ihr plötzlich viel zu schnell. Amélie öffnete die Augen, als der Kutscher das Ende der Fahrt ankündigte. Für ihr Gefühl waren kaum fünf Minuten vergangen, aber der Zwischenfall im Watt musste der zurückgelegten Strecke nach zu urteilen gut eine halbe Stunde her sein. Sie fuhren entlang der hohen Ringmauern des Berges, die sich im seichten Wasser spiegelten. Auf den beiden südlichen Wachtürmen seitlich des Haupttores schlugen die rotgelben Fahnen sanft im böig auffrischenden Wind, es wirkte wie ein freudiges Zuwinken.
Amélie hörte die ersten Geräusche aus dem Dorf, Hufgeklapper, Kindergeschrei und Hundegebell hallten aus den engen Gassen, wo sich schindelgedeckte Steinhäuser aneinanderlehnten, krumm und gebeugt wie altersschwache Menschen. Amélie versuchte ihr Elternhaus weit oben auszumachen und war erleichtert, es noch stehen zu sehen. Doch aus dem verfal
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Amélie hastete in der Parfümwerkstatt umher, dem Raum, von dem ihr Mann stets angenommen hatte, er sei ihr fremd. Doch sie kannte nahezu jede der über einhundert Essenzen in den Fläschchen: Orange, Sandelholz und Rose waren ihr längst vertraut, ebenso wie die schwierig zu bezähmenden animalischen Gerüche von Zibet, Moschus und Ambra. Schließlich war ihr Ehemann häufig und lange genug bei der Kundschaft und anderswo unterwegs ... Gewesen, fügte sie in Gedanken hinzu und glaubte, an dem ungesagten Wort zu ersticken.
Zitternd wanderten ihre Hände im Halbdunkel auf dem massiven Holztisch zwischen Flakons, Pipetten und Döschen hin und her, und endlich fand sie das klein zusammengefaltete Baumwolltuch zwischen den Bechergläsern, in das ihr Mann immer hineingeatmet hatte, um die vom Riechen angestrengte Nase zu beruhigen und wieder für neue Gerüche aufnahmefähig zu machen. Sie tränkte den Stoff mit reichlich Parfümalkohol und schrubbte ihre blutverschmierten Finger, bis das Brennen auf ihrer Haut in einem stechenden Schmerz gipfelte. Hektisch knüllte sie das mögliche Beweisstück zusammen, stopfte es in ihren Ausschnitt und griff nach der Öllampe.
Amélies Atem ging flach und stoßweise, und wie unter Zwang warf sie einen letzten Blick auf den Toten. Ihr stämmiger Ehemann lag halb auf dem Rücken, als sei er vor etwas zurückgewichen und dabei unglücklich gestolpert. Seine Beine waren leicht angewinkelt, der Kopf unnatürlich zur Seite gedreht. Dieses Bild verfolgte sie, als sie aus der Werkstatt lief.
Draußen mitten im langen Flur blieb sie abrupt stehen und horchte in die vom flackernden Lichtschein erhellte Dunkelheit. Ihre Tochter, wo war sie hingerannt?
Amélie eilte ein paar Türen weiter zu ihrem Zimmer. Da die Bediensteten alle im Seitenflügel des Anwesens schliefen, musste sie nicht befürchten, durch ein unbedachtes Geräusch jemandes Aufmerksamkeit zu erwecken.
In dem großen, mit kostbaren Schnitzmöbeln ausgestatteten Mädchenzimmer spürte Amélie die Anwesenheit ihrer fünfzehnjährigen Tochter. Nach kurzer Überlegung riss sie die vergoldete Kleiderschranktüre auf, und tatsächlich, Linnea kauerte in dem seit Kindertagen nicht mehr benutzten Versteck zwischen den bestickten Seidenkleidern, hielt die Knie mit den Armen umschlungen und sah ihr mit angstvoll geweiteten, tränennassen Augen entgegen.
»Es ist nichts passiert!«, herrschte Amélie ihre Tochter im Ausbruch der Verzweiflung an, fegte die bunten Stoffe achtlos beiseite, packte Linnea an der Schulter und schüttelte sie, was ihr zugleich leidtat.
»Hast du verstanden?«, rief sie und leuchtete ihr mit der Lampe ins Gesicht.
»Mon père«, schluchzte Linnea, jegliche Farbe war von ihren sommersprossigen Wangen gewichen. »Papa!«
»Vergiss die Bilder in deinem Kopf! Es ist nichts passiert, Linnea, hörst du, nichts ist passiert! Komm heraus und such deine Sachen zusammen! Wir machen eine kleine Reise.«
Immer noch hemmungslos weinend kletterte Linnea aus dem Schrank und blieb mit abgewandtem Kopf und leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper vor ihrer Mutter stehen.
»Sieh mich an!« Fordernd griff Amélie nach dem Kinn ihrer Tochter und erschrak selbst über die Härte ihrer Geste. Sie streichelte Linnea in wortloser Entschuldigung über die Wange und strich ein paar in Unordnung geratene rote Haare am Hinterkopf des Frisurenkunstwerks glatt, mit dem die Tochter ihren Vater an seinem heutigen, sechzigsten Geburtstag hatte beeindrucken wollen. Doch Alphonse de Maurier hatte es vorgezogen, der eigens für ihn arrangierten Feier mit über zweihundert geladenen Gästen von Beginn an fernzubleiben und sein Erscheinen nach Mitternacht hatte er damit gerechtfertigt, dass er bei der Präsentation seiner neuen Parfümkreationen von der Kundin in deren Hause aufgehalten worden sei.
Eine Ausrede, dachte Amélie. Längst gab sich Alphonse keine große Mühe mehr, etwas nach außen hin vor ihr zu verbergen. Ein Jahr lang hatte sie ihren Ehemann beschworen, der Familie zuliebe die Sache zu beenden. Zum Jahreswechsel hatte er es ihr versprochen, und vier Monate später immer noch nicht Wort gehalten.
Linnea hielt dem Blickkontakt nicht mehr stand, sie drehte sich von ihrer Mutter weg, und ihre angespannte Körperhaltung zeugte davon, dass sie am liebsten weggerannt wäre. Amélie überging ihre Abwehr, umarmte Linnea und drückte ihren Kopf sanft an ihre Brust, wo ihr Herz wild hämmerte.
Doch Linnea entzog sich ihr. »Der Geruch, Maman, ich halte den Geruch nicht aus!«
Erschrocken presste Amélie die Faust auf ihren Ausschnitt, aus dem der Duft des blutroten Parfüms strömte.
»Maman?« Linnea entzog sich ihr. »Es war ein Unfall, es war doch ein Unfall, nicht wahr, Maman?«
»Natürlich, meine Kleine, natürlich. Es war sicher keine Absicht - und jetzt kein Wort mehr davon. Schwör mir das!«
»Ich schwöre«, wiederholte Linnea in hilfloser Verzweiflung. »Aber Maman, wir können ihn doch nicht einfach da liegen ...«
»Kein Wort mehr!«, fuhr Amélie ihrer Tochter erneut über den Mund. Linnea tat die augenscheinliche mütterliche Härte sichtlich weh, doch Amélie fühlte sich nicht mehr als Herrin ihrer selbst, vielmehr war sie eine Gefangene des Geschehens. Was sollte sie jetzt tun? Ihre Gedanken kreisten wie von Windmühlenflügeln getrieben, und sie glaubte, jeden Moment den Verstand zu verlieren.
»Linnea, hör zu, du tust jetzt genau, was ich sage. Du packst sofort deine wichtigsten Habseligkeiten. Kleidung, Wäsche, ein paar Bücher! Aber wirklich nur das Notwendigste! Alles muss in eine Reisetruhe passen. Wenn dich jemand von den Bediensteten fragt, sagst du, wir werden zur Erholung wegfahren, während dein Vater auf eine längere Geschäftsreise nach England gehen musste. Ich kümmere mich um alles ...«, auch wenn mein Plan alles andere als durchdacht ist, setzte sie im Stillen hinzu.
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Das blutrote Parfüm
»Ein ewiger Duft, dessen Rezept ich dir vorgeben werde, Essenz für Essenz.«
Zwei kräftige, hintereinander angeschirrte Rösser zogen mit gesenkten Köpfen den offenen Karren über das Watt. Unablässig schnaubten sie den Sand aus den Nüstern, die Muskeln spannten sich unter dem schwarzen, perlnass glänzenden Fell. Tiefe Räderspuren gruben sich in den goldgelben Sand, auf einer unberührten und einsamen Ebene von mörderischer Schönheit.
Halb sitzend, halb liegend kauerte Amélie auf einem schmalen Brett auf der rechten Vorderseite des Karrens, der für Erntefuhren, nicht aber für Personenreisen gebaut war. Mit dem Zipfel einer steif gewordenen Leinendecke, die das geladene Gut notdürftig bedeckte, schützte sich Amélie vor dem angriffslustigen Aprilwind. Eingepfercht zwischen waghalsig gestapelten, eilig festgezurrten Kisten saß ihre Tochter zähneklappernd auf der gegenüberliegenden Seite
und sorgte sich, dass sie die kostbare Ladung - das Einzige, was sie noch besaßen - nicht verloren.
Auf dem Festland, im Ort Genêts an der normannischen Küste, von wo aus Amélie zum ersten Mal wieder ihre Heimat draußen im Meer schemenhaft erblickt hatte, sangen bereits die Frühlingsboten ihr Lied, die Magnolienbäume öffneten ihre zartrosaweißen Knospen und verströmten einen seelenvollen, süßen Duft. Auf dieser schutzlosen Weite aber waren die Böen noch schneidend kalt.
»Maman«, rief Linnea, »wann sind wir endlich da? Und wohin fahren wir überhaupt? Warum sagst du mir das nicht endlich?« Ihre Stimme verriet die Zerrissenheit zwischen Miss trauen und blindem Vertrauen ihrer Mutter gegenüber.
Amélie entschloss sich, ihre Tochter nicht länger im Ungewissen zu lassen. »Wir sind ganz weit im Norden des Landes, Linnea. Und wir erreichen bald unser Ziel, eine Insel vor der Normandieküste.«
»Wir fahren auf den Mont-Saint-Michel?«, schlussfolgerte Linnea sofort mit ungläubiger Stimme, obwohl sie den Namen der Heimat ihrer Mutter einzig von knappen Erwähnungen her kannte. »Werden wir dort wohnen? Wer lebt da noch? Gibt es dort wilde Tiere? Erzähl mir davon!«
Amélie richtete ihren Blick in die Ferne. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel, das Meer hatte sich bis zum Horizont zurückgezogen, und doch spürte sie den herannahenden gluckernden Wellensaum. Sie roch das Salz in der Luft, trocken und stechend klebte es in ihren Nasenflügeln. Die Gefahr des auflaufenden Wassers lauerte in ihrem Rücken - man sagte, die Flut nähere sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes.
»Da gibt es auch nicht viel zu erzählen!«, erwiderte Amélie. »Es ist eine kleine vorgelagerte Insel, wie du weißt, und ich war seit rund zwanzig Jahren nicht mehr dort. Das ist alles.« Ihr stand jetzt nicht der Sinn nach vielen Worten, zu übermächtig war ihre nervöse Anspannung.
Die ungewöhnlich groß gebauten Kutschenräder drehten sich knirschend und unablässig im Sand mahlend wie Mühlsteine. Stillstand an der falschen Stelle bedeutete den Tod, das Versinken in einer Falle auf sicher geglaubtem Boden. Der Treibsand verschlang alles, was sein gieriges Maul fassen konnte, zog die Beine eines Menschen an den Knöcheln in die Tiefe, und je mehr sich derjenige wehrte, desto schneller sank sein Körper ein, bis nur noch Schultern und Kopf herausschauten. Gänzlich verschlungen wurde ein Mensch nur in sagenumwobenen Legenden; tatsächlich war es die aufkommende Flut, die die hilflosen Schreie der Todgeweihten erstickte und binnen eines Augenblicks das qualvoll begonnene Werk ihres Komplizen vollendete.
Der schwarz gekleidete Kutscher trieb die Pferde an. Gebeugt saß er unmittelbar vor ihnen auf dem behelfsmäßig wirkenden Kutschbock, die angewinkelten Füße auf der Deichsel abgestützt. Aus dem Handgelenk ließ er die Peitsche knallen und die Schnur dicht über den Rücken der Tiere hinwegsausen. Er hatte nach der Preisverhandlung in Genêts nicht einmal seinen Namen genannt, nur mit einem Nicken seine Zustimmung kundgetan und danach ohne ein Wort die schweren Kisten auf den Karren gehoben. Seiner sehnigen Gestalt war die in ihr steckende Kraft nicht anzusehen, und es fiel Amélie schwer, sein Alter zu bestimmen, er konnte erst knapp dreißig, aber auch schon über vierzig sein. Sein Äußeres jedenfalls, seine geflickte, nachlässige Kleidung, die zerzausten, schulterlangen schwarzen Locken, sein struppiger, bis auf die Brust reichender, salzverkrusteter Vollbart machten ihn zu einem von jenen Menschen, denen Amélie in Paris aus dem Weg zu gehen gelernt hatte.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte Amélie im spontanen Bemühen, sich den Fremden ein wenig vertraut zu machen.
Der Kutscher drehte sich halb um, und im Ausdruck seiner wasserblauen Augen lag spöttische Belustigung. »Brauchen Sie unbedingt einen Namen für mich? Dann nennen Sie mich Montagnard.«
Bergbewohner? Amélie lag eine Nachfrage auf der Zunge, doch er hatte sich bereits wieder nach vorne gewandt, um jegliche Fortsetzung des Gesprächs im Keim zu ersticken. Ausgesprochen redselig, dieser Montagnard, dachte sie. Leider war er jedoch der einzige Kutscher auf dem Festland gewesen, der spät an diesem Vormittag noch auf Kundschaft gewartet hatte.
Die widrigen Wegbedingungen fochten den Kutscher nicht an, mit stoischem Gesichtsausdruck, die kräftigen Augenbrauen zusammengezogen, behielt er sein Ziel im Blick.
Die schemenhaften Umrisse des Mont-Saint-Michel traten allmählich klarer aus dem Dunst hervor, so als zöge jemand ein hauchdünnes Tuch über dem verwaschenen, graublauen Steinhaufen fort. Der mit jeder Minute deutlicher ins Goldbraune changierende Felsen erhob sich aus dem Wasser wie zum Gebet gefaltete, gichtgekrümmte Hände und schwoll zu majestätischer Größe an.
Unzählige kleine Steinhäuser knieten dicht gedrängt in starrer Anbetung vor der über ihnen thronenden Kirche. Die Fialen am Strebewerk der Kathedrale ragten wie Stacheln in den Himmel, umsäumt von einer unüberschaubaren Fülle an Verzierungen, Säulen, Bögen, Türmchen und Wasserspeiern. Ein unwirklicher und verwunschener Ort. So als habe Gott dieses unliebsame Gewächs einst mit spitzen Fingern am Kirchturm gepackt, samt den umliegenden Häusern mit dem Wurzelballen aus der Erde gerissen, in diesem Niemandsland hier fallen gelassen und dem Vergessen anheimgestellt.
Mit ehrfurchtsvollem Erstaunen und wachsender Neugierde betrachtete Amélie ihre Heimat, Erinnerungen flochten sich in ihre Gedanken, sie saugte die Fülle an Eindrücken in sich auf und konnte sich kaum sattsehen.
Wie viel hatte sich wohl verändert? Tief in ihrem Herzen kannte Amélie die Antwort: Nichts. Auf dem Mont war die Lebensweise der Bewohner festgeschrieben wie die von Moses in Stein gemeißelten Gebote. Alles würde noch so sein wie damals. Ein beruhigender und zugleich auch ein wenig erschreckender Gedanke. Wie mochte das näher rückende Ende der Reise wohl auf Linnea wirken? Amélie warf einen Seitenblick auf ihre Tochter und schloss aus deren fahrigen Beinbewegungen auf eine zunehmende Unruhe des Mädchens.
»Wie geht es dir?«, schrie Amélie, um das Rädergeräusch zu übertönen.
»Gut, aber ich kann ... ich kann die Kiste ... sie rutscht!«, hörte Amélie gerade noch, dann folgte der schmatzende Aufprall auf dem Sandboden.
»Kutscher, anhalten!«, rief Linnea voller Entsetzen und machte sich zum Absprung bereit.
»Kind, um Gottes willen, nicht! Nicht springen!« Amélie rappelte sich auf.
Gerade noch rechtzeitig drehte sich Montagnard auf dem Kutschbock um, packte Linnea am Arm und bugsierte sie mit einer energischen Bewegung zurück. »Hier ist dein Platz, junges Fräulein!«
»Aber ich will ...«
»Du willst dich umbringen, ja?«, schnitt der Kutscher ihr das Wort ab.
»Wir müssen die Sachen retten!«, rief Linnea.
Amélie versuchte ihre Tochter zu beruhigen und schaute dabei der Kiste nach. Da erkannte sie den roten Strich, mit dem sie den Deckel markiert hatte. Ihr wurde heiß und kalt. »Meine Tochter hat Recht!«, redete sie auf den Kutscher ein. Amélie gelang es aufzustehen, schwankend suchte sie auf der engen Trittstelle das Gleichgewicht.
Die Peitsche knallte dicht neben ihr. »Solange ich auf dem Kutschbock sitze, verlässt niemand dieses Gefährt!«, brüllte Montagnard. »Kein verfluchtes Gepäckstück auf dieser Welt ist ein Menschenleben wert!«
Erschrocken über seinen Ausbruch setzte sich Amélie wieder hin, aber den Verlust konnte und wollte sie nicht hinnehmen. Die Augen gegen die Sonne abgeschirmt schaute sie in Richtung der verlorenen Habe. Rund acht Pferdelängen weit lag diese nun schon entfernt, und der Abstand wurde immer größer. Sie rang mit sich, dachte daran, ihr eigenes Leben zu riskieren, um ihrer beider Zukunft zu retten.
Ruckartig stand sie wieder auf. Sie bahnte sich einen Weg an Montagnards Kutschbock vorbei und sprang.
Zuerst landete sie auf den Füßen, doch im Schwung fiel sie nach vorn, ihre Hände griffen in den nassen Sand, ihre Knie wurden feucht. Mühsam rappelte sie sich auf, zwei Schritte, noch zwei Schritte, dann sank sie bis über die Knöchel ein. Panik wallte in ihr auf, sie versuchte sie zu verdrängen und nicht zurückzuschauen. Weiter, weiter, dachte sie nur. Sie verlor einen Schuh, den anderen.
»Maman!«, schrie Linnea. »Komm zurück!«
Amélie drehte sich um. Die Kutsche hatte die Fahrt verlangsamt und schien doch bereits unerreichbar weit weg. Wohin jetzt? Die kalte Sandmasse umschloss schon ihre Waden, kroch weiter ihren Weg der drohenden Vernichtung.
»Nicht bewegen!« Montagnard warf ihr das Ende eines langen Seils zu, und es landete genau vor ihren Füßen, Wasser spritzte auf. »Halten Sie sich daran fest und dann langsam, langsam zu uns zurückgehen!«
Amélie hielt die Luft an, sie drehte sich noch ein letztes Mal nach der Kiste um, dann krallten sich ihre Finger um das Seil, sie redete sich ein, ihre Füße steckten nicht in einer tödlichen Falle, während sie sich zu retten versuchte, begleitet durch die schluchzenden Schreie ihrer Tochter.
Ihr Herz raste, als sie endlich das große Kutschenrad zu fassen bekam. Mit zitternden Beinen und letzter Kraft kletterte sie in den sich weiter fortbewegenden Wagen, wobei ihr der Kutscher nun nicht mehr half. Mit verschlossener Miene rollte Montagnard das Seil auf, richtete den Blick nach vorn und nahm die Zügel wieder auf.
»Maman!«, rief Linnea erleichtert.
Mein Gott, dachte Amélie, wie schnell war das gegangen, wie leichtfertig hatte sie ihr Leben riskiert und ihre Tochter beinahe als Waisenkind zurückgelassen.
»Es ist alles gut, Linnea, alles gut. Wir sind bald da. Es ist nichts passiert ...« Plötzlich beunruhigt tastete sie in ihrer Rocktasche nach dem Münzbeutel und stellte erleichtert fest, dass er noch da war.
»Was war in der Kiste, Maman?«
»Nichts Wichtiges, mein Mädchen, nichts Wichtiges «, versuchte Amélie sie auf andere Gedanken zu bringen. Erschöpft nahm sie ihre unbequeme Position auf dem schmalen Brett wieder ein und atmete tief durch. Nichts Wichtiges, nur unersetzbar wertvolle Parfümessenzen, die Grundlage, auf der ich unser neues Leben aufbauen wollte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schloss ihre Lider, damit niemand ihre Verzweiflung sehen konnte.
***
Die Zeit bis zur Ankunft verging ihr plötzlich viel zu schnell. Amélie öffnete die Augen, als der Kutscher das Ende der Fahrt ankündigte. Für ihr Gefühl waren kaum fünf Minuten vergangen, aber der Zwischenfall im Watt musste der zurückgelegten Strecke nach zu urteilen gut eine halbe Stunde her sein. Sie fuhren entlang der hohen Ringmauern des Berges, die sich im seichten Wasser spiegelten. Auf den beiden südlichen Wachtürmen seitlich des Haupttores schlugen die rotgelben Fahnen sanft im böig auffrischenden Wind, es wirkte wie ein freudiges Zuwinken.
Amélie hörte die ersten Geräusche aus dem Dorf, Hufgeklapper, Kindergeschrei und Hundegebell hallten aus den engen Gassen, wo sich schindelgedeckte Steinhäuser aneinanderlehnten, krumm und gebeugt wie altersschwache Menschen. Amélie versuchte ihr Elternhaus weit oben auszumachen und war erleichtert, es noch stehen zu sehen. Doch aus dem verfal
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Autoren-Porträt von Sina Beerwald
Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren, studierte Wissenschaftliches Bibliothekswesen und arbeitet heute als stellvertretende Leiterin einer Fakultätsbibliothek.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sina Beerwald
- 2010, 432 Seiten, Maße: 11,9 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453471008
- ISBN-13: 9783453471009
Rezension zu „Das blutrote Parfüm “
"Ein ausgezeichneter, sehr gut recherchierter Erstling, dem hoffentlich noch viele Romane folgen."
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