Das Buch der Dornen
Bezaubernde Fantasy voller Romantik und Poesie, aus Mythen und Märchen geschöpft!
"Patricia McKillip ist eine der besten Stilistinnen der Fantasy." Encyclopedia of Fantasy
"Hypnotisierend und unvergesslich!" Kirkus Reviews
Das Buch der Dornen von Patricia A. McKillip
LESEPROBE
In derEbene des Träumers wirkte die Versammlung der Abgesandten aus den ZwölfKönigreichen von Raine, die zur Krönung der Königin angereist waren, wie eineeinfallende Armee. Das jedenfalls fand die junge Übersetzerin, die aus demFenster blickte, während sie auf den Besuch eines Gelehrten wartete. Sie warnoch nie so weit oben in der Bibliothek des Palastes und selten so angenehm imWarmen gewesen. Gewöhnlich hatte sie sich zu dieser Zeit am Morgen untenzwischen den Steinwänden vergraben, wo sie ihre Finger anhauchte, um sie soweit aufzuwärmen, dass sie schreiben konnte. Draußen fegte der Wind über dieweite Ebene, zog die Banner stramm und rüttelte an den Pavillons, die für diezahlreichen Gefolge der Abgesandten - für deren Truppen und Diener - errichtetworden waren. Eine Windbö war vom Meer hereingestürmt, fegte über die Ebene undtrocknete die farbenprächtigen Zelte, die sich wie Blasebalge blähten. DieÜbersetzerin, die einfallende Armeen bisher nur in den Epen, die sieübersetzte, gesehen hatte, blickte mit zusammengekniffenen Augen auf dieVersammlung und ließ ihrer Vorstellung freien Lauf. Als der Gelehrte endlich erschien,zählte sie gerade die neben jedem Pavillon angepflockten Pferde, deren Fellselbst auf die Entfernung hin erkennbar vom Regen glänzte und die sich in ihrenWeiß-, Grau- und Kastanienbrauntönen so deutlich voneinander abhoben wie gestickteFiguren auf einem Wandteppich. Der Gelehrte war ein hünenhafter Mann und warfseinen Pelzumhang ab, der klamm war und nach einem höchst ungewöhnlichen Tabakroch. Bei sich trug er ein Manuskript, das in Leder gebunden war und das er sobehutsam wie ein Neugeborenes auf den Bibliothekarsschreibtisch legte. Währender das Manuskript enthüllte, fiel sein Blick auf die Übersetzerin, dieschweigend am Fenster stand. Seine Hände hielten inne, und er starrte sie an.Dann wandte sich sein großer, dunkler, stark behaarter Kopf mit einem Ruck demBibliothekar zu, der ihn hereingebeten hatte. »Wer ist das?« »Wir haben sie Nepenthegenannt«, erwiderte der Bibliothekar mit nüchterner Stimme. Sein Name war Daimon; Nepenthe kannte ihn schonihr ganzes Leben lang, denn er hatte sie gefunden und ihr den Namen gegeben.Über das Kind, das sie gewesen war, ehe sie zu Nepenthewurde, wusste keiner von ihnen etwas. In den sechzehn Jahren, die seitdemvergangen waren, hatte sie sich so sehr verändert, dass sie kaum noch wiederzuerkennen war, während er sich kein bisschenentwickelt hatte, sondern noch immer das gleiche leidenschaftslose, dünnhaarigeGespenst war, das sie mit seinen knochigen Händen aufgehoben und in eine Buchtaschegesteckt hatte, um sie den Erwerbungen der Königlichen Bibliothek hinzuzufügen.»Sie ist eine unserer begabtesten undeinfallsreichsten Übersetzerinnen. Sie hat eine Gabe für ungewöhnlicheAlphabete. Ihr habt solche, Meister Croysus?« »So etwas wie dashier habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, erwiderte Meister Croysus. Er brachte das Manuskript nun vollständig zumVorschein, während er Nepenthe noch immer Blickezuwarf. Sie stand reglos dort, die langen Finger in ihre weiten, schwarzenÄrmel gesteckt, und versuchte, begabt und einfallsreich auszusehen, während siesich fragte, was dem Gelehrten an ihrem Gesicht so missfiel. »Diese Handschriftsieht aus wie ein Alphabet aus Fischen. Woher kommst du?« »Lasst Euch von ihrer Jugend nichttäuschen«, murmelte Daimon. Der Gelehrte schütteltegedankenverloren den Kopf und betrachtete Nepentheprüfend, bis sie den Mund öffnete und antwortete. »Von nirgendwo, Meister Croysus.Ich bin am Rande der Klippen vor dem Palast ausgesetzt und von denBibliothekaren gefunden worden. Das letzte Findelkind, das sie aufnahmen, wurdeMerle genannt. N war der nächste Buchstabe, der ander Reihe war.« Meister Croysusschnaubte unwillig. »Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen«, sagte erbarsch. »Auf einem Pergament, das älter als Raine selbst war. Ich erinnere michnicht, welches es war, außer, dass das Königreich, aus dem es stammte, weitjenseits der Zwölf Königreiche lag und es außerhalb dieses Papiers schon nichtmehr existierte.« Der Bibliothekar sah Nepentheneugierig an; sie wünschte sich, sie könnte ihren Kopf abnehmen und sich selbstanschauen. »Ein Stamm von Nomaden«,schlug er vor. »Nachfahren aus dem Vergessenen Königreich. Vielleicht zogen siegerade durch Raine, als Nepenthe geboren wurde.« »Da war niemand ?« »Niemand hat nachihr gesucht«, sagte Daimon schlicht. Er hielt inneund fügte hinzu, um die Angelegenheit zu klären und das Thema zu beenden: »Mangeht davon aus, dass wer auch immer sie an diesem gefährlichen Ortzurückgelassen hatte - höchstwahrscheinlich ihre Mutter -, seine Gründe hatte,sich ins Meer zu stürzen. Das Kind, wie wir weiterhin annehmen, wurde in derHoffnung auf ein weniger schwieriges Leben zurückgelassen, denn es war sehrlebendig und schrie mit großer Kraft, als wir es fanden.« Der Gelehrte knurrte, was seine letzteÄußerung in dieser Sache zu sein schien. Er schlug die Handschrift auf und gab Nepenthe einen Wink, die daraufhin zum Schreibtisch trat.Sie alle blickten auf die seltsamen, lang gestreckten Ovale, die feinsäuberlich in etwas gepresst worden waren, das Nepenthenicht kannte. Sie strich mit den Fingerspitzen darüber; es war nachgiebig undzäh zugleich. Eine Art Fell, wie es schien, obgleich es weiß wie Birkenrindeund merkwürdig faltenlos war. »Was istdas?«, fragte sie erstaunt. Der Gelehrte sah sie mit mehr alsunerklärlichem Interesse an. »GuteFrage. Niemand weiß das. Ich hoffe, dass der Inhalt auf die Werkzeuge schließenlässt.« Er schwieg einen Augenblick, während er mithochgezogenen Augenbrauen erst sie, dann den Bibliothekar fragend ansah. »Ichkann nur so lange bleiben, wie die Abgesandten des Neunten Königreiches nachder Krönung hier verweilen. Ich reise in Begleitung des Herren Birnum, der seinen Respekt erweisen und sich dann, soschnell er kann, zurück in die Zivilisation wird begeben wollen. Es ist vonstarker Symbolik und ein bewegender Brauch, einen Herrscher in dem Palast des erstenKönigs von Raine zu krönen, doch nicht einmal der hätte sich bei all seinemEhrgeiz die Herrscher der Zwölf Königreiche zur gleichen Zeit unter seinemalten Dach versammelt vorstellen können.« »Wohnt Ihr mit dem Herren Birnumim Palast?«, fragte Daimonzuvorkommend. »Nein.« Meister Croysus seufzte. »Ineinem tropfenden Zelt.« »Wir können Euchein einfaches Bett zwischen den Büchern anbieten.« Der Gelehrte seufzte erneut, dieses Malerleichtert. »Ich wäre außerordentlich dankbar.« »Ich kümmere mich darum, während Nepenthe Euch mit nach unten nimmt, um Euch zu zeigen, wosie an Eurem Manuskript arbeiten wird. Übersetzer halten sich in den Tiefenauf. Ebenso, muss ich Euch leider warnen, wie Gelehrte, die uns besuchen.« »Nun, ich vertrauedarauf, dass es in den Tiefen nicht tropft.« »Nein.« »Dann werde ich frohen Mutes in Stein begrabenschlafen.« Er schlug die Handschrift wieder in denLedereinband ein und hüllte sich selbst in seinen Pelz, dann folgte er Nepenthe. Sie führteihn tiefer und tiefer, bis aus dem Mauerwerk reiner Stein wurde, bis sie selbstdie grüne Ebene über sich zurückließen und das einzige Licht durch die Fensterhereindrang, die zum Meer zeigten. Die ganze Zeit befragte er sie, und sieantwortete abwesend, während sie über die Fische nachsann, die er eingewickeltin seinen Armen trug.
© Blanvalet Verlag
Übersetzung:Marianne Schmidt
- Autor: Patricia A. McKillip
- 2006, 318 Seiten, Maße: 11,6 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt-Foth, Marianne
- Herausgegeben: Werner Bauer
- Übersetzer: Marianne Schmidt
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442243912
- ISBN-13: 9783442243914
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