Das Christentum
seine Leser zurück zu den Ursprüngen des...
seine Leser zurück zu den Ursprüngen des Christentums. Er beleuchtet die Wirkung der christlichen Lehre in der Geschichte und welche Berge sie auch heute noch versetzen kann. Ein provokantes, informatives und nie pastoral daherkommendes Buch für Gläubige wie Nichtgläubige. »Christian Nürnberger ist einer, der das Christentum ernst und beim Wort nimmt.« (Süddeutsche Zeitung)
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
Christian Nürnberger geht zurück zu den Ursprüngen des Christentums im Alten und Neuen Testament und übersetzt dessen Botschaft für unsere Zeit. Er beschreibt, welche Wirkung die christliche Lehre in der Geschichte entfaltet hat und welche Berge sie auch heute versetzen könnte, wenn wir sie wieder ernst nähmen. - Ein provokantes, informatives und nie pastoral daherkommendes Buch für Gläubige wie Nichtgläubige.
Das Christentum von Christian Nürnberger
LESEPROBE
WIR ARMEN GLÜCKSKINDER
Es war an einem sonnigen HerbsttagEnde der -1990er Jahre, als mir etwas aufging. Ich wanderte mitmeiner Familie im Rheingau. Unten glitzerte der Rhein und schlängelte sich alssilbernes Band durch die Landschaft, oben leuchtete das Laub in den schönstenFarben, und wir liefen vorbei an Weinstöcken mit schweren Reben und anObstbäumen, deren Äste vom Gewicht der Äpfel und Birnen nach unten gezogenwurden. Deutschland ist ein schönes Land, dachte ich, ein reiches und wohlgeordnetesLand, in dem sich gut leben lässt. Ich kann mir kaum ein Fleckchen Erde denken,auf dem ich lieber lebte als hier, mitten in Europa.
Unwillkürlich musste ich an meineEltern denken, die den größeren Teil ihres Lebens in einem ganz anderenDeutschland und einem ganz anderen Europa verbringen mussten. Sie haben zweiWeltkriege und zwei Inflationen erlebt, den Hunger kennengelernt,die Diktatur und die Not. Meine Mutter hat drei ihrer Brüder im Kriegverloren. Das Haus meines Vaters wurde von einer Bombe zerstört. DerSchwiegervater war als gebrochener Mann aus dem Krieg zurückgekehrt, dieSchwiegermutter mit zwei kleinen Kindern aus dem brennenden Dresden geflohen, siehat ihre Heimat und Hab und Gut verloren.
Überall in Europa hatte dieGeneration meiner Eltern und Großeltern Ähnliches erlebt und erlitten, undsofern diese Generation jüdischen Glaubens war, endete ihr Leben mit hoher Wahrscheinlichkeitin einer von Deutschen betriebenen Gaskammer. Die meisten Beteiligten an diesembeispiellosen Verbrechen waren christlich Getaufte, auch humanistisch Gebildete.Wer aus der Generation unserer Eltern und Großeltern wie viel von diesemVerbrechen wusste, ist bis heute nicht ganz klar, aber lag stets als Schattenüber ihrer Existenz.
Wie anders dagegen ist mein Lebenverlaufen, das meiner Frau und der ganzen Generation der Westdeutschen, Mittel-und Westeuropäer, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Seit wir unserinnern können, kennen wir nichts anderes als wachsenden Wohlstand in Friedenund Freiheit. Nie wurden wir vor die Wahl gestellt, Mitglied einerverbrecherischen Organisation zu werden oder im Fall der Weigerung Nachteilein Beruf und Privatleben hinnehmen zu müssen. Nie mussten wir um unser Lebenfürchten, weil es einem Nachbarn gefallen hätte, uns wegen einer Lappalie zudenunzieren. Nie mussten wir uns wegen unseres Glaubens, unserer Herkunft oderunserer Rasse vor Verfolgung fürchten. Auch der Kelch der Stasi ist an uns vorbeigegangen.Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat - meine Generation lebt seitihrer Geburt in solch einem Land. Das Einzige, was uns hier abverlangt wird,ist ein bisschen Zivilcourage.
Dann blickte ich bei jenemSpaziergang auf meine damals vier und sieben Jahre alten Kinder und fragtemich: Was wird sein, wenn sie und alle Angehörigen ihrer Generation sechzigJahre alt sind? Werden sie dann rückblickend auch sagen können, nie etwasanderes kennengelernt zu haben als Frieden inFreiheit und Wohlstand? Werden sie so alt werden dürfen, ohne je auf die Probegestellt zu werden?
Eigentlich spricht allegeschichtliche Erfahrung dagegen. Unser zurückliegendes halbes Jahrhundert inWest- und Mitteleuropa ist ein historisch noch nie da gewesenerAusnahmezustand. Armut, Krieg, Terror, Vertreibung, Folter, Korruption, dasRecht des Stärkeren - das ist der Normalzustand dieser Welt seit dem Beginn dermenschlichen Geschichte. Frieden, Freiheit, Gleichheit, Solidarität,Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenwürde - all die Werte, die wir alsselbstverständlich betrachten, waren noch bis vor hundert Jahren bloße Utopien.Tatsächlich sind sie ganz neue, schwer erkämpfte Ausnahmeerscheinungen in derGeschichte der Menschheit.
Vier utopisch erscheinende Ziele,die im 19. Jahrhundert formuliert wurden, sind seit 1945 erreicht worden -eigentlich vier Wunder. Das erste, größte und wichtigste Wunder besteht darin, dasswir in Europa die viele Jahrtausende alte Institution des Krieges überwundenhaben. Dass Deutsche, Engländer und Franzosen jemals wieder aufeinanderschießen, ist nach heutigem Ermessen praktisch ausgeschlossen. Wer das vorhundert Jahren prophezeit hätte, wäre als Traumtänzer verhöhnt worden. Heute istuns diese erstaunliche Leistung schon so selbstverständlich, dass unserVerdruss über Brüssel und die Eurokratie größer ist als unser freudigesErstaunen über den sechzigjährigen Frieden in Europa.
Dann fiel uns 1990 die deutscheEinheit in den Schoß, verschwand die kommunistische Bedrohung aus dem Osten,womit auch der Zwang des Wettrüstens entfiel, und wir erwarteten dieFriedensdividende. Seit rund anderthalb Jahrzehnten gehören nun auch dasöstliche Mitteleuropa und Osteuropa zu uns. Heute leben wir in einerFriedenszone, die sich von Irland bis zur Ukraine erstreckt, vom Nordkap bis indie Ägäis. Europas Völker verzichten schrittweise auf ihre politische Souveränität,verschränken ihre Volkswirtschaften miteinander, begeben sich in gegenseitigeAbhängigkeit, und je länger dieser Prozess fortschreitet, destounwahrscheinlicher wird es, dass Konflikte jemals wieder kriegerischausgetragen werden - welch ein gewaltiger Entwicklungssprung!
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© Rowohlt Berlin Verlag
- Autor: Christian Nürnberger
- 2007, Neuausg., 304 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345709
- ISBN-13: 9783871345708
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