Das Echolot - Abgesang '45
Es sind die dramatischen letzten Tage Hitlerdeutschlands, die Kempowski auf eindringliche Weise wie in einem Film abrollen lässt. Eine minutiöse Rekonstruktion aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Bildern.
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Es sind die dramatischen letzten Tage Hitlerdeutschlands, die Kempowski auf eindringliche Weise wie in einem Film abrollen lässt. Eine minutiöse Rekonstruktion aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Bildern.
"Dieses Buch ersetzt eine ganze Bibliothek zum Thema Kriegsende."
Frank Schirrmacher
Es sind die hochdramatischen letzten Tage Hitlerdeutschlands, die Kempowski auf beklemmend eindringliche Weise wie einen Film vor dem Leser abrollen lässt. Die minutiöse Rekonstruktion aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Quellen und Bildern ermöglicht einen erschütternden Blick auf Leid, Propaganda, Irrsinn.
Das Echolot,Abgesang '45 von Walter Kempowski
LESEPROBE
Vorwort
Als ich vor zwanzig Jahren am Echolot zu arbeiten begann,beschäftigten mich drei Bilder.
Zunächst der "Turmbau zu Babel" von Breughel, jeneDarstellung des konisch zulaufenden Turms, der vielbögigaufeinander gesetzten Spirale, die sich in die Wolken hineinschraubt und zuGott hinaufdrängt, jener Turm, den Menschen bauten, um dem Allmächtigen gleichzu sein, den sie aber auch aus Sehnsucht aufrichteten, möglichst schon vor derZeit zu ihm zu gelangen und sich in seinem Schoß zu bergen. Der BabylonischeTurm stürzte ein, wir wissen es, und die Verwirrung, die sein Fall mit sichbrachte, dauert an.
Das zweite Bild war die "Alexanderschlacht" von AlbrechtAltdorfer, jenes bekannte Gemälde, auf dem Tausende von Kriegern auszumachensind, die einander umbringen. Menschen ohne Namen, Todgeweihte, längstvermodert und vergessen, und doch Männer, die Frau und Kind zu Hause sitzenhatten, deren Keime wir als Nachkommen in uns tragen.
Das dritte Bild war die "Übergabe von Breda"des Spaniers Velázquez. Auf diesem Bild steht ein Sieger einem Besiegtengegenüber. Der siegreiche Feldherr hat dem Unterlegenen, der ihm demütig dieSchlüssel der Stadt übergibt, nicht den Fuß in den Nacken gesetzt, sondern erneigt sich ihm gütig zu, ja, er hebt den sich beugenden Unterlegenen auf!Dieses Bild wurde vor 360 Jahren gemalt, und bis heute wurde seine Botschaftnicht eingelöst.
Heute, in den Tagen des Erinnerns, zwei Generationen nachKriegsende, sind es andere Bilder, an die ich denken muß:Die Kamera schwenkt über das zerstörte Warschau, über die Leichenhaufen vonBergen-Belsen und über eine Gefängnismauer, die von Einschüssen gesprenkeltist, und noch immer werden Massengräber geöffnet und Tote exhumiert. InHiroshima läutet die Glocke.
Ich erinnere mich in diesen Tagen auch an die stillen Trecks derFlüchtlinge, an die zurückhetzenden fliehenden deutschen Soldaten, rette sichwer kann! Und an die fröhlich heimziehenden Fremdarbeiter mit ihren nationalenKokarden. Auch an den weinenden Kindersoldaten auf der Protze seines zerstörtenGeschützes muß ich denken.
Meine Eltern besaßen eine Tabakbüchse aus der Zeit desSiebenjährigen Krieges, sie stand auf dem Radio neben Judenbart undSchlangenkaktus, auf der war zu lesen:
Es wechselt alles ab,
Nach Krieg und Blutvergießen
Laßt uns des Himmels Huld,
Des Friedens Lust genießen.
Nein, von "genießen" kann keine Rede sein. Unser Filmist zwar durchgelaufen, aber es liegen andere bereit, die wir alle noch sehenwerden, wieder und wieder werden es Bilder von Krieg und Blutvergießen sein,ein Ende der Vorstellung ist nicht in Sicht: Die Hochhäuser brennen schon.
An die Bilderbibel von Doré muß ich denken, die ich als Kind, auf dem Teppich liegend,durchblätterte, an die Sintflut: Die Wasser verlaufen sich, und auf den Klippenliegen die Leiber der Ertrunkenen ... Wir warten noch immer auf die Taube, dieuns den Ölzweig bringt. Aber auf dem Bild von Doréspannt sich kein Regenbogen über den Toten.
Nartum, Februar 2005Walter Kempowski
Frühlingsglaube
Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag,
Das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal:
Nun, armes Herz, vergiß der Qual!
Nun muß sich alles, alles wenden.
2059 Tage Freitag, 20. April 1945 18 Tage
Den Feinden entfiel der Mut; denn sie merkten, daßdies Werk von Gott war.
herrnhut neh. 6,16
Diesen hof ausfegen
Deezen hoaf ousfaygen
Sweep this yard
stars and stripes,
daily german lesson
Der letzte Geburtstag Hitlers verlief trübe und traurig. ZurGratulation erschienen die Großadmirale Raeder undDönitz, Himmler und Goebbels.
Martin Bormann 1900-1945 Berlin
Geburtstag des Führers
Leider nicht gerade "Geburtstags-Lage"
Abflug Vorauskommando nach Salzburg angeordnet.
Dr. Theodor Morell 1886-1948 Berlin /Reichskanzlei
Strophantose, Betabion forte i. v. plus Harmin s.c. - durch Dr. Stumpfeggermachen lassen, da ich zu zittrig war.
*
Benito Mussolini1883-1945 Mailand / Palazzo Monforte
Interview
Ich empfand und empfinde für Hitler die größte Hochachtung. Man muß unterscheiden zwischen Hitler und einigen seinerMänner, die in vorderster Reihe stehen.
Adolf Hitler 1889-1945 (Berlin)
An Benito Mussolini Meinen Dank Ihnen, Duce, für Ihre Glückwünschezu meinem Geburtstag. Der Kampf, den wir um unsere nackte Existenz führen, hatseinen Höhepunkt erreicht. Mit unbeschränktem Materialeinsatz setzen derBolschewismus und die Truppen des Judentums alles daran, ihre zerstörerischenKräfte in Deutschland zu vereinen und so unseren Kontinent in ein Chaos zustürzen. Im Geiste zäher Todesverachtung werden das deutsche Volk und alle, diegleichen Geistes sind, diesen Ansturm zum Halten bringen, wie schwer auch derKampf sein mag, und durch ihren einzigartigen Heldenmut den Verlauf des Kriegesändern. In diesem historischen Augenblick, in dem das Schicksal Europas aufJahrhunderte hinaus entschieden wird, sende ich Ihnen meine herzlichsten Grüße.Adolf Hitler
Joseph Goebbels 1897-1945 (Berlin)
Rundfunkansprache Deutschland wird nach diesem Kriege in wenigenJahren aufblühen wie nie zuvor. Seine zerstörten Landschaften und Provinzenwerden mit neuen, schöneren Städten und Dörfern bebaut werden, in denenglückliche Menschen wohnen. Ganz Europa wird an diesem Aufschwung teilnehmen. Wirwerden wieder Freund sein mit allen Völkern, die guten Willenssind, werden mit ihnen zusammen die schweren Wunden, die das edle Antlitzunseres Kontinents entstellen, zum Vernarben bringen. Auf reichenGetreidefeldern wird das tägliche Brot wachsen, das den Hunger der Millionenstillt, die heute darben und leiden. Es wird Arbeit in Hülle und Fülle geben,und aus ihr wird als der tiefsten Quelle menschlichen Glücks Segen und Kraftfür alle entspringen. Das Chaos wird gebändigt werden! Nicht die Unterwelt wirddiesen Erdteil beherrschen, sondern Ordnung, Frieden und Wohlstand. Das warimmer unser Ziel! Es ist das auch noch heute. Setzten die Feindmächte ihrenWillen durch, - die Menschheit würde in einem Meer von Blut und Tränenversinken. Kriege würden sich mit Kriegen, Revolutionen mit Revolutionenabwechseln, und in ihrer furchtbaren Folge würde auch noch der letzte Rest, dervon einer Welt, die schön und liebenswert war und wieder sein wird, übriggeblieben ist, zugrunde gerichtet werden.
Winston Churchill 1874-1965 (London)
In dem Moment, da sie am dringendsten nötig gewesen wäre, fehltedie unerläßliche politische Führung. Meister über dieGeschicke der Welt, standen die Vereinigten Staaten als Sieger auf demSchauplatz, aber ohne eine in sich geschlossene, klare Konzeption der Zukunft.
Bernard Law Montgomery 1887-1976(Nordwestdeutschland)
Ich hatte immer Berlin als das Hauptziel angesehen. Es war derpolitische Mittelpunkt Deutschlands, und wenn wir vor den Russen dortsein konnten, würde in den Jahren nach dem Krieg allesfür uns viel leichter werden. [...] Berlin ging uns schon im August 1944verloren, als wir es nach dem Sieg in der Normandie unterließen, einenvernünftigen Operationsplan aufzustellen.
Der sowjetische General Georgij Shukow 1896-1974vor Berlin
Am 20. April [...] eröffnete die weitreichendeArtillerie des 79. Schützenkorps der 3. Stoßarmee das Feuer auf Berlin. DerSturm der deutschen Hauptstadt begann.
*
Alfred Kantorowicz1899-1979 (New York)
Franklin Delano Roosevelt starb - wie Abraham Lincoln - im Bewußtsein des erkämpften Sieges. Ein schöner Tod: zusterben am Endpunkt des Erfolges, bevor noch die Gegenkräfte zum Zuge gekommensind, die den Sieg schänden werden, seine Früchte verwesen machen - dasSchicksal Wilsons ist Roosevelt erspart geblieben. Er wird nicht mehr erleidenmüssen, wie andere ihm den Frieden verderben. Es ist ein seltsamesZusammentreffen: Roosevelt in der westlichen Hemisphäre der entscheidendeGegenspieler des rasenden Pöbelanführers aus Braunau, kam zur gleichen Zeit andie Spitze der Staatsmacht wie jener. Hitler, der Besiegte, wird den Siegernicht lange überleben. Der wütige Hasser hat Roosevelt wahrscheinlich mehr gehaßt als irgendeinen anderen einzelnen in der Welt.Juden, Kommunisten, Intellektuelle, gegen die er sich heiser schrie, das warenKollektive, Abstrakta gewissermaßen, Zwangsvorstellungen des Tobsüchtigen,Objekte seiner manischen Ausbrüche, aber wenn er den Namen Roosevelt aussprach,dann brach sich seine Stimme vor Haßgekreisch. Es wardas Aristokratische in Roosevelt, das Helle, Strahlende, Zauberhafte, das desverlumpten Kleinbürgers dumpfige Minderwertigkeit zum Brodeln brachte.
Ich will keinen "Übermenschen" aus ihm machen, auchnicht in der Stunde der Trauer. Eher muß ich vor mirselber Ungerechtigkeiten abwägen, die sich seit Jahren in meinen Notizenfinden. Ich habe bittre Worte über ihn niedergeschrieben; sie kamen ausenttäuschtem Vertrauen, enttäuschter Hoffnung. Und ich kann sie nun teilweisezurücknehmen. Der Staatsmann, der Visionär, der geistige Führer Roosevelt hatdem Politiker, der sich im Ränkespiel des Alltags bewegen muß,allzuoft Konzessionen gemacht. Er hat geschwiegen,als er - nach Pearl Harbor und der Kriegserklärungdurch Nazideutschland - die Möglichkeit gehabt hätte, mit den Freunden undVerteidigern von Nazismus und Faschismus in seinem Lande abzurechnen. Er hatden Krieg entarten lassen zu einer Polizeiaktion gegen Gangster, nach derenNiederringung seine Truppen sich als Gendarmen der Restauration einführten. DieWohnviertel der Armen sind zerbombt worden, aber seine Sonderbotschafterüberbrachten Komplimente in die Paläste der Könige, Marschälle undIndustrieherren. Er hat mit französischen Faschisten in Casablanca Händedrückegetauscht - in Sichtweite der Konzentrationslager, in denen damals immer nochdie überlebenden Antifaschisten mißhandelt wurden. Daß er mitunter nicht von den wohlfeilen Kümmerlingen derTagespolitik zu unterscheiden war, machte mich zornig bis zur Ungerechtigkeit.
Anaïs Nin 1903-1977 (New York)
Frances schenkt mir einen kleinen Samthutmit schwingender Feder, der letzte Schrei. Pablo färbt die Feder um inleuchtendes Rosa. Ich trage diesen gewagten Hut, wenn wir ins Theater oder insBallett gehen.
Thea Sternheim 1883-1971 (Paris)
Welche Pracht in den Gärten! Flieder, Goldregen, Weiss- und Rotdorn blühen. Über den Mauern hängen die heliotropenen Trauben der Clematis. Welch ein Zauber den weissblühenden Blumen innewohnt. Auf der Höhe Ausblick aufdie hingebreitete Stadt. Wie viele Städte sindinzwischen zum Trümmerhaufen geworden - die Engel haben Paris beschützt.
Hans Henny Jahnn 1894-1959 (Bornholm)
An seine Tante Helene Steinius In denletzten zwei Tagen haben wir Frühlingswetter, und die Arbeit auf den Felderngeht mit aller Kraft vor sich. In dieser Woche hoffe ich, werden wir mit derEinsaat der Gerste fertig werden; dann folgen Hafer und Rüben. Inzwischenwerden wohl weitere drei Füllen bei uns ankommen und hoffentlich auch einigeKälber.
Eberhard Fechner 1926-1992 SchloßWaldeck
Am 20. April 1945 lag ich im SchloßWaldeck in der Barockbibliothek, als Gefreiter, verwundet. Wir waren vomAmerikaner gefangengenommen und dort untergebrachtworden. Die Tür geht auf, und drei deutsche Führungsoffiziere kommen rein,grüßen und halten eine Geburtstagsfeier für den Führer. Mit deutschem Gruß! Undwir lagen da mit sechs Mann, und ich dachte, ich bin verrückt geworden.Amerikaner gestatteten deutschen Offizieren, eine Geburtstagsfeier für Hitlerzu machen. Und ich lag im Bett, mit Steckschüssen im Bein und hab' nichtopponiert, sondern hab' den Arm gehoben und dachte, ich bin verrückt.
Der Hauptmann Fritz Farnbacher *1914Bohnsack bei Danzig
10 Uhr Offiziersversammlung des ganzen Regiments zur Feier desFührergeburtstages. Erst kurze Gedenkrede für Herbert K., dann Pathétique, vom Doktor gespielt, dann verschiedeneSprecher, ein Chor, das Kaiserquartett von Haydn, Führerehrung und schließlichBrötchen und Alkohol, der seine Wirkung nicht verfehlt; aber schließlich wirdnoch 20 Minuten gute Musik vom Regimentskommandeur befohlen, die ich mit 2Bachchorälen abschließen muß.
Günter Cords *1928 Antiesenhofen/Österreich
Führers Geburtstag. Auf dem Dorfplatz traten wir, durchdickbäuchige Linden gegen Fliegersicht gedeckt, zur Feier an. Von unserenMärschen angelockt, standen anderthalb Dutzend Kinder um uns herum, währendihre Eltern feige durch die Gardinen schauten. Kurz vor Schlußder Ansprache verschwanden selbst die Gören. Dafür erschienen Jabos undbeendeten die Feier, bevor wir das Deutschlandlied blasen konnten.
Der Volkssturmmann Fritz Steffen 1893-1979 Stettin
Am 20. 4. 45, 19 Uhr müssen wir zur "Feier des Geburtstagesdes Führers" im Kasino des Landeshauses erscheinen. Ein Kreisleiter redet überden Endsieg! Die spendierte Flasche Rotwein und die kleine Portion Schinken undWurst mit Brot haben uns nicht vom Sieg überzeugen können.
Dieter Borkowski 1928-2000Berlin-Kreuzberg
Die meisten Parteigenossen saßen oder lagen auf dem Rinnstein; siewaren betrunken. Der Ortsgruppenleiter hatte alkoholische Beuteware verteilt.Er, selbst noch ein ganz junger Mann, stand dann käsebleich vor den altenKämpfern des Führers, die sich kaum erheben konnten und teilweise bekotzteUniformen hatten. "Kameraden, die Stunde der Bewährung hat geschlagen! Ihrwerdet an der Reichskanzlei eingesetzt und unseren geliebten Führerretten." [...] Wir setzten uns schließlich in Marsch, um überBlücherstraße zum Halleschen Tor und dann in die Wilhelmstraße zu marschieren.
Der norwegische Journalist Theo Findahl1891-1976 (Berlin-Dahlem)
Als ich gegen halb ein Uhr zum Hotel Adlonhinüberkomme, schlagen die Geschosse der russischen Artillerie mit Poltern undGetöse vor dem Eingang zu den Linden ein. Im Speisesaal sind die wenigen Gästeüberwältigt von der Bereitwilligkeit der Kellner, den Wein in Strömenauszuschenken, sonst heißt seit langem die Regel: ein Glas pro Kopf. Nun ja,lieber die letzten Gäste bezahlen lassen, als alles den Russen geben. [...]Goebbels' Stimme ist in Berlin schon lange ziemlich ausgeschriengewesen. Er hat nicht mehr den gleichen Griff um sein Publikum wie früher, undes herrscht der Glaube unter den ausländischen Journalisten in Berlin, daß es zu einer ernsthaften Schlacht um die deutsche Hauptstadtnicht kommen werde. Die Barrikaden, aus Pflastersteinen errichtet und mit allemmöglichen Gerümpel, verrosteten Autos und Badewannen verstärkt, wirken nichtimponierend, und wir können uns nicht vorstellen, daßsie ein ernsthaftes Hindernis für Stalins große Panzerwagen sein werden. Inzwei, drei Tagen wird es vorüber sein, sagen wir. Alle haben wir aus denverschiedensten Richtungen gehört, daß der Volkssturmnicht kämpfen wird, und die Kommunisten werden die Russen natürlich alsBefreier begrüßen. Nur einzelne schütteln ihre klugen Köpfe und sagen, dieRaserei der roten Armee werde deutsche Verzweiflung auslösen, so daß die Hitze der Schlacht selber einen Riesenbrandentfachen werde. Die Schlacht um Berlin kann sogar furchtbar werden, sagen sie,seid keine Toren, sondern flüchtet, solange es noch ander Zeit ist. Denkt daran, die rote Armee hat die beste Artillerie der Welt.Die Russen haben an die tausend Kanonen auf einen Kilometer, eine Kanone aufden Meter - Trommelfeuer. Es ist so, daß man meint, dieErde solle untergehen. Im Presseklub am Leipziger Platz ist die Auflösungvollständig. Die Arbeitszimmer sind ein Chaos von Papier, Glasscherben, Stühlenund Tischen, holterdipolter durcheinander, allesunter einem Geriesel von Kalkstaub. Keine Telephonwache.Keine Zensur. Alles fließt. Es sieht aus, als habe jeglicher Pressedienst vonBerlin aus aufgehört. Die Servierfräuleins pressen sich jedesmal,wenn die Kanonen dröhnen, auf den Treppen aneinander. Essen ist nicht zubekommen. Auch die Bar ist geschlossen. Die allermeisten Berichterstatter sindgeflohen. Schon jetzt muß man Berlin als einebelagerte Stadt ansprechen; die Russen haben, soviel wir wissen, diewichtigsten Ausfallstore unter ihrer Kontrolle. Wie durch ein Wunder kommen dietelephonischen Anrufe aus Stockholm und Kopenhagen durch, und einzelneGlückliche haben Gelegenheit, sensationelle Telegramme nach Hause zu schicken -an die Zensur kehrt sich keiner, alles ist ja in Auflösung. Hört, hört, sagensie am Schluß, hört den Kanonendonner in Berlin! Wirhören, wir hören, sagen erregte Stimmen aus Stockholm und Kopenhagen.
Ausgerechnet am 20. April, Führers Geburtstag, hatten wir Tabor, die heilige Stadt der Tschechen erreicht. In einemüberfüllten Wartesaal hörten wir Goebbels' Rede aus Anlaßvon Hitlers Geburtstag. Es war gespenstisch, die bekannte Stimme inmittendieser trostlosen Umgebung zu hören - sie strahlte keinerlei Zuversicht mehraus.
© btb Verlag
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
- Autor: Walter Kempowski
- 2007, 491 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,5 x 21,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442736129
- ISBN-13: 9783442736126
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