Das erste Mal
Das erste Werkzeug, die erste Musik, das erste Bier, die ersten Künstler, das erste Haustier, die ersten Kleider
Vorhang auf - für die Premieren der Menschheit
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Produktinformationen zu „Das erste Mal “
Vorhang auf - für die Premieren der Menschheit
Klappentext zu „Das erste Mal “
Woher kommen wir? Was hat uns zum Menschen gemacht? Wann fingen wir an, die Welt zu gestalten? Der preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Hubert Filser hat sich auf Spurensuche begeben. Er war in der Südosttürkei, wo vor 12 000 Jahren die ersten Tempel errichtet und das erste Mal Feldfrüchte geerntet wurden. Und er ist auf die Schwäbische Alb gefahren zu der Höhle, in der man das älteste Musikinstrument entdeckte: eine steinzeitliche Knochenflöte. Zusammen mit Filser erleben wir die epochalen historischen Premieren, besuchen namhafte Wissenschaftler und erfahren die neuesten Forschungsergebnisse.
Lese-Probe zu „Das erste Mal “
Das erste Mal von Hubert FilserDie erste Musik
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Gibt es etwas Schöneres als den Klang von Musik? Schon einfache Tonfolgen können uns berühren. Babei wissen wir immer noch nicht, warum wir eigentlich begonnen haben, Musik zu machen? Sicher ist nur, dass vor 40 000 Jahren Menschen vermutlich erstmals ein Instrument gebaut haben - in einer kühlen Höhle auf der Schwäbischen Alb.
DER Mann, der die Hänge der Urdonau entlangläuft, fröstelt. Jenseits des Flusses auf der anderen Talseite verfärben sich an den wenigen Zwergbirken schon die Blätter. Der warme Sommer geht zu Ende, bald wird es schlagartig kalt. Erst vor ein paar Tagen hatten sie im Clan abgestimmt, ob sie wieder in der feuchten Höhle aus dem Vorjahr überwintern sollten. Der Mann mag sie nicht, nicht den langen, düsteren Felstunnel, der in ein schwarzes Nichts hineinführt und in dem sie im vergangenen Jahr einen Höhlenbären aufgeschreckt hatten. Er leidet unter der stickigen, vom Knochenfeuer rauchschwangeren Luft und erst recht unter dem scharfen Geruch nach verkohlten Knochen. Gut, die Halle, die sich weiter hinten öffnet, hat etwas Heimeliges, und die Stimmen hallen wunderbar von der Decke wider, aber was ist das schon gegen den Sternenhimmel und die Geräusche der Nacht, wenn man im Freien schlafen kann?
Draußen ziehen sich die Hänge sanft hinunter zum Fluss. Trotz des geschwungenen Tals kann der Mann in der Ferne die Tiere in der kargen Grassteppe erkennen, nur die niedrigen, windschiefen Birken und ein paar verkrüppelte Kiefern lockern die monotone Landschaft auf. Er mag das Tal, hier gibt es genügend Tiere zum Jagen: Mammuts, Rentiere, Pferde, Antilopen und vereinzelt Wollnashörner. In den en-
ger werdenden und leicht ansteigenden Seitentälern kann man sie gut in die Enge treiben. Aus den Fellen lassen sich warme Fu9säcke fertigen. Gedankenversunken stolpert der Mann im halbhohen Gras über das Gerippe eines Gänsegeiers. Die mächtigen Tiere mit mehr als zweieinhalb Me-tern Flügelspannweite kreisen oft am Himmel und warten, ob die Jäger irgendetwas Essbares zurücklassen. Doch dieses Tier hat es erwischt, vielleicht ist es beim Fressen zu unvorsichtig gewesen und von einer Säbelzahnkatze gerissen worden. Der Mann schaut sich das Gerippe im Gras kurz an, dann greift er sich zielstrebig nur die beiden Speichen aus den Flügeln.
Bitterkalt war es auf der Schwäbischen Alb vor 40 000 Jahren. Erst rund 1500 Jahre zuvor war es nach einer langen Eiszeit ein paar Grade wärmer geworden. Die Durchschnittstemperatur lag nun bei minus einem Grad. Knochenfunde und Pollenanalysen aus dem Sediment belegen eindeutig, wie die Flora und Fauna vor 40 000 Jahren aussah. Die Landschaft war damals eine fast baumlose Tundra mit Gräsern, es gab Mammuts, Höhlenbären und sogar Höhlenlöwen. Wäre die Wissenschaft durch neue Techniken in den vergangenen Jahren hier nicht so exakt geworden, könnte ich die Steinzeitwelt nicht so genau rekonstruieren.
Die in der Geschichte beschriebene Höhle hei9t heute Hohle Fels, sie liegt im Achtal nahe Blaubeuren auf der Schwäbischen Alb, dem Tal der Urdonau. In ihr sollte 40 000 Jahre später ein gewisser Nicolas Conard eine Steinzeitflöte finden, weitere Exemplare entdeckte er ganz in der Nähe in einer zweiten Höhle.
Die Flöte hat der Urgeschichtler von der Universität Tübingen nicht dabei, als wir den Hang oberhalb der Ach entlang zum Eingang von Hohle Fels laufen, sie ist viel zu wert-
voll und längst im Museum gelandet. Conard, in einen dicken Parka gehüllt, zeigt auf eine Stelle an einer leichten Flussbiegung. Am Ufer des hübschen Flüsschens waschen Studenten dort während der Grabungszeit die bereits grob untersuchte Erde aus Hohle Fels, um auch die feinsten Knochen- oder Elfenbeinsplitter herauszufiltern. Das Tal hat die Urdonau gegraben, bis vor 150 000 Jahren floss sie noch hier entlang. Erst dann hat sich infolge von Eiszeitablagerungen der heutige Verlauf ergeben. Im Winter und Frühjahr hielten sich die Steinzeitmenschen in den Höhlen auf. Weil Holz in der Steppenlandschaft selten war, heizten sie die mit Tierknochen. Die Vorstellung von den Urzeitmenschen als Höhlenbewohnern ist jedoch irreführend. Es gab Jahrtausende, in denen sich niemand in den Höhlen aufhielt. Die Urzeitmenschen nutzten sie nur, wenn es draußen noch unwirtlicher war. Höhlen sind einfach kalt, feucht und dunkel. Das merkt man bei einigen schon im Eingangsbereich, wenn sich beim Sprechen kleine Atemwölkchen bilden. Nicolas Conard zieht seine Wollmütze, die er nur lose aufgesetzt hat, tiefer ins Gesicht. Für Forscher sind Höhlen wiederum ideale Forschungsareale, denn in ihnen erhalten sich Überreste viel länger als im Freien. Und wo sollte man auf den endlosen Hängen und Wiesen auch anfangen, nach Hinterlassenschaften der Steinzeitmenschen zu suchen? Das Urdonautal gilt als Einwanderkorridor für den Homo sapiens. Den Fluss entlang zog er vom Schwarzen Meer in die allmählich wärmer werdenden Regionen Mitteleuropas. Das Ende der Eiszeit gab neuen Lebensraum frei, die Eispanzer zogen sich in die Alpen und nach Norden zurück.
Die Leute in Schelk lingen und Blaubeuren erzählen gern von den Eiszeitlandschaften, und allmählich gelingt es mir, mich selbst in diese andere Welt zurückzuversetzen. Von hier oben, seitlich an der halbrunden Felskuppe vorbei, hat man einen phantastischen Blick hinunter ins Tal, zwischen mächtigen Bäumen hindurch bis zum Fluss. Damals jedoch war die heute an Bäumen und Büschen reiche Landschaft noch ziemlich karg, nach Jahrtausenden unter tonnenschwerem Eis. Einst war hier eine Grassteppe, in dem halbhohen Gras konnte man weit schauen, die wenigen Minibäumchen versperrten kaum den Blick. Heute zieht sich eine kleine Bundesstraße durchs geschwungene Achtal, in Schelklingen steht eine große Fabrik von Heidelberger Zement, einem wichtigen Sponsor der Ausgrabungen des Tübinger Urgeschichtlers.
Acht Flöten haben die Archäologen bisher insgesamt gefunden: in den Höhlen Geißenklösterle, Hohle Fels und Vogelherd, geschnitzt aus dem Flügelknochen eines Schwans und eines Gänsegeiers, sowie eine noch viel aufwendigere aus Mammutelfenbein. Es sind die ältesten bekannten Musikinstrumente der Welt.
Bis zur Höhle ist es nicht mehr weit, jagen muss unser Steinzeitmensch heute nicht mehr, die Vorräte reichen für die nächsten Wochen. Seit sie das Mammut erlegt haben, ist die Stimmung sowieso gut. Die beiden Gänsegeierknochen kommen ihm da gerade recht, solche Prachtexemplare hat er lange gesucht. Er schnitzt seit einiger Zeit an Knochen her um, vor allem an den dünnen, hohlen. Sie sind als Brennmaterial ohnehin ungeeignet. Als er einmal zum Spaß in einen hohlen Knochen geblasen hatte, war plötzlich ein seltsamer Ton zu hören gewesen. Eine Frau aus einer anderen Sippe hatte ihn daraufhin aufmerksam angeschaut. Schnell hatte er den Knochen weggesteckt, es war ein Schwanenknochen gewesen. Seither beschäftigt ihn die Frau, mindestens so sehr wie die beiden Speichen des Gänsegeiers in seiner Hand.
Ein paar Mal im Jahr treffen sie sich mit der anderen Sippe, feiern, tanzen und singen zusammen. Der Rhythmus der Füße hat sich ihm eingeprägt, er versetzt ihn in eine andere Stimmung. Der Schamane singt dazu. Den Klang der Stimme findet unser Steinzeitmensch toll, auch weil er spürt, dass es den anderen in der Gruppe genauso geht. Als er den Ton aus dem Schwanenknochen damals vernahm und die Frau sich umgedreht hatte, war ihm der Gedanke gekommen, dass sich diesem Knochen vielleicht noch mehr Töne entlocken lassen.
Jetzt könnte man sagen, ich mache es mir ganz schön leicht. Ich nehme einfach den Klassiker der Menschheitsgeschichte, um die erste Flöte zu erklären, eine Geschichte zwischen Mann und Frau, und der Mann will nur die Frau erobern. Balzverhalten nennt man das bei Tieren. Aber was die Entstehung von Musik betrifft, gibt es eigentlich nur drei gängige Erklärungen. Frauen singen, um ihre Kinder zu beruhigen, Affenmütter tun das nicht. Eine Mutter kann so Kontakt zu ihrem Kind über die Musik halten und muss es dabei nicht immer auf dem Arm halten. Die Anthropologin Dean Falk von der Florida State University sagt, musikalische Laute hatten den Zweck, das Baby auch einmal ablegen zu können.
In These zwei geht es um Sex: Jemand, der gut singen und tanzen kann, zeigt gleichzeitig, wie kreativ er ist, auch wie ausdauernd und geschmeidig er sich bewegen kann. Geoffrey Miller von der Universität New Mexico sagt: »Musik ist sexy.« Medizinische Untersuchungen bestätigen dies: Musik senkt bei Männern den Spiegel des Aggressions- und Lusthormons Testosteron und hebt ihn bei Frauen, ebenso sinkt der Spiegel des Stresshormons Cortisol. Zugleich erhöht Musik die Ausschüttung von Oxitocin, eines Hormons, das soziale Bindungen fSrdert. Auf der Balz war derjenige erfolgreich, der besonders schSn singen konnte. Oder wie Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, in seinem Werk Die Abstammung des Menschen schreibt: »Musikalische Noten und Rhythmus eigneten sich die männlichen und weiblichen Vorgänger der Menschheit zuerst an, um das jeweils andere Geschlecht zu bezaubern.«
Die dritte Theorie geht davon aus, dass Musik die Gemeinschaft stärkt, wozu auch die erhShte Ausschüttung von Oxitocin passt. Musik festigt den Zusammenhalt von Gruppen messbar, behauptet Robin Dunbar, ein Psycho-loge von der University of Liverpool. Zunächst drückte der Mensch Gemeinschaft durch Rufe und Gesänge aus, mit den ersten Instrumenten, wie FlSten und Trommeln, kamen später neue MSglichkeiten hinzu. Musik ist eine Art sozialer Kitt. Das spürt man heute etwa bei Rockkonzerten, wenn alle in einen kollektiven Rausch geraten. Musik schafft einen gewissen Gleichklang und verbindet die Menschen.
Alle drei Theorien versprechen ganz wesentliche Vorteile für die Menschen.
Gibt es etwas Schöneres als den Klang von Musik? Schon einfache Tonfolgen können uns berühren. Babei wissen wir immer noch nicht, warum wir eigentlich begonnen haben, Musik zu machen? Sicher ist nur, dass vor 40 000 Jahren Menschen vermutlich erstmals ein Instrument gebaut haben - in einer kühlen Höhle auf der Schwäbischen Alb.
DER Mann, der die Hänge der Urdonau entlangläuft, fröstelt. Jenseits des Flusses auf der anderen Talseite verfärben sich an den wenigen Zwergbirken schon die Blätter. Der warme Sommer geht zu Ende, bald wird es schlagartig kalt. Erst vor ein paar Tagen hatten sie im Clan abgestimmt, ob sie wieder in der feuchten Höhle aus dem Vorjahr überwintern sollten. Der Mann mag sie nicht, nicht den langen, düsteren Felstunnel, der in ein schwarzes Nichts hineinführt und in dem sie im vergangenen Jahr einen Höhlenbären aufgeschreckt hatten. Er leidet unter der stickigen, vom Knochenfeuer rauchschwangeren Luft und erst recht unter dem scharfen Geruch nach verkohlten Knochen. Gut, die Halle, die sich weiter hinten öffnet, hat etwas Heimeliges, und die Stimmen hallen wunderbar von der Decke wider, aber was ist das schon gegen den Sternenhimmel und die Geräusche der Nacht, wenn man im Freien schlafen kann?
Draußen ziehen sich die Hänge sanft hinunter zum Fluss. Trotz des geschwungenen Tals kann der Mann in der Ferne die Tiere in der kargen Grassteppe erkennen, nur die niedrigen, windschiefen Birken und ein paar verkrüppelte Kiefern lockern die monotone Landschaft auf. Er mag das Tal, hier gibt es genügend Tiere zum Jagen: Mammuts, Rentiere, Pferde, Antilopen und vereinzelt Wollnashörner. In den en-
ger werdenden und leicht ansteigenden Seitentälern kann man sie gut in die Enge treiben. Aus den Fellen lassen sich warme Fu9säcke fertigen. Gedankenversunken stolpert der Mann im halbhohen Gras über das Gerippe eines Gänsegeiers. Die mächtigen Tiere mit mehr als zweieinhalb Me-tern Flügelspannweite kreisen oft am Himmel und warten, ob die Jäger irgendetwas Essbares zurücklassen. Doch dieses Tier hat es erwischt, vielleicht ist es beim Fressen zu unvorsichtig gewesen und von einer Säbelzahnkatze gerissen worden. Der Mann schaut sich das Gerippe im Gras kurz an, dann greift er sich zielstrebig nur die beiden Speichen aus den Flügeln.
Bitterkalt war es auf der Schwäbischen Alb vor 40 000 Jahren. Erst rund 1500 Jahre zuvor war es nach einer langen Eiszeit ein paar Grade wärmer geworden. Die Durchschnittstemperatur lag nun bei minus einem Grad. Knochenfunde und Pollenanalysen aus dem Sediment belegen eindeutig, wie die Flora und Fauna vor 40 000 Jahren aussah. Die Landschaft war damals eine fast baumlose Tundra mit Gräsern, es gab Mammuts, Höhlenbären und sogar Höhlenlöwen. Wäre die Wissenschaft durch neue Techniken in den vergangenen Jahren hier nicht so exakt geworden, könnte ich die Steinzeitwelt nicht so genau rekonstruieren.
Die in der Geschichte beschriebene Höhle hei9t heute Hohle Fels, sie liegt im Achtal nahe Blaubeuren auf der Schwäbischen Alb, dem Tal der Urdonau. In ihr sollte 40 000 Jahre später ein gewisser Nicolas Conard eine Steinzeitflöte finden, weitere Exemplare entdeckte er ganz in der Nähe in einer zweiten Höhle.
Die Flöte hat der Urgeschichtler von der Universität Tübingen nicht dabei, als wir den Hang oberhalb der Ach entlang zum Eingang von Hohle Fels laufen, sie ist viel zu wert-
voll und längst im Museum gelandet. Conard, in einen dicken Parka gehüllt, zeigt auf eine Stelle an einer leichten Flussbiegung. Am Ufer des hübschen Flüsschens waschen Studenten dort während der Grabungszeit die bereits grob untersuchte Erde aus Hohle Fels, um auch die feinsten Knochen- oder Elfenbeinsplitter herauszufiltern. Das Tal hat die Urdonau gegraben, bis vor 150 000 Jahren floss sie noch hier entlang. Erst dann hat sich infolge von Eiszeitablagerungen der heutige Verlauf ergeben. Im Winter und Frühjahr hielten sich die Steinzeitmenschen in den Höhlen auf. Weil Holz in der Steppenlandschaft selten war, heizten sie die mit Tierknochen. Die Vorstellung von den Urzeitmenschen als Höhlenbewohnern ist jedoch irreführend. Es gab Jahrtausende, in denen sich niemand in den Höhlen aufhielt. Die Urzeitmenschen nutzten sie nur, wenn es draußen noch unwirtlicher war. Höhlen sind einfach kalt, feucht und dunkel. Das merkt man bei einigen schon im Eingangsbereich, wenn sich beim Sprechen kleine Atemwölkchen bilden. Nicolas Conard zieht seine Wollmütze, die er nur lose aufgesetzt hat, tiefer ins Gesicht. Für Forscher sind Höhlen wiederum ideale Forschungsareale, denn in ihnen erhalten sich Überreste viel länger als im Freien. Und wo sollte man auf den endlosen Hängen und Wiesen auch anfangen, nach Hinterlassenschaften der Steinzeitmenschen zu suchen? Das Urdonautal gilt als Einwanderkorridor für den Homo sapiens. Den Fluss entlang zog er vom Schwarzen Meer in die allmählich wärmer werdenden Regionen Mitteleuropas. Das Ende der Eiszeit gab neuen Lebensraum frei, die Eispanzer zogen sich in die Alpen und nach Norden zurück.
Die Leute in Schelk lingen und Blaubeuren erzählen gern von den Eiszeitlandschaften, und allmählich gelingt es mir, mich selbst in diese andere Welt zurückzuversetzen. Von hier oben, seitlich an der halbrunden Felskuppe vorbei, hat man einen phantastischen Blick hinunter ins Tal, zwischen mächtigen Bäumen hindurch bis zum Fluss. Damals jedoch war die heute an Bäumen und Büschen reiche Landschaft noch ziemlich karg, nach Jahrtausenden unter tonnenschwerem Eis. Einst war hier eine Grassteppe, in dem halbhohen Gras konnte man weit schauen, die wenigen Minibäumchen versperrten kaum den Blick. Heute zieht sich eine kleine Bundesstraße durchs geschwungene Achtal, in Schelklingen steht eine große Fabrik von Heidelberger Zement, einem wichtigen Sponsor der Ausgrabungen des Tübinger Urgeschichtlers.
Acht Flöten haben die Archäologen bisher insgesamt gefunden: in den Höhlen Geißenklösterle, Hohle Fels und Vogelherd, geschnitzt aus dem Flügelknochen eines Schwans und eines Gänsegeiers, sowie eine noch viel aufwendigere aus Mammutelfenbein. Es sind die ältesten bekannten Musikinstrumente der Welt.
Bis zur Höhle ist es nicht mehr weit, jagen muss unser Steinzeitmensch heute nicht mehr, die Vorräte reichen für die nächsten Wochen. Seit sie das Mammut erlegt haben, ist die Stimmung sowieso gut. Die beiden Gänsegeierknochen kommen ihm da gerade recht, solche Prachtexemplare hat er lange gesucht. Er schnitzt seit einiger Zeit an Knochen her um, vor allem an den dünnen, hohlen. Sie sind als Brennmaterial ohnehin ungeeignet. Als er einmal zum Spaß in einen hohlen Knochen geblasen hatte, war plötzlich ein seltsamer Ton zu hören gewesen. Eine Frau aus einer anderen Sippe hatte ihn daraufhin aufmerksam angeschaut. Schnell hatte er den Knochen weggesteckt, es war ein Schwanenknochen gewesen. Seither beschäftigt ihn die Frau, mindestens so sehr wie die beiden Speichen des Gänsegeiers in seiner Hand.
Ein paar Mal im Jahr treffen sie sich mit der anderen Sippe, feiern, tanzen und singen zusammen. Der Rhythmus der Füße hat sich ihm eingeprägt, er versetzt ihn in eine andere Stimmung. Der Schamane singt dazu. Den Klang der Stimme findet unser Steinzeitmensch toll, auch weil er spürt, dass es den anderen in der Gruppe genauso geht. Als er den Ton aus dem Schwanenknochen damals vernahm und die Frau sich umgedreht hatte, war ihm der Gedanke gekommen, dass sich diesem Knochen vielleicht noch mehr Töne entlocken lassen.
Jetzt könnte man sagen, ich mache es mir ganz schön leicht. Ich nehme einfach den Klassiker der Menschheitsgeschichte, um die erste Flöte zu erklären, eine Geschichte zwischen Mann und Frau, und der Mann will nur die Frau erobern. Balzverhalten nennt man das bei Tieren. Aber was die Entstehung von Musik betrifft, gibt es eigentlich nur drei gängige Erklärungen. Frauen singen, um ihre Kinder zu beruhigen, Affenmütter tun das nicht. Eine Mutter kann so Kontakt zu ihrem Kind über die Musik halten und muss es dabei nicht immer auf dem Arm halten. Die Anthropologin Dean Falk von der Florida State University sagt, musikalische Laute hatten den Zweck, das Baby auch einmal ablegen zu können.
In These zwei geht es um Sex: Jemand, der gut singen und tanzen kann, zeigt gleichzeitig, wie kreativ er ist, auch wie ausdauernd und geschmeidig er sich bewegen kann. Geoffrey Miller von der Universität New Mexico sagt: »Musik ist sexy.« Medizinische Untersuchungen bestätigen dies: Musik senkt bei Männern den Spiegel des Aggressions- und Lusthormons Testosteron und hebt ihn bei Frauen, ebenso sinkt der Spiegel des Stresshormons Cortisol. Zugleich erhöht Musik die Ausschüttung von Oxitocin, eines Hormons, das soziale Bindungen fSrdert. Auf der Balz war derjenige erfolgreich, der besonders schSn singen konnte. Oder wie Charles Darwin, der Vater der Evolutionstheorie, in seinem Werk Die Abstammung des Menschen schreibt: »Musikalische Noten und Rhythmus eigneten sich die männlichen und weiblichen Vorgänger der Menschheit zuerst an, um das jeweils andere Geschlecht zu bezaubern.«
Die dritte Theorie geht davon aus, dass Musik die Gemeinschaft stärkt, wozu auch die erhShte Ausschüttung von Oxitocin passt. Musik festigt den Zusammenhalt von Gruppen messbar, behauptet Robin Dunbar, ein Psycho-loge von der University of Liverpool. Zunächst drückte der Mensch Gemeinschaft durch Rufe und Gesänge aus, mit den ersten Instrumenten, wie FlSten und Trommeln, kamen später neue MSglichkeiten hinzu. Musik ist eine Art sozialer Kitt. Das spürt man heute etwa bei Rockkonzerten, wenn alle in einen kollektiven Rausch geraten. Musik schafft einen gewissen Gleichklang und verbindet die Menschen.
Alle drei Theorien versprechen ganz wesentliche Vorteile für die Menschen.
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Autoren-Porträt von Hubert Filser
Filser, HubertHubert Filser ist Wissenschaftsreporter für die Süddeutsche Zeitung und arbeitet als Chefautor für Quarks&Co. Zuvor war er Wissenschaftsredakteur der SZ und entwickelte mit anderen das Magazin SZ Wissen. Filser wurde 2007 mit dem Theiss-Archäologie-Preis und 2012 mit dem Arthur-Köstler-Preis ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hubert Filser
- 2013, 1, 336 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548375030
- ISBN-13: 9783548375038
- Erscheinungsdatum: 12.04.2013
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