Das geheime Land
Das geheime Land von Lisa Tuttle
LESEPROBE
1. Joe
Meine seltsamsteKindheitserinnerung dreht sich um das Verschwinden meines Vaters.
Folgendesist das, was ich noch weiß:
Es warEnde September. Ich war neun Jahre alt, meine Schwester Heather siebeneinhalb.Dem Kalender nach war der Sommer vorbei, und wir gingen schon seit Wochenwieder in die Schule, doch das Wetter blieb warm und sonnig. Nur die Blätterverfärbten sich als erste leise Vorahnung des Herbstes, wenngleich nichts aufden langen Winter des Mittelwestens hindeutete, der uns bevorstand. Jederwusste, dass die Schönwetterperiode nicht ewig anhalten konnte, und soverkündete meine Mutter am Samstagmorgen, wir würden ein Picknick auf dem Landmachen.
Wieüblich saß mein Dad hinter dem Steuer. Als wirMilwaukee verließen, wies der Kugelkompass am Armaturenbrett - ein Gerät, dasmich immer wieder faszinierte - nach Nordnordwest. Ich weiß nicht, wie weit wirfuhren. Damals fand ich Fahrten mit dem Auto stets ermüdend und viel zu lang.Dieses Mal jedoch hielten wir schon sehr bald wieder an. Dadließ den Wagen auf freiem Feld am Straßenrand ausrollen. Ringsum erstrecktensich abgeerntete Äcker, in der Ferne sah ich eine Farm, und auf einer Weidegrasten Kühe. Sonst gab es nichts - keinen Park, keinen Wald, keinen Strand,nicht einmal einen Picknicktisch.
»Sindwir da?«, fragte Heather. Ihre Stimme klang fastweinerlich, weil sie es nicht glauben konnte.
»Nein,noch nicht«, sagte unsere Mom. Und im nächstenAugenblick erklärte Dad: »Ich muss mit einem Mannwegen eines Pferdes sprechen.«
»Dumeinst wohl einen Hund.« Sie kicherte. »Du willst mit
einem Mann wegen eines Hundes sprechen, nicht wegen eines Pferdes, du Dummer.«
»DiesesMal könnte es vielleicht doch ein Pferd sein«, sagte er. Er blinzelte und stiegaus.
»IhrKinder bleibt, wo ihr seid«, befahl Mom scharf. »Dad ist gleich wieder da.«
Ichhatte schon die Hand am Türgriff und drückte ihn herunter. »Ich muss auch.«
Sieseufzte. »Oh, na gut. Aber du nicht, Heather. Du bleibst hier.«
»Wo istdas Klo?«, fragte Heather.
Ich warschon draußen und hatte die Tür geschlossen, bevor ich die Antwort hörte.
MeinVater war nur ein paar Schritte vor mir. Er ging zum Acker und hatte esoffenbar nicht eilig. Einmal blieb er sogar stehen und pflückte eine Blume.
Aus derGegenrichtung kam ein Auto. Ich sah es in der Sonne blitzen, obwohl es nochsehr weit entfernt war. Das Land war hier überraschend flach und weit. Einseltsamer Ort für eine Pinkelpause, da es nicht einmal einen Baum gab, hinterdem man sich verstecken konnte, und falls es für meinen Dadwirklich so dringend war, dann konnte man es seinem gemächlichen Gang sichernicht ansehen. Ich schlenderte hinter ihm her und gab mir keine Mühe, ihneinzuholen, sondern betrachtete seinen Rücken, während er übers Feld lief.
Aufeinmal war er nicht mehr da.
Ichblinzelte und starrte nach vorne, dann lief ich zu der Stelle, wo ich ihnzuletzt gesehen hatte. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als dass ergestürzt oder in einen verborgenen Graben oder in ein Loch gesprungen war.Allerdings fand ich keine Spur von ihm und sah kein Versteck, als ich dieStelle erreichte, wo er verschwunden war. Der Boden war eben und flach, dasGras nicht höher als meine Knie, und ich konnte mit einem einzigen erschrockenenBlick erkennen, dass außer mir kein Mensch auf dem großen weiten Feld war.
Von derStraße her hörte ich Rufe. Hinter unserem hatte ein zweiter Wagen amStraßenrand gehalten, ein altmodisches schwarzes Cabrio. Es war der Wagen, denich kurz vorher bemerkt hatte. Meine Mutter war ausgestiegen und in eineangeregte Unterhaltung mit einem bärtigen Mann im Anzug, einer Frau mit breitemSchlapphut und zwei Mädchen vertieft.
Dannrief sie mich. Mit einer schrecklichen Angst im Bauch kehrte ich zum Autozurück. Heather saß auf dem Rücksitz und hatte von dem Drama nichtsmitbekommen. Als ich mich näherte, drückte sie die Nase an der Scheibe plattund schnitt eine Grimasse wie ein grinsendes Schwein. Ich war zu verstört, umdarauf zu reagieren.
»Wo istdein Vater, Ian?«
Ichschüttelte den Kopf, schloss die Augen und hoffte, ich werde bald aufwachen.
MeineMutter fasste mich bei den Armen und schüttelte mich leicht. »Was ist los?Wohin ist er gegangen? Ian, du musst es doch wissen. Was hast du gesehen? Hater etwas gesagt? Du warst doch bei ihm!«
»Ich wardirekt hinter ihm, und auf einmal war er nicht mehr da«, sagte ich tonlos.
»Ja!«, rief die Frau aus dem altmodischen Auto. Sie nickteeifrig. »Genau so war es. Er ist verschwunden, einfach so.«Sie schnippte aufgeregt mit den Fingern.
»Ichmusste natürlich auf die Straße achten«, beteuerte der Mann entschuldigend. Esklang, als hätte er es schon einmal gesagt. Er räusperte sich. »Deshalb konnteich nicht genau beobachten, was wirklich geschah. Allerdings sah ich zwei Gestaltenauf dem Acker, einen Mann und einen Jungen, und als ich wieder hinschaute -direkt nachdem Emma einen Schrei ausgestoßen hatte -, war nur noch der Junge da.«
DasGesicht meiner Mutter nahm den harten, störrischen Ausdruck an, den ich schonöfter an ihr gesehen hatte, wenn wir Kinder oder mein Vater Schwierigkeitenmachten. Der Ausdruck bedeutete, dass sie keine Zeit mit Diskussionenverschwenden wollte.
»Bringmich zu ihm, Ian«, sagte sie. »Zeige mir genau, wo er war, als du ihn aus denAugen verloren hast.«
Ich tates, obwohl ich schon vorher wusste, dass es sinnlos war.
Wirsuchten mehrmals das ganze Feld ab, zuerst stumm und dann zunehmendverzweifelt, wobei wir laut »Daddy!« und »Joe!«riefen. Die Leute im anderen Auto, die einzigen anderen Zeugen des Vorfalls,blieben bei uns und halfen uns.
Als esdunkel wurde, gaben wir auf, fuhren in die nächste Stadt und meldeten meinenVater als vermisst. Auch hier waren die Leute im altmodischen Auto wiederhilfsbereit. Der Mann war Richter und hieß Arnold Peck, seine Frau arbeiteteals Lehrerin in der Sonntagsschule. Beide waren geachtete Mitbürger in diesemOrt, und auch ihre beiden ernsten, hübschen Mädchen waren dafür bekannt, immerdie Wahrheit zu sagen. Deshalb nahm man die unglaubliche Geschichte über dasVerschwinden meines Vaters ernst. Suchtrupps mit Hunden wurden losgeschickt,und von der Universität in Madison wurde ein Geologe gerufen, der vielleichtetwas über unterirdische Höhlen oder Sinklöcher auf einem so gewöhnlichaussehenden Acker sagen konnte.
Doch manfand keine Spur von meinem Vater und konnte auch nicht erklären, was aus ihmgeworden war.
Es istseltsam, wie gut ich mich nach all den Jahren noch heute an die Einzelheitenerinnere - die Wärme der Sonne im Nacken, als ich auf dem einsamen Feldumherstapfte, der Geruch der Erde und der niedergetrampelten Grashalme, dasleise Summen der Insekten, die Form und Farbe der kleinen gelben Blume, diemein Vater gepflückt hatte, bevor er sich auf diese endlose Reise begab, dieverzweifelte Stimme meiner Mutter, als sie seinen Namen rief.
Nochseltsamer ist, dass nichts davon wirklich geschehen ist.
MeinVater ist tatsächlich verschwunden - aber nicht auf diese Weise.
Meine»Erinnerungen« stammen aus einem Buch über große ungelöste Geheimnisse, das ichzum neunten Geburtstag geschenkt bekam, nur ein paar Monate, bevor mein Vaterverschwand. Eine Geschichte in dem Buch drehte sich um David Lang, einen Farmeraus Gallatin in Tennessee; er verschwand
eines schönen, sonnigen Tages im Jahre 1880 in der Nähe seines Hauses und vorden Augen seiner ganzen Familie und zweier Nachbarn, die zu Besuch waren, alser ein Feld überquerte.
Ich weißnicht, wie lange ich glaubte, mein Vater sei auf genau die gleiche Weiseverschwunden. Anscheinend war ich aber vernünftig genug, mit niemandem darüberzu reden, und schließlich fiel die Phantasie von mir ab wie der Schorf voneiner alten Wunde.
DieseGeschichte über unzuverlässige Erinnerungen hat aber noch eine weitere Wendung.
Mehr alszwanzig Jahre später, als ich mich so intensiv mit auf geheimnisvolle Weiseverschwundenen Menschen beschäftigte, wie es nur möglich ist, fand ich heraus,dass die Geschichte über David Langs Verschwinden eine reine Erfindung war,vermutlich angeregt durch eine Kurzgeschichte von AmbroseBierce, auf
jeden Fall aber ohne jegliche reale Grundlage. Zum ersten Mal tauchte sie alsZeitschriftenartikel im Jahre 1953 auf und wurde dann an Dutzenden weitererStellen aufgegriffen und nacherzählt. Spätere Forschungen konnten schlüssigbeweisen, dass es in Gallatin niemals einen Farmernamens David Lang gegeben hatte und dass alle Geschichten über ihn und seingeheimnisvolles Verschwinden frei erfunden waren. Dennoch überlebt dieGeschichte, treibt inzwischen ihr Unwesen im Internet und taucht in Büchernauf, die sich mit unerklärlichen Phänomenen beschäftigen, während andere, echteFälle von verschwundenen Personen in Vergessenheit geraten.
DavidLang hat nie existiert, doch jeden Tag verschwinden reale Menschen.
Ich willIhnen von einigen erzählen.
© PiperVerlag
Übersetzung:Jürgen Langowski
- Autor: Lisa Tuttle
- 2006, 394 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Langowski, Jürgen
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 349270123X
- ISBN-13: 9783492701235
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