Das himmlische Kind
Die Lage scheint trostlos und das Land endgültig verloren, als König Matthew von seinem Innenminister Fang entmachtet und weggesperrt wird. Bald ächzt das ganze Land unter der knallharten Knute des Usurpators. Gleichzeitig bemüht sich der Zauberer Leonardo...
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Produktinformationen zu „Das himmlische Kind “
Die Lage scheint trostlos und das Land endgültig verloren, als König Matthew von seinem Innenminister Fang entmachtet und weggesperrt wird. Bald ächzt das ganze Land unter der knallharten Knute des Usurpators. Gleichzeitig bemüht sich der Zauberer Leonardo Pegasus verzweifelt, den Kobold Lee unschädlich zu machen, der im Netzwerk seiner Fühlen-auf-Distanz-Maschine Unheil anrichtet ...Eine Entführung in eine Welt der Rätsel und Mysterien!
Die Lage scheint trostlos und das Land endgültig verloren, als König Matthew von seinem Innenminister Fang entmachtet und weggesperrt wird. Bald ächzt das ganze Land unter der knallharten Knute des Usurpators. Gleichzeitig bemüht sich der Zauberer Leonardo Pegasus verzweifelt, den Kobold Lee unschädlich zu machen, der im Netzwerk seiner Fühlen-auf-Distanz-Maschine Unheil anrichtet ...
Eine Entführung in eine Welt der Rätsel und Mysterien!
"Ein Roman voller Wunder und Poesie!" - Interzone Magazine
"Intelligent und zutiefst bewegend!" - China Miéville
"Steve Cockayne ist der seit langem wichtigste und originellste Autor in der neuen britischen Phantastik!" - Starburst Magazine
Eine Entführung in eine Welt der Rätsel und Mysterien!
"Ein Roman voller Wunder und Poesie!" - Interzone Magazine
"Intelligent und zutiefst bewegend!" - China Miéville
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Lese-Probe zu „Das himmlische Kind “
ERSTES KAPITEL:Die Turmresidenzen
Hört auf. Ich will noch nicht aufwachen.
Eigentlich will ich überhaupt nicht aufwachen. Es ist so bequem und angenehm und so viel einfacher hierzubleiben, als aufstehen und Dinge erledigen zu müssen. Und ich bin schon so lange hier, dass ich mir kaum noch vorstellen kann, wie es ist, woanders zu sein oder etwas anderes zu tun.
Schon gut, schon gut. Nur noch zehn Minuten!
Schließlich muss ich mich erst mal darauf besinnen, wo ich bin. Am Rande des Geschehens oder mittendrin? Ich weiß es wirklich nicht und frage mich, ob ich es je gewusst habe.
Ah, langsam spüre ich etwas. Es umgibt mich von allen Seiten, dieses, dieses... wie immer man es nennen mag. Es fühlt sich wie ein Gewebe an, wie ein Netzwerk aus Fäden oder Linien - oder jedenfalls wie etwas in der Art.
Ja. Das Netzwerk. So heißt es. Jetzt fällt's mir wieder ein. Es umgibt mich, breitet sich in jede Richtung aus und verbindet irgendwie alles mit allem. Ich könnte es nutzen, wenn ich wollte. Ich könnte aufstehen und gehen, wohin ich will. Wenn ich mich nur dazu aufraffen könnte. Wenn ich mich bloß dazu bringen könnte aufzuwachen.
Ja, jetzt spüre ich auch, dass es dort draußen noch andere Wesen gibt - Wesen, die eigene Räume bewohnen, ihren Angelegenheiten nachgehen, Aufgaben zu erfüllen haben und eigene Absichten verfolgen.
Doch sie alle scheinen ungemein beschäftigt. Es erschöpft mich schon, nur an sie zu denken und ihre Fortbewegungsweisen, Charaktere und Kommunikationsgewohnheiten zu registrieren. Sind diese anderen Wesen wie ich? Haben sie das gleiche Ziel? Sollte ich mein Ziel je gekannt haben, kann ich mich daran allerdings nicht mehr erinnern.
Was für ein Wesen bin ich eigentlich?
Ich bin einfach nur müde... Warum ist es bloß so anstrengend, wach zu werden?
Es ist fast, als wollte mich jemand aufhalten - vielleicht eins der anderen Wesen. Ich habe das Gefühl, eine große, schwere Hand drückt mich in die Kissen, damit ich mich nicht
... mehr
rühren und nicht tun kann, was ich tun muss.
Ja! Gerade habe ich dieses Wesen einen flüchtigen Moment lang gesehen. Irgendwo dort draußen, in den Linien, Winkeln und Kreuzungen des Netzwerks gibt es jemanden, dessen Ziel dem meinen entgegengesetzt ist. Jemanden, der mich davon abhalten will zu tun, was ich tun muss.
Ja, es gibt etwas, das ich zu erledigen habe, eine Aufgabe, die ich ausführen muss - und dieses Wesen, dieser Widersacher versucht, mich daran zu hindern.
Der Widersacher!
Jetzt fällt mir alles wieder ein! Irgendwo in den trüben Tiefen des Netzwerks, irgendwo in diesem Labyrinth von Wegen, das sich in alle Richtungen um mich herum ausbreitet, in den Drehungen und Windungen dieses Irrgartens, in dem unergründlichen Raum dort draußen lauert der Widerling.
Der Widerling, dessen einziges Ziel es ist zu verspotten, zu verderben und zu zerstören.
Jetzt begreife ich langsam, dass ich den Kampf aufzunehmen und den Zerstörer zu vernichten habe. Meine Aufgabe ist es, den Ursprung dieser scheußlichen Angelegenheit zu ermitteln, den Widerling zu verfolgen, mit ihm zu ringen und ihn schließlich zur Strecke zu bringen.
Wie aber kann ich diese Aufgabe allein bewältigen? Ich bin klein, schwach und müde und schlafe schon seit einer halben Ewigkeit.
Lasst mich also bitte noch ein wenig schlummern.
Ashleigh Brown, Jungkommissarin
Cool, was? Diesen Titel hab ich mir ausgedacht, als sie mich bei den Katzenmädchen rausgeworfen haben, nachdem eines Abends alles aus dem Ruder gelaufen war. Irgendwas musste ich mir ja ausdenken, stimmt's? Also hab ich mir überlegt: Schluss mit dem Kinderkram - ich probier jetzt mal, ein paar echte Geheimnisse zu lösen. Allerdings hat es mich einige Zeit gekostet herauszufinden, welche Geheimnisse ich überhaupt lösen wollte. Ich erzähl euch am besten ein wenig mehr über mich. Meinen Namen hab ich euch schon verraten - ich heiße Ashleigh Brown, doch meine Freunde nennen mich Ash. Ich werde bald achtzehn, doch als diese Geschichte begann, war ich ein ganzes Stück jünger und lebte mit meinem Vater in einem Wohnblock namens Turmresidenzen, draußen in der Westvorstadt, auf der anderen Seite des Flusses. Turmresidenzen hört sich gut an, doch dieser schicke Name bezeichnet nur ein altes, heruntergekommenes Wohnsilo. Türen und Fenster sind in erbärmlichem Zustand, aus den Ritzen wächst Unkraut, und seit Jahren funktioniert kein einziger Aufzug. Ich schätze, diese Verhältnisse bilden die Zustände, die überall in der Stadt herrschen, ziemlich genau ab.
Und mit Dingen, die in der Stadt im Argen lagen, haben meine Schwierigkeiten auch begonnen. An jenem Abend, von dem ich euch erzählen will und dessen Ereignisse dazu führten, dass sie mich bei den Katzenmädchen rauswarfen, waren wir zu viert in der Nordstadt unterwegs, um dafür zu sorgen, dass niemand seinen Abfall einfach so auf die Straße wirft. Was für eine lächerliche Aufgabe, da auf den Straßen so viel Müll rumliegt, dass wir zu viertausend hätten unterwegs sein müssen, um etwas zu bewirken! Na ja, jedenfalls war ich mit Davina unterwegs - meiner besten Freundin, die außerdem Leiterin unserer Patrouille war -, mit Lulu LaFarge und mit der kleinen Maria Moss, die kaum in Erscheinung tritt und immer nur mitzockelt.
Wie gesagt, wir waren in der Nordstadt. Die Nacht war ziemlich ruhig, und irgendwann hatten wir keine Lust mehr, immer nur Müll zu sammeln. Also traten wir eine alte Blechdose den Rinnstein entlang und hatten - schätz ich mal - Lust, was auf die Beine zu stellen. Auf beiden Straßenseiten standen hohe Wohnblöcke, und die Hälfte der Fenster war pechschwarz verdunkelt. Ich muss euch vermutlich nicht erklären, was das bedeutet. Jedenfalls hat plötzlich eine Frau den Kopf aus dem Fenster gestreckt und zu uns runtergebrüllt: "Wenn ihr so viel Zeit habt, kommt doch mal hoch und knöpft euch meine Nachbarn vor! Die machen mich mit ihrem Lärm noch wahnsinnig!"
Davina hörte auf, die Dose durch die Straße zu kicken, und stand einen Moment reglos da - genau wie wir anderen drei. Dann sah sie ganz langsam zu der Frau hoch und brüllte zurück: "Und wenn nicht?"
Da wurde die Frau richtig pampig und rief: "Kommt mir nicht so, Kinder! Ich seh doch, dass ihr in Uniform seid. Ihr sollt für die Einhaltung von Recht und Gesetz sorgen, und wenn ihr nicht sofort hochkommt, werde ich mich morgen früh über euch beschweren."
Dem konnten wir wenig entgegensetzen. Also tigerten wir ins Haus. Die Frau lebte im dritten oder vierten Stock, und die Nachbarn tobten in der Etage über ihr. Also stiegen wir jede Menge Betontreppen hoch und traten ein paarmal gegen die Tür, bis sie aufsprang und wir in die Wohnung drängten. Dort stießen wir auf zwei abgemagerte Kerle, die durchs Zimmer stapften und dabei wie die Wilden schrien. Natürlich hatte jeder einen Kopfhörer auf, der durch ein langes Kabel mit einer großen alten Signalmaschine verbunden war. Wir brauchten ein paar Sekunden, ehe wir das Ungetüm in der Ecke entdeckten, denn selbstverständlich waren auch hier die Fenster pechschwarz verdunkelt, und das Zimmer war voller zu Kleinholz gemachter Möbel und solcher Sachen. Dann bemerkten uns die beiden Kerle, hörten mit dem Herumlaufen und dem Schreien auf und erstarrten.
Natürlich war uns klar, dass wir zwei Fälle von Koboldfieber vor uns hatten.
Die beiden schienen seit Tagen nichts gegessen zu haben. Wir verpassten ihnen ein paar Kopfstöße und Faustschläge, um ihnen deutlich zu machen, wer hier das Sagen hatte, doch sie wehrten sich nicht. Also schoben Davina und Lulu sie einfach in eine Ecke, die kleine Maria schnitt die Kabel der Signalmaschine durch, und zu viert hoben wir den Apparat hoch und wuchteten ihn mit einer fließenden Bewegung aus dem Fenster. Gut, dass niemand auf der Straße war, denn der Apparat krachte mit einem furchtbaren Knall aufs Pflaster und zersplitterte, und auf der ganzen Fahrbahn lagen Glasscherben, Holzstücke und verbogene Maschinenteile.
Danach wollten wir das Haus so schnell wie möglich verlassen. Doch überall auf dem Flur streckten Leute den Kopf aus der Tür, um zu sehen, was los war. Einige klatschten, und ein kleiner alter Mann sprang auf der Schwelle herum und schrie: "So muss man mit diesen Mistkerlen umgehen. Wir wollen hier kein Koboldfieber. Das war mal ein anständiges Haus." Dann tauchte die Frau auf, die uns gerufen hatte, und sagte: "Den Gang runter gibt's noch mehr von dem Gesocks."
Bevor wir recht begriffen hatten, was geschah, waren wir schon in einer anderen Wohnung gelandet und warfen eine zweite Signalmaschine in die Tiefe - diesmal durchs Treppenhaus. Danach kam einfach eins zum anderen, und bald machten viele Leute mit, brüllten, traten Türen ein und schleuderten Signalmaschinen aus dem Fenster. Dann fingen wir alle an zu kichern. Wir konnten gar nicht aufhören damit, so ulkig blickten die Leute drein, wenn ihre heiß geliebte Signalmaschine aus dem Fenster flog, doch schließlich übernahm Davina wieder das Kommando und sagte nur: "Los, Mädchen, nichts wie weg."
Also rannten wir vier lachend, schreiend und Rad schlagend die Straße entlang und trieben mit den Füßen das eine oder andere Signalmaschinenbruchstück vor uns her. Ich weiß nicht, ob uns jemand verfolgte, doch um sicherzugehen, sprangen wir bald über eine Mauer und verschwanden.
Alles in allem war das eine wirklich tolle Nacht, doch natürlich mussten wir dafür büßen.
Am nächsten Tag zitierte uns Sergeant Maggot, unser Ausbildungsleiter, gleich morgens ins Büro. Ich hatte ihn immer für richtig süß gehalten, doch diesmal war ihm der Humor gründlich vergangen.
"Mädchen", sagte er in seiner schwermütigen Art. "Mädchen, Mädchen, Mädchen. Es hat Beschwerden gegeben, über die ich nicht hinwegsehen kann. Krawall, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch. Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?"
Keine von uns brachte ein Wort heraus. Wir standen einfach nur da und traten unruhig von einem Bein aufs andere. Darum sagte er: "Kadett Davina Wright - vielleicht kannst du als Leiterin eurer Patrouille uns ja den Inhalt der Königlichen Verordnung in Erinnerung rufen, die den Umgang mit gemeldeten Fällen von Koboldfieber regelt?"
Davina war einen halben Kopf größer als Maggot, aber irgendwie schien sie vor ihm zusammenzuschrumpfen. Sie murmelte etwas in sich hinein, doch Maggot unterbrach sie und rief: "Lauter! Ich glaube, das möchten wir alle gern hören."
Daraufhin setzte Davina eine zutiefst beleidigte Miene auf und musterte ihre Stiefelspitzen, leierte aber schließlich jene Verordnung herunter, die wir alle im ersten Jahr unserer Ausbildung hatten lernen müssen:
"§1: Koboldfieber ist eine schwere Geistesstörung, die gelegentlich bei Menschen auftritt, die das Königliche Signalnetzwerk regelmäßig nutzen. Es ist zu betonen, dass Koboldfieber in aller Regel lediglich ausgesprochen exzessive Nutzer befällt und bei zurückhaltendem Gebrauch des Signalnetzwerks nur in seltenen Fällen auftritt.
§2: Wer an Koboldfieber leidet, verhält sich oft unvernünftig, unberechenbar und ausgesprochen gefährlich.
§3: Alle gemeldeten Fälle von Koboldfieber müssen umgehend an die Abteilung für Geisteshygiene der Königlichen Wolfsjungen weitergeleitet werden, deren Beamte sofort die geeigneten Maßnahmen ergreifen. Keinesfalls dürfen sich Kadetten oder andere unqualifizierte Personen den Erkrankten nähern. Auch ist es nur unter Aufsicht voll ausgebildeter Techniker erlaubt, sich an den Signalmaschinen zu schaffen zu machen.
§4: Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wird aufs Strengste bestraft."
Mit bedrücktem Gesicht musterte Maggot uns alle von oben bis unten. "In jeder relevanten Hinsicht korrekt zitiert", sagte er schließlich, starrte dann lange an die Decke und schniefte ein paarmal. Schließlich fuhr er fort: "Was habt ihr also zu eurer Verteidigung vorzubringen? Na, Kadett Wright? Oder Kadett Brown?" Er fasste mich scharf ins Auge. "Unsere Beste im zweiten Ausbildungsjahr? Du hättest es wirklich besser wissen sollen!" Ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken. "Und Kadett La-Farge? Na ja, du hast nie viel geredet. Und Kadett Moss?"
Keine von uns sagte auch nur ein Wort. Ich glaube, besonders schlimm wurde das Ganze dadurch, dass Maggot kein einziges Mal laut wurde, sondern sehr leise sprach. "Natürlich ist jugendlicher Überschwang verzeihlich, wenn er einigermaßen im Rahmen bleibt", fuhr er fort. "Doch leider war euer Verhalten gestern Abend schlicht unerhört. Ihr vier seid entlassen und geht sofort nach Hause. Ich werde euren Eltern schreiben."
Das war's also. Einige der Wolfsjungen, die uns ausbildeten, nahmen uns Uniform und Dienstmarke ab und brachten uns, die wir inzwischen Zivilkleidung trugen, auf direktem Weg ans Kasernentor. Danach strichen wir noch ein wenig auf dem Westlichen Boulevard herum, denn niemand von uns wollte nach Hause, doch nach einer Weile bekamen wir das Gefühl, alle würden uns anstarren. Da wurden wir richtig wütend und versuchten uns einzureden, wir wären im Recht und Maggot hätte Unrecht, doch insgeheim wussten wir, dass wir gegen die Regeln verstoßen hatten und dafür bestraft werden mussten.
Dann meinte Davina, sie habe von den Katzenmädchen ohnehin die Nase voll - das sei doch nur Kinderkram, und sie habe schon mehrmals daran gedacht, den Dienst zu quittieren. Wir pflichteten ihr umgehend bei und lästerten alle: "Stimmt, es ist wirklich immer langweiliger geworden. Die haben uns nie was Spannendes zu tun gegeben." Nachdem wir lange genug solche Sprüche geklopft hatten, fühlten wir uns alle etwas besser.
Doch mir war klar, dass ich früher oder später nach Hause gehen und meinem Vater gegenübertreten musste.
Der neue Wirt
"Hören Sie bitte sofort damit auf, Mrs Pegasus. In unserem Alter ist das ja eine Schande."
Leonardo Pegasus - seines Zeichens pensionierter Magier - manövrierte seine ihm frisch angetraute Gattin sanft, aber bestimmt in eine aufrechte Position, zog seine Sachen zurecht und spähte zum ersten Mal seit Stunden aus dem Kutschenfenster.
"Vorhin schien es dir noch nicht viel ausgemacht zu haben, du alter Sack." Ruth rückte die Brille gerade und stöberte in ihrer riesigen Handtasche nach einer Bürste.
"Jetzt sind wir aber so gut wie da", erwiderte Leonardo. "Also sollten wir uns bemühen, ein wenig respektabel zu wirken." Er schlüpfte wieder in die Stiefel und tastete unter dem Sitz nach seinem breitkrempigen Hut. Das Paar - hoch in den Sechzigern - kehrte aus unerwarteten, aber ausgesprochen angenehmen Flitterwochen zurück, und die Kutsche würde sie gleich in dem Dorf absetzen, wo Leonardo sich sechzehn Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt hatte.
"Ich kann's gar nicht erwarten, dein Haus zu sehen", sagte Ruth und legte letzte Hand an ihre Frisur. "Was für eine Art Gebäude ist es eigentlich? Du hast nie davon erzählt." Die Kutsche holperte durch eine tiefe Furche in der Landstraße, und Ruth langte nach unten, um ihren Spiegel zu retten.
"Ach, nichts Besonderes", murmelte Leonardo ausweichend. "An sich bloß ein Ort, um meine Siebensachen zu verwahren. Sieh mal, da oben ist die Signalwache. Dort werde ich von nun an arbeiten."
Beide verrenkten sich beinahe, um aus dem gegenüberliegenden Fenster zu schauen. Tatsächlich: Auf der sanften Linie abgerundeter Hügel vor ihnen thronte ein hässlicher Bungalow, der die Harmonie der Landschaft rüde durchbrach. Er war aus schmutzgelben Ziegeln errichtet, und auf seinem Betonflachdach wehte eine Reihe schäbig aussehender Signalflaggen. Die Kutsche wurde immer langsamer, je weiter sich der alte, magere Klepper die zunehmende Steigung hochkämpfte.
"Der schafft's nicht mehr", jammerte der Kutscher. "Heutzutage bekommt man einfach keine anständigen Zugtiere."
"Ganz schön groß, oder?", bemerkte Ruth. "Diese... wie sagtest du noch?... Signalwache. Hast du viel Zeug, das da hinaufmuss?"
"Ziemlich viel. Im Moment ist aber alles noch in Einzelteilen. Wenn es erst oben ist, werde ich es zusammensetzen. Pass auf - das Dorf muss jeden Augenblick auftauchen."
Und wirklich erreichte die Kutsche in diesem Moment den Hügelkamm, und das Dorf kam in Sicht. Es war eine kleine Siedlung von vielleicht zwanzig oder dreißig Häusern. Die Gebäude waren auf beide Ufer eines schmalen Flusses verteilt, der sich durch das abgelegene Tal schlängelte. Es war Frühsommer, doch das Gras auf den Wiesen wirkte schon gelblich und welk.
Ein paar Minuten später erreichte die Kutsche die Ecke, an der die kleine Dorfkirche und das graue, wenig einladende Haus des Pfarrers standen. Dort stieß der schmale Weg, auf dem sie gekommen waren, auf eine breitere und ein wenig bessere Straße - auf die Hauptstraße des Dorfes nämlich. Die Kutsche bog langsam um die Kurve, fuhr einen leichten Hang hinab und kam erst an einer Hand voll großer, einzeln stehender Häuser und dann an einigen Reihenhäuschen vorbei, die einer struppigen Weide gegenüberlagen. Aus den Vorgärten grüßten ein paar Leute, und Leonardo grüßte herzlich zurück.
"Hallo, Mrs Hopkins. Hallo, Colin."
"Unglaublich!", rief Ruth. "Ist das Leben auf dem Lande tatsächlich so? Kennt man hier wirklich seine Nachbarn? Ich hab in der Stadt eigentlich nie jemanden gekannt."
"Daran hab ich mich inzwischen gewöhnt", entgegnete Leonardo. "Aber am Anfang kam es mir ausgesprochen seltsam vor. Schau, da ist der Dorfanger."
Die breite flache Wiese, die sie vom Fluss trennte, schien eher braun als grün; am anderen Ufer stand eine zweite Reihenhauszeile, vor der sie die gebeugte Gestalt einer alten Frau erkennen konnten. Sie kümmerte sich um den Gemüsegarten, und das Geräusch ihrer Hacke drang scharf durch die Luft.
"Oma Hopkins", erklärte Leonardo knapp. "Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Sie zieht noch immer ihre Radieschen. Dabei muss sie mindestens hundert Jahre alt sein."
Vor ihnen am Ende der Straße konnte Ruth gerade noch ein heruntergekommenes Schulgebäude erkennen, ehe die Kutsche scharf abbog und durch ein schmales Tor auf den Hof der Gaststätte "Pflug" fuhr.
"Angekommen, Chef, Lady", rief der Kutscher. "Wo soll ich Ihr Gepäck abladen?"
Ruth starrte Leonardo an. "Du wohnst im Gasthof?" Sie schien völlig verblüfft.
"Na ja, nicht gerade im Gasthof", erwiderte Leonardo vorsichtig. "Eher dahinter. Eigentlich mehr so über den Ställen. Aber ich arbeite hin und wieder in der Gaststube. In Teilzeit, weißt du. Ich kümmere mich ein wenig um den Laden, wenn der Wirt beschäftigt ist. Ja, hier rüber", rief er dann dem Kutscher zu. "Könnten Sie uns behilflich sein, unsere Sachen die Leiter hochzuwuchten?"
Der Heuboden über den Ställen war die letzten sechzehn Jahre Leonardos Zuhause gewesen.
Anfangs hatte er die Annehmlichkeiten des Stadtlebens vermisst und überdies sehr unter dem Verlust seines Status als Leitender Magier von König Roderick gelitten. Denn als Roderick gestorben war, hatte sein junger Nachfolger Matthew einige prompte und dramatische Veränderungen in der Verwaltung des Königreichs veranlasst - so auch die Zwangspensionierung vieler Berater des alten Königs, zu denen auch Meister Pegasus gehörte. In Ungnade gefallen, hatte der Magier die Stadt verlassen müssen und in der tiefsten Provinz ein neues Leben begonnen. Im Lauf der Zeit hatte er sich an den gemächlicheren Rhythmus des dörflichen Alltags gewöhnt und sich langsam mit den Bedingungen seines neuen Daseins arrangiert. Bis er eines Tages in die Stadt zurückgerufen worden war. Anscheinend besaß er eben doch ein gewisses Talent, das sich letztlich als unverzichtbar erwiesen hatte.
Und natürlich war er Ruth wieder begegnet - Ruth, die sich nun die wacklige Leiter hinaufquälte und durch die Falltür auf den Heuboden hocharbeitete, sich dort auf Zehenspitzen über die unebenen Holzdielen bewegte, sich unter Dachbalken durchbeugte und zwischen Bergen von verstaubten Kisten hindurchzwängte, in der muffigen Atmosphäre kaum Luft bekam und verwundert in alle Ecken spähte.
Dachfenster sorgten für ziemlich gute Sichtverhältnisse. Lichtstrahlen zwängten sich durch schmierige Scheiben und zwischen ächzenden Balken hindurch und kreuzten sich auf dem vollgestopften Dachboden. Langsam erfasste Ruth die ungewohnte Umgebung. Überall türmten sich Maschinen von jeder erdenklichen Form und Größe. Dazwischen standen hohe verbeulte Metallschränke, deren Vorderseite mit kaputten Skalen und Messgeräten übersät war. Klapprige Holzregale beherbergten schiefe und instabile Sammlungen von Glaskolben und Retorten, die allesamt durch spiralförmige Rohre verbunden waren und unterschiedliche Mengen ungesund aussehender Flüssigkeiten enthielten. Zudem waren viele Uhrwerke, Kopfhörer und Okulare, Elektrogeräte, magnetische Apparate, Druckluftvorrichtungen und hydraulische Anlagen auf dem Heuboden zu finden.
Doch kein einziges Messgerät war in Betrieb, und nicht ein Licht blinkte. Alles war reglos und still und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
"Das ist die Komplexe Empathiemaschine", sagte Leonardo zur Erläuterung. "Jedenfalls, wenn ich sie zusammengesetzt habe. Du wirst mehr damit anfangen können, wenn sie in Betrieb ist. Ich sollte wohl den Generator anwerfen."
Ruth mummelte sich in ihre Jacke ein. "Hier oben ist es eiskalt", sagte sie bibbernd. "Gibt's bei dir eigentlich keine anständigen Möbel? Und wo wäschst du dich? Wo schläfst du?"
Verlegen wies Leonardo auf eine verschossene Strohmatratze, die unter einer Werkbank hervorlugte. Dieser neuerlichen Enthüllung folgte ein Moment unbehaglichen Schweigens, in dem Ruth offensichtlich um Fassung rang. Schließlich schloss sie ihren Ehemann in die Arme.
"Du alter Schwachkopf", seufzte sie. "Was soll ich bloß mit dir machen?"
"Gehen wir doch wieder runter und lassen wir uns im Schankraum sehen", schlug Leonardo kurz darauf vor. "Ich könnte einen Schluck vertragen und schätze, die Stammgäste freuen sich, dass ich wieder da bin." Ruth zog eine Braue hoch. "Und dich möchten sie natürlich auch kennen lernen", fügte Leonardo hastig hinzu. "Wir könnten uns eigentlich ein wenig in Szene setzen, was meinst du?"
"Wenn's sein muss", erwiderte Ruth resigniert. "Ich muss diese Leute wohl ohnehin früher oder später kennen lernen."
"Dann also mir nach."
Als sie hinterm Gasthaus entlangschlichen, hörten sie von drinnen gedämpfte Stimmen. An der Schwelle zum Schankraum hielten sie inne. Leonardo wartete auf eine Gesprächspause und stieß dann die Flügeltür auf.
"Ladys und Gentlemen", verkündete er triumphierend, "erheben Sie sich bitte, um die frisch gebackene Mrs Pegasus zu begrüßen!"
Doch wie sich zeigte, standen bereits alle. Der Schankraum war voller Dorfbewohner, die Essen und Trinken in Händen hielten und ihre dunkelsten Kleider trugen. In einer Ecke hielt der Pfarrer Hof. Leonardos lärmende Ankündigung ließ alle Köpfe zu den Neuankömmlingen herumfahren.
Alle bis auf den des Wirts, um genau zu sein, denn sein teilnahmsloser Leichnam war auf einem Tapeziertisch in der Mitte der Schenke aufgebahrt.
Von der Theke her hörte man Glas klirren und zerspringen.
"Ach du meine Güte!", rief eine zittrige Stimme. "Ich hab schon wieder eine Kiste fallen lassen."
Ein runzliges Gesicht tauchte hinter dem Tresen auf. Leonardo erkannte seinen Freund, den pensionierten Schulmeister, der ab und an als Aushilfe einsprang.
"Tut mir sehr leid, Leo", jammerte der alte Mann. "Es wird langsam alles etwas viel für mich. Ich bin nun dreiundachtzig, weißt du. Und wir wussten einfach nicht, wo du zu erreichen warst."
"Ich kann noch immer nicht glauben, dass er mir den ›Pflug‹ vermacht hat", sagte Leonardo eine Woche später zu Ruth, als die beiden auf der Bank vor dem Gasthaus saßen und sich zum Frühschoppen ein Bier genehmigten.
"Eigentlich ist das nicht weiter erstaunlich - falls du dem alten Knaben tatsächlich so viel geholfen hast, wie du behauptest", erwiderte Ruth, hielt einen Moment inne, beobachtete, wie der leichte Wind den Rauch ihrer Zigarette davontrug, und fügte dann hinzu: "Und wie du schon sagtest - er hatte keine Angehörigen..."
Sie blickten über den Dorfanger. Ein Stück entfernt lungerten einige verlottert wirkende Jungen herum. Ein paar lagen im welken Gras, und einer zwang seiner mitgenommen aussehenden Flöte immer wieder die gleiche Melodie ab. Zwei andere fuhren auf Fahrrädern im Kreis, und ein dunkelhaariger Bursche heizte auf einem selbst gebastelten Roller herum und war dabei tief über den Lenker gebeugt. Die Jungen schienen überwiegend zwölf bis vierzehn Jahre alt zu sein, und aus der Distanz klangen ihre Stimmen wie eine misstönende Mixtur aus durchdringendem Alt und schwankendem Bariton.
Ruth zog erneut an ihrer Zigarette. "Sind das Freunde von dir?"
"Freunde nicht gerade", antwortete Leonardo. "Aber die meisten kenne ich mit Namen. Die mit den Rädern sind die Madgett-Zwillinge. Der mit der Flöte heißt Max und ist - glaube ich - der Enkel von Doktor Gilbert. Und der mit dem Roller ist Joey Hopkins, ein merkwürdiger Junge. Sein Vater Sam kommt bisweilen ins Lokal. Den hast du schon kennen gelernt. Oder ist er Joeys Onkel? Bei dieser Hopkins-Sippe bin ich mir nie ganz sicher."
"Ich schätze, die werde ich alle früher oder später kennen lernen. Natürlich nur, wenn wir tatsächlich hierbleiben."
"Ja", sagte Leonardo nachdenklich. "Ich hab mich schon gefragt, wann wir das mal besprechen würden. Die Sache ist die: Ich muss mich auf meine andere Arbeit konzentrieren - auf die in der Signalwache also. Aber wenn du dich als Wirtin versuchen magst..."
"Tja, so hab ich mir die Rente zwar nicht vorgestellt", erwiderte Ruth gedehnt und warf ihre Zigarette weg, "doch ich schätze, ich kann's mal versuchen. Aber nur zur Probe, wohlgemerkt!"
Die Burschen hatten sich inzwischen getrennt und gingen zum Mittagessen nach Hause. Die Zwillinge mit ihren Fahrrädern waren schnell außer Sicht, während die, die zu Fuß unterwegs waren, langsam über die Wiese davontrotteten. Joey Hopkins zischte am Gasthof vorbei, und als er mit seinem Gefährt in die Kurve ging, um den Hügel hinaufzurollern, sprangen Kiesel links und rechts unter den Rädern weg.
"Morgen, Meister Pegasus!", rief er ihnen über die Schulter zu. "Morgen, Misses P!"
Leonardo und Ruth sahen sich an und lachten.
"Na gut, du alter Sack", meinte Ruth. "Probieren wir's."
Ashleigh und ihr herrliches rotes Haar
Ich hab euch noch nicht viel über meinen Vater erzählt, stimmt's? Na ja, ich weiß eben nicht recht, wo ich da anfangen soll. Mein Vater ist ein absolut trauriger Fall - und das schon seit einigen Jahren. Manchmal wünsche ich mir, ihm irgendwie helfen zu können. Mehr als ich es ohnehin schon tue, meine ich. Aber mitunter geht er mir einfach nur auf den Keks, und dann sehne ich mich bloß danach, dass er mich in Ruhe lässt, verschwindet und sich endlich wieder einkriegt.
Mein Vater war mal ein wirklich cooler Geschäftsmann und hatte hier in der Stadt eine Firma - so eine Art Verlagshaus, glaub ich, in dem Stadtpläne gedruckt wurden, aber er hat eigentlich nie viel darüber geredet. Als kleines Mädchen bin ich ein paarmal mit ihm ins Büro gegangen. Es war wirklich schick und lag irgendwo draußen am Hafen. Ich weiß noch, dass es in eine Art Bogen der alten Stadtbefestigung gebaut war. Einen Keller hat es auch gehabt. Dort bin ich gern gewesen und hab mir all die Paletten mit Büchern und anderen Sachen angesehen. Aber ich hab nie begriffen, was in der Firma genau passierte. Mein Vater hat mich meist bei Charlotte gelassen - das war seine Sekretärin oder so.
Ja! Gerade habe ich dieses Wesen einen flüchtigen Moment lang gesehen. Irgendwo dort draußen, in den Linien, Winkeln und Kreuzungen des Netzwerks gibt es jemanden, dessen Ziel dem meinen entgegengesetzt ist. Jemanden, der mich davon abhalten will zu tun, was ich tun muss.
Ja, es gibt etwas, das ich zu erledigen habe, eine Aufgabe, die ich ausführen muss - und dieses Wesen, dieser Widersacher versucht, mich daran zu hindern.
Der Widersacher!
Jetzt fällt mir alles wieder ein! Irgendwo in den trüben Tiefen des Netzwerks, irgendwo in diesem Labyrinth von Wegen, das sich in alle Richtungen um mich herum ausbreitet, in den Drehungen und Windungen dieses Irrgartens, in dem unergründlichen Raum dort draußen lauert der Widerling.
Der Widerling, dessen einziges Ziel es ist zu verspotten, zu verderben und zu zerstören.
Jetzt begreife ich langsam, dass ich den Kampf aufzunehmen und den Zerstörer zu vernichten habe. Meine Aufgabe ist es, den Ursprung dieser scheußlichen Angelegenheit zu ermitteln, den Widerling zu verfolgen, mit ihm zu ringen und ihn schließlich zur Strecke zu bringen.
Wie aber kann ich diese Aufgabe allein bewältigen? Ich bin klein, schwach und müde und schlafe schon seit einer halben Ewigkeit.
Lasst mich also bitte noch ein wenig schlummern.
Ashleigh Brown, Jungkommissarin
Cool, was? Diesen Titel hab ich mir ausgedacht, als sie mich bei den Katzenmädchen rausgeworfen haben, nachdem eines Abends alles aus dem Ruder gelaufen war. Irgendwas musste ich mir ja ausdenken, stimmt's? Also hab ich mir überlegt: Schluss mit dem Kinderkram - ich probier jetzt mal, ein paar echte Geheimnisse zu lösen. Allerdings hat es mich einige Zeit gekostet herauszufinden, welche Geheimnisse ich überhaupt lösen wollte. Ich erzähl euch am besten ein wenig mehr über mich. Meinen Namen hab ich euch schon verraten - ich heiße Ashleigh Brown, doch meine Freunde nennen mich Ash. Ich werde bald achtzehn, doch als diese Geschichte begann, war ich ein ganzes Stück jünger und lebte mit meinem Vater in einem Wohnblock namens Turmresidenzen, draußen in der Westvorstadt, auf der anderen Seite des Flusses. Turmresidenzen hört sich gut an, doch dieser schicke Name bezeichnet nur ein altes, heruntergekommenes Wohnsilo. Türen und Fenster sind in erbärmlichem Zustand, aus den Ritzen wächst Unkraut, und seit Jahren funktioniert kein einziger Aufzug. Ich schätze, diese Verhältnisse bilden die Zustände, die überall in der Stadt herrschen, ziemlich genau ab.
Und mit Dingen, die in der Stadt im Argen lagen, haben meine Schwierigkeiten auch begonnen. An jenem Abend, von dem ich euch erzählen will und dessen Ereignisse dazu führten, dass sie mich bei den Katzenmädchen rauswarfen, waren wir zu viert in der Nordstadt unterwegs, um dafür zu sorgen, dass niemand seinen Abfall einfach so auf die Straße wirft. Was für eine lächerliche Aufgabe, da auf den Straßen so viel Müll rumliegt, dass wir zu viertausend hätten unterwegs sein müssen, um etwas zu bewirken! Na ja, jedenfalls war ich mit Davina unterwegs - meiner besten Freundin, die außerdem Leiterin unserer Patrouille war -, mit Lulu LaFarge und mit der kleinen Maria Moss, die kaum in Erscheinung tritt und immer nur mitzockelt.
Wie gesagt, wir waren in der Nordstadt. Die Nacht war ziemlich ruhig, und irgendwann hatten wir keine Lust mehr, immer nur Müll zu sammeln. Also traten wir eine alte Blechdose den Rinnstein entlang und hatten - schätz ich mal - Lust, was auf die Beine zu stellen. Auf beiden Straßenseiten standen hohe Wohnblöcke, und die Hälfte der Fenster war pechschwarz verdunkelt. Ich muss euch vermutlich nicht erklären, was das bedeutet. Jedenfalls hat plötzlich eine Frau den Kopf aus dem Fenster gestreckt und zu uns runtergebrüllt: "Wenn ihr so viel Zeit habt, kommt doch mal hoch und knöpft euch meine Nachbarn vor! Die machen mich mit ihrem Lärm noch wahnsinnig!"
Davina hörte auf, die Dose durch die Straße zu kicken, und stand einen Moment reglos da - genau wie wir anderen drei. Dann sah sie ganz langsam zu der Frau hoch und brüllte zurück: "Und wenn nicht?"
Da wurde die Frau richtig pampig und rief: "Kommt mir nicht so, Kinder! Ich seh doch, dass ihr in Uniform seid. Ihr sollt für die Einhaltung von Recht und Gesetz sorgen, und wenn ihr nicht sofort hochkommt, werde ich mich morgen früh über euch beschweren."
Dem konnten wir wenig entgegensetzen. Also tigerten wir ins Haus. Die Frau lebte im dritten oder vierten Stock, und die Nachbarn tobten in der Etage über ihr. Also stiegen wir jede Menge Betontreppen hoch und traten ein paarmal gegen die Tür, bis sie aufsprang und wir in die Wohnung drängten. Dort stießen wir auf zwei abgemagerte Kerle, die durchs Zimmer stapften und dabei wie die Wilden schrien. Natürlich hatte jeder einen Kopfhörer auf, der durch ein langes Kabel mit einer großen alten Signalmaschine verbunden war. Wir brauchten ein paar Sekunden, ehe wir das Ungetüm in der Ecke entdeckten, denn selbstverständlich waren auch hier die Fenster pechschwarz verdunkelt, und das Zimmer war voller zu Kleinholz gemachter Möbel und solcher Sachen. Dann bemerkten uns die beiden Kerle, hörten mit dem Herumlaufen und dem Schreien auf und erstarrten.
Natürlich war uns klar, dass wir zwei Fälle von Koboldfieber vor uns hatten.
Die beiden schienen seit Tagen nichts gegessen zu haben. Wir verpassten ihnen ein paar Kopfstöße und Faustschläge, um ihnen deutlich zu machen, wer hier das Sagen hatte, doch sie wehrten sich nicht. Also schoben Davina und Lulu sie einfach in eine Ecke, die kleine Maria schnitt die Kabel der Signalmaschine durch, und zu viert hoben wir den Apparat hoch und wuchteten ihn mit einer fließenden Bewegung aus dem Fenster. Gut, dass niemand auf der Straße war, denn der Apparat krachte mit einem furchtbaren Knall aufs Pflaster und zersplitterte, und auf der ganzen Fahrbahn lagen Glasscherben, Holzstücke und verbogene Maschinenteile.
Danach wollten wir das Haus so schnell wie möglich verlassen. Doch überall auf dem Flur streckten Leute den Kopf aus der Tür, um zu sehen, was los war. Einige klatschten, und ein kleiner alter Mann sprang auf der Schwelle herum und schrie: "So muss man mit diesen Mistkerlen umgehen. Wir wollen hier kein Koboldfieber. Das war mal ein anständiges Haus." Dann tauchte die Frau auf, die uns gerufen hatte, und sagte: "Den Gang runter gibt's noch mehr von dem Gesocks."
Bevor wir recht begriffen hatten, was geschah, waren wir schon in einer anderen Wohnung gelandet und warfen eine zweite Signalmaschine in die Tiefe - diesmal durchs Treppenhaus. Danach kam einfach eins zum anderen, und bald machten viele Leute mit, brüllten, traten Türen ein und schleuderten Signalmaschinen aus dem Fenster. Dann fingen wir alle an zu kichern. Wir konnten gar nicht aufhören damit, so ulkig blickten die Leute drein, wenn ihre heiß geliebte Signalmaschine aus dem Fenster flog, doch schließlich übernahm Davina wieder das Kommando und sagte nur: "Los, Mädchen, nichts wie weg."
Also rannten wir vier lachend, schreiend und Rad schlagend die Straße entlang und trieben mit den Füßen das eine oder andere Signalmaschinenbruchstück vor uns her. Ich weiß nicht, ob uns jemand verfolgte, doch um sicherzugehen, sprangen wir bald über eine Mauer und verschwanden.
Alles in allem war das eine wirklich tolle Nacht, doch natürlich mussten wir dafür büßen.
Am nächsten Tag zitierte uns Sergeant Maggot, unser Ausbildungsleiter, gleich morgens ins Büro. Ich hatte ihn immer für richtig süß gehalten, doch diesmal war ihm der Humor gründlich vergangen.
"Mädchen", sagte er in seiner schwermütigen Art. "Mädchen, Mädchen, Mädchen. Es hat Beschwerden gegeben, über die ich nicht hinwegsehen kann. Krawall, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch. Was habt ihr zu eurer Verteidigung zu sagen?"
Keine von uns brachte ein Wort heraus. Wir standen einfach nur da und traten unruhig von einem Bein aufs andere. Darum sagte er: "Kadett Davina Wright - vielleicht kannst du als Leiterin eurer Patrouille uns ja den Inhalt der Königlichen Verordnung in Erinnerung rufen, die den Umgang mit gemeldeten Fällen von Koboldfieber regelt?"
Davina war einen halben Kopf größer als Maggot, aber irgendwie schien sie vor ihm zusammenzuschrumpfen. Sie murmelte etwas in sich hinein, doch Maggot unterbrach sie und rief: "Lauter! Ich glaube, das möchten wir alle gern hören."
Daraufhin setzte Davina eine zutiefst beleidigte Miene auf und musterte ihre Stiefelspitzen, leierte aber schließlich jene Verordnung herunter, die wir alle im ersten Jahr unserer Ausbildung hatten lernen müssen:
"§1: Koboldfieber ist eine schwere Geistesstörung, die gelegentlich bei Menschen auftritt, die das Königliche Signalnetzwerk regelmäßig nutzen. Es ist zu betonen, dass Koboldfieber in aller Regel lediglich ausgesprochen exzessive Nutzer befällt und bei zurückhaltendem Gebrauch des Signalnetzwerks nur in seltenen Fällen auftritt.
§2: Wer an Koboldfieber leidet, verhält sich oft unvernünftig, unberechenbar und ausgesprochen gefährlich.
§3: Alle gemeldeten Fälle von Koboldfieber müssen umgehend an die Abteilung für Geisteshygiene der Königlichen Wolfsjungen weitergeleitet werden, deren Beamte sofort die geeigneten Maßnahmen ergreifen. Keinesfalls dürfen sich Kadetten oder andere unqualifizierte Personen den Erkrankten nähern. Auch ist es nur unter Aufsicht voll ausgebildeter Techniker erlaubt, sich an den Signalmaschinen zu schaffen zu machen.
§4: Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wird aufs Strengste bestraft."
Mit bedrücktem Gesicht musterte Maggot uns alle von oben bis unten. "In jeder relevanten Hinsicht korrekt zitiert", sagte er schließlich, starrte dann lange an die Decke und schniefte ein paarmal. Schließlich fuhr er fort: "Was habt ihr also zu eurer Verteidigung vorzubringen? Na, Kadett Wright? Oder Kadett Brown?" Er fasste mich scharf ins Auge. "Unsere Beste im zweiten Ausbildungsjahr? Du hättest es wirklich besser wissen sollen!" Ich konnte ihm nicht ins Gesicht blicken. "Und Kadett La-Farge? Na ja, du hast nie viel geredet. Und Kadett Moss?"
Keine von uns sagte auch nur ein Wort. Ich glaube, besonders schlimm wurde das Ganze dadurch, dass Maggot kein einziges Mal laut wurde, sondern sehr leise sprach. "Natürlich ist jugendlicher Überschwang verzeihlich, wenn er einigermaßen im Rahmen bleibt", fuhr er fort. "Doch leider war euer Verhalten gestern Abend schlicht unerhört. Ihr vier seid entlassen und geht sofort nach Hause. Ich werde euren Eltern schreiben."
Das war's also. Einige der Wolfsjungen, die uns ausbildeten, nahmen uns Uniform und Dienstmarke ab und brachten uns, die wir inzwischen Zivilkleidung trugen, auf direktem Weg ans Kasernentor. Danach strichen wir noch ein wenig auf dem Westlichen Boulevard herum, denn niemand von uns wollte nach Hause, doch nach einer Weile bekamen wir das Gefühl, alle würden uns anstarren. Da wurden wir richtig wütend und versuchten uns einzureden, wir wären im Recht und Maggot hätte Unrecht, doch insgeheim wussten wir, dass wir gegen die Regeln verstoßen hatten und dafür bestraft werden mussten.
Dann meinte Davina, sie habe von den Katzenmädchen ohnehin die Nase voll - das sei doch nur Kinderkram, und sie habe schon mehrmals daran gedacht, den Dienst zu quittieren. Wir pflichteten ihr umgehend bei und lästerten alle: "Stimmt, es ist wirklich immer langweiliger geworden. Die haben uns nie was Spannendes zu tun gegeben." Nachdem wir lange genug solche Sprüche geklopft hatten, fühlten wir uns alle etwas besser.
Doch mir war klar, dass ich früher oder später nach Hause gehen und meinem Vater gegenübertreten musste.
Der neue Wirt
"Hören Sie bitte sofort damit auf, Mrs Pegasus. In unserem Alter ist das ja eine Schande."
Leonardo Pegasus - seines Zeichens pensionierter Magier - manövrierte seine ihm frisch angetraute Gattin sanft, aber bestimmt in eine aufrechte Position, zog seine Sachen zurecht und spähte zum ersten Mal seit Stunden aus dem Kutschenfenster.
"Vorhin schien es dir noch nicht viel ausgemacht zu haben, du alter Sack." Ruth rückte die Brille gerade und stöberte in ihrer riesigen Handtasche nach einer Bürste.
"Jetzt sind wir aber so gut wie da", erwiderte Leonardo. "Also sollten wir uns bemühen, ein wenig respektabel zu wirken." Er schlüpfte wieder in die Stiefel und tastete unter dem Sitz nach seinem breitkrempigen Hut. Das Paar - hoch in den Sechzigern - kehrte aus unerwarteten, aber ausgesprochen angenehmen Flitterwochen zurück, und die Kutsche würde sie gleich in dem Dorf absetzen, wo Leonardo sich sechzehn Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt hatte.
"Ich kann's gar nicht erwarten, dein Haus zu sehen", sagte Ruth und legte letzte Hand an ihre Frisur. "Was für eine Art Gebäude ist es eigentlich? Du hast nie davon erzählt." Die Kutsche holperte durch eine tiefe Furche in der Landstraße, und Ruth langte nach unten, um ihren Spiegel zu retten.
"Ach, nichts Besonderes", murmelte Leonardo ausweichend. "An sich bloß ein Ort, um meine Siebensachen zu verwahren. Sieh mal, da oben ist die Signalwache. Dort werde ich von nun an arbeiten."
Beide verrenkten sich beinahe, um aus dem gegenüberliegenden Fenster zu schauen. Tatsächlich: Auf der sanften Linie abgerundeter Hügel vor ihnen thronte ein hässlicher Bungalow, der die Harmonie der Landschaft rüde durchbrach. Er war aus schmutzgelben Ziegeln errichtet, und auf seinem Betonflachdach wehte eine Reihe schäbig aussehender Signalflaggen. Die Kutsche wurde immer langsamer, je weiter sich der alte, magere Klepper die zunehmende Steigung hochkämpfte.
"Der schafft's nicht mehr", jammerte der Kutscher. "Heutzutage bekommt man einfach keine anständigen Zugtiere."
"Ganz schön groß, oder?", bemerkte Ruth. "Diese... wie sagtest du noch?... Signalwache. Hast du viel Zeug, das da hinaufmuss?"
"Ziemlich viel. Im Moment ist aber alles noch in Einzelteilen. Wenn es erst oben ist, werde ich es zusammensetzen. Pass auf - das Dorf muss jeden Augenblick auftauchen."
Und wirklich erreichte die Kutsche in diesem Moment den Hügelkamm, und das Dorf kam in Sicht. Es war eine kleine Siedlung von vielleicht zwanzig oder dreißig Häusern. Die Gebäude waren auf beide Ufer eines schmalen Flusses verteilt, der sich durch das abgelegene Tal schlängelte. Es war Frühsommer, doch das Gras auf den Wiesen wirkte schon gelblich und welk.
Ein paar Minuten später erreichte die Kutsche die Ecke, an der die kleine Dorfkirche und das graue, wenig einladende Haus des Pfarrers standen. Dort stieß der schmale Weg, auf dem sie gekommen waren, auf eine breitere und ein wenig bessere Straße - auf die Hauptstraße des Dorfes nämlich. Die Kutsche bog langsam um die Kurve, fuhr einen leichten Hang hinab und kam erst an einer Hand voll großer, einzeln stehender Häuser und dann an einigen Reihenhäuschen vorbei, die einer struppigen Weide gegenüberlagen. Aus den Vorgärten grüßten ein paar Leute, und Leonardo grüßte herzlich zurück.
"Hallo, Mrs Hopkins. Hallo, Colin."
"Unglaublich!", rief Ruth. "Ist das Leben auf dem Lande tatsächlich so? Kennt man hier wirklich seine Nachbarn? Ich hab in der Stadt eigentlich nie jemanden gekannt."
"Daran hab ich mich inzwischen gewöhnt", entgegnete Leonardo. "Aber am Anfang kam es mir ausgesprochen seltsam vor. Schau, da ist der Dorfanger."
Die breite flache Wiese, die sie vom Fluss trennte, schien eher braun als grün; am anderen Ufer stand eine zweite Reihenhauszeile, vor der sie die gebeugte Gestalt einer alten Frau erkennen konnten. Sie kümmerte sich um den Gemüsegarten, und das Geräusch ihrer Hacke drang scharf durch die Luft.
"Oma Hopkins", erklärte Leonardo knapp. "Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Sie zieht noch immer ihre Radieschen. Dabei muss sie mindestens hundert Jahre alt sein."
Vor ihnen am Ende der Straße konnte Ruth gerade noch ein heruntergekommenes Schulgebäude erkennen, ehe die Kutsche scharf abbog und durch ein schmales Tor auf den Hof der Gaststätte "Pflug" fuhr.
"Angekommen, Chef, Lady", rief der Kutscher. "Wo soll ich Ihr Gepäck abladen?"
Ruth starrte Leonardo an. "Du wohnst im Gasthof?" Sie schien völlig verblüfft.
"Na ja, nicht gerade im Gasthof", erwiderte Leonardo vorsichtig. "Eher dahinter. Eigentlich mehr so über den Ställen. Aber ich arbeite hin und wieder in der Gaststube. In Teilzeit, weißt du. Ich kümmere mich ein wenig um den Laden, wenn der Wirt beschäftigt ist. Ja, hier rüber", rief er dann dem Kutscher zu. "Könnten Sie uns behilflich sein, unsere Sachen die Leiter hochzuwuchten?"
Der Heuboden über den Ställen war die letzten sechzehn Jahre Leonardos Zuhause gewesen.
Anfangs hatte er die Annehmlichkeiten des Stadtlebens vermisst und überdies sehr unter dem Verlust seines Status als Leitender Magier von König Roderick gelitten. Denn als Roderick gestorben war, hatte sein junger Nachfolger Matthew einige prompte und dramatische Veränderungen in der Verwaltung des Königreichs veranlasst - so auch die Zwangspensionierung vieler Berater des alten Königs, zu denen auch Meister Pegasus gehörte. In Ungnade gefallen, hatte der Magier die Stadt verlassen müssen und in der tiefsten Provinz ein neues Leben begonnen. Im Lauf der Zeit hatte er sich an den gemächlicheren Rhythmus des dörflichen Alltags gewöhnt und sich langsam mit den Bedingungen seines neuen Daseins arrangiert. Bis er eines Tages in die Stadt zurückgerufen worden war. Anscheinend besaß er eben doch ein gewisses Talent, das sich letztlich als unverzichtbar erwiesen hatte.
Und natürlich war er Ruth wieder begegnet - Ruth, die sich nun die wacklige Leiter hinaufquälte und durch die Falltür auf den Heuboden hocharbeitete, sich dort auf Zehenspitzen über die unebenen Holzdielen bewegte, sich unter Dachbalken durchbeugte und zwischen Bergen von verstaubten Kisten hindurchzwängte, in der muffigen Atmosphäre kaum Luft bekam und verwundert in alle Ecken spähte.
Dachfenster sorgten für ziemlich gute Sichtverhältnisse. Lichtstrahlen zwängten sich durch schmierige Scheiben und zwischen ächzenden Balken hindurch und kreuzten sich auf dem vollgestopften Dachboden. Langsam erfasste Ruth die ungewohnte Umgebung. Überall türmten sich Maschinen von jeder erdenklichen Form und Größe. Dazwischen standen hohe verbeulte Metallschränke, deren Vorderseite mit kaputten Skalen und Messgeräten übersät war. Klapprige Holzregale beherbergten schiefe und instabile Sammlungen von Glaskolben und Retorten, die allesamt durch spiralförmige Rohre verbunden waren und unterschiedliche Mengen ungesund aussehender Flüssigkeiten enthielten. Zudem waren viele Uhrwerke, Kopfhörer und Okulare, Elektrogeräte, magnetische Apparate, Druckluftvorrichtungen und hydraulische Anlagen auf dem Heuboden zu finden.
Doch kein einziges Messgerät war in Betrieb, und nicht ein Licht blinkte. Alles war reglos und still und mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
"Das ist die Komplexe Empathiemaschine", sagte Leonardo zur Erläuterung. "Jedenfalls, wenn ich sie zusammengesetzt habe. Du wirst mehr damit anfangen können, wenn sie in Betrieb ist. Ich sollte wohl den Generator anwerfen."
Ruth mummelte sich in ihre Jacke ein. "Hier oben ist es eiskalt", sagte sie bibbernd. "Gibt's bei dir eigentlich keine anständigen Möbel? Und wo wäschst du dich? Wo schläfst du?"
Verlegen wies Leonardo auf eine verschossene Strohmatratze, die unter einer Werkbank hervorlugte. Dieser neuerlichen Enthüllung folgte ein Moment unbehaglichen Schweigens, in dem Ruth offensichtlich um Fassung rang. Schließlich schloss sie ihren Ehemann in die Arme.
"Du alter Schwachkopf", seufzte sie. "Was soll ich bloß mit dir machen?"
"Gehen wir doch wieder runter und lassen wir uns im Schankraum sehen", schlug Leonardo kurz darauf vor. "Ich könnte einen Schluck vertragen und schätze, die Stammgäste freuen sich, dass ich wieder da bin." Ruth zog eine Braue hoch. "Und dich möchten sie natürlich auch kennen lernen", fügte Leonardo hastig hinzu. "Wir könnten uns eigentlich ein wenig in Szene setzen, was meinst du?"
"Wenn's sein muss", erwiderte Ruth resigniert. "Ich muss diese Leute wohl ohnehin früher oder später kennen lernen."
"Dann also mir nach."
Als sie hinterm Gasthaus entlangschlichen, hörten sie von drinnen gedämpfte Stimmen. An der Schwelle zum Schankraum hielten sie inne. Leonardo wartete auf eine Gesprächspause und stieß dann die Flügeltür auf.
"Ladys und Gentlemen", verkündete er triumphierend, "erheben Sie sich bitte, um die frisch gebackene Mrs Pegasus zu begrüßen!"
Doch wie sich zeigte, standen bereits alle. Der Schankraum war voller Dorfbewohner, die Essen und Trinken in Händen hielten und ihre dunkelsten Kleider trugen. In einer Ecke hielt der Pfarrer Hof. Leonardos lärmende Ankündigung ließ alle Köpfe zu den Neuankömmlingen herumfahren.
Alle bis auf den des Wirts, um genau zu sein, denn sein teilnahmsloser Leichnam war auf einem Tapeziertisch in der Mitte der Schenke aufgebahrt.
Von der Theke her hörte man Glas klirren und zerspringen.
"Ach du meine Güte!", rief eine zittrige Stimme. "Ich hab schon wieder eine Kiste fallen lassen."
Ein runzliges Gesicht tauchte hinter dem Tresen auf. Leonardo erkannte seinen Freund, den pensionierten Schulmeister, der ab und an als Aushilfe einsprang.
"Tut mir sehr leid, Leo", jammerte der alte Mann. "Es wird langsam alles etwas viel für mich. Ich bin nun dreiundachtzig, weißt du. Und wir wussten einfach nicht, wo du zu erreichen warst."
"Ich kann noch immer nicht glauben, dass er mir den ›Pflug‹ vermacht hat", sagte Leonardo eine Woche später zu Ruth, als die beiden auf der Bank vor dem Gasthaus saßen und sich zum Frühschoppen ein Bier genehmigten.
"Eigentlich ist das nicht weiter erstaunlich - falls du dem alten Knaben tatsächlich so viel geholfen hast, wie du behauptest", erwiderte Ruth, hielt einen Moment inne, beobachtete, wie der leichte Wind den Rauch ihrer Zigarette davontrug, und fügte dann hinzu: "Und wie du schon sagtest - er hatte keine Angehörigen..."
Sie blickten über den Dorfanger. Ein Stück entfernt lungerten einige verlottert wirkende Jungen herum. Ein paar lagen im welken Gras, und einer zwang seiner mitgenommen aussehenden Flöte immer wieder die gleiche Melodie ab. Zwei andere fuhren auf Fahrrädern im Kreis, und ein dunkelhaariger Bursche heizte auf einem selbst gebastelten Roller herum und war dabei tief über den Lenker gebeugt. Die Jungen schienen überwiegend zwölf bis vierzehn Jahre alt zu sein, und aus der Distanz klangen ihre Stimmen wie eine misstönende Mixtur aus durchdringendem Alt und schwankendem Bariton.
Ruth zog erneut an ihrer Zigarette. "Sind das Freunde von dir?"
"Freunde nicht gerade", antwortete Leonardo. "Aber die meisten kenne ich mit Namen. Die mit den Rädern sind die Madgett-Zwillinge. Der mit der Flöte heißt Max und ist - glaube ich - der Enkel von Doktor Gilbert. Und der mit dem Roller ist Joey Hopkins, ein merkwürdiger Junge. Sein Vater Sam kommt bisweilen ins Lokal. Den hast du schon kennen gelernt. Oder ist er Joeys Onkel? Bei dieser Hopkins-Sippe bin ich mir nie ganz sicher."
"Ich schätze, die werde ich alle früher oder später kennen lernen. Natürlich nur, wenn wir tatsächlich hierbleiben."
"Ja", sagte Leonardo nachdenklich. "Ich hab mich schon gefragt, wann wir das mal besprechen würden. Die Sache ist die: Ich muss mich auf meine andere Arbeit konzentrieren - auf die in der Signalwache also. Aber wenn du dich als Wirtin versuchen magst..."
"Tja, so hab ich mir die Rente zwar nicht vorgestellt", erwiderte Ruth gedehnt und warf ihre Zigarette weg, "doch ich schätze, ich kann's mal versuchen. Aber nur zur Probe, wohlgemerkt!"
Die Burschen hatten sich inzwischen getrennt und gingen zum Mittagessen nach Hause. Die Zwillinge mit ihren Fahrrädern waren schnell außer Sicht, während die, die zu Fuß unterwegs waren, langsam über die Wiese davontrotteten. Joey Hopkins zischte am Gasthof vorbei, und als er mit seinem Gefährt in die Kurve ging, um den Hügel hinaufzurollern, sprangen Kiesel links und rechts unter den Rädern weg.
"Morgen, Meister Pegasus!", rief er ihnen über die Schulter zu. "Morgen, Misses P!"
Leonardo und Ruth sahen sich an und lachten.
"Na gut, du alter Sack", meinte Ruth. "Probieren wir's."
Ashleigh und ihr herrliches rotes Haar
Ich hab euch noch nicht viel über meinen Vater erzählt, stimmt's? Na ja, ich weiß eben nicht recht, wo ich da anfangen soll. Mein Vater ist ein absolut trauriger Fall - und das schon seit einigen Jahren. Manchmal wünsche ich mir, ihm irgendwie helfen zu können. Mehr als ich es ohnehin schon tue, meine ich. Aber mitunter geht er mir einfach nur auf den Keks, und dann sehne ich mich bloß danach, dass er mich in Ruhe lässt, verschwindet und sich endlich wieder einkriegt.
Mein Vater war mal ein wirklich cooler Geschäftsmann und hatte hier in der Stadt eine Firma - so eine Art Verlagshaus, glaub ich, in dem Stadtpläne gedruckt wurden, aber er hat eigentlich nie viel darüber geredet. Als kleines Mädchen bin ich ein paarmal mit ihm ins Büro gegangen. Es war wirklich schick und lag irgendwo draußen am Hafen. Ich weiß noch, dass es in eine Art Bogen der alten Stadtbefestigung gebaut war. Einen Keller hat es auch gehabt. Dort bin ich gern gewesen und hab mir all die Paletten mit Büchern und anderen Sachen angesehen. Aber ich hab nie begriffen, was in der Firma genau passierte. Mein Vater hat mich meist bei Charlotte gelassen - das war seine Sekretärin oder so.
... weniger
Autoren-Porträt von Steve Cockayne
Nachdem Steve Cockayne über zwanzig Jahre lang für die BBC gearbeitet hat, unterrichtet er nun als Dozent für Medienkunde. In seiner Freizeit restauriert er ein altes Marionettentheater, das seine Familie lange betrieben hat und das er wieder beleben möchte. Er lebt in LeicestershireAndreas Heckmann, geboren 1962 in Oldenburg, studierte in Marburg und Freiburg und lebt in München als literarischer Übersetzer aus dem Englischen. Er ist Mitredakteur der Zeitschrift Am Erker und verfasst dort seit 1997 Kurzprosa, Rezensionen, Essays und Autoreninterviews.
Bibliographische Angaben
- Autor: Steve Cockayne
- 2007, 408 Seiten, Maße: 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Andreas Heckmann
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442243300
- ISBN-13: 9783442243303
Rezension zu „Das himmlische Kind “
"Steve Cockayne ist der beste Fantasy-Autor, der noch zu entdecken ist!" SFX Fantasy
Kommentar zu "Das himmlische Kind"
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