Das Kreuz des Nordens
Es ist eine der geheimnisvollsten Regionen Europas: Karelien, das Grenzland zwischen Finnland und Russland. Obgleich im rauen Norden gelegen, gehört es zu den ältesten Kulturlandschaften auf dem Kontinent jahrtausendealte Steinzeichnungen dokumentieren...
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Es ist eine der geheimnisvollsten Regionen Europas: Karelien, das Grenzland zwischen Finnland und Russland. Obgleich im rauen Norden gelegen, gehört es zu den ältesten Kulturlandschaften auf dem Kontinent jahrtausendealte Steinzeichnungen dokumentieren noch heute das einstige Leben der Taigajäger. Und das Gebiet hat eine bewegte Geschichte: Schon zu Zarenzeiten war es Verbannungsort für politische Häftlinge, unter Stalin wurde hier der erste Gulag errichtet. Im Zweiten Weltkrieg lieferten sich Finnen, Russen und Deutsche im berühmten "Winterkrieg" erbitterte Kämpfe. Klaus Bednarz hat diese Region bereist, und er beschreibt auch anhand der rund zweihundert unveröffentlichten Farbfotos, die während der Dreharbeiten zur gleichnamigen ARD-Fernsehreportage entstanden die grandiose Natur Kareliens und die einzigartigen Zeugnisse seiner Kultur. Vor allem aber widmet er sich den Schicksalen der Menschen, die von den Unbilden des Klimas ebenso bedroht sind wie von den Auswüchsen der Zivilisation: Holzfäller und Fischer, Bauern und Mönche, Rentiernomaden und Umweltschützer. Ein faszinierendes Porträt einer Weltgegend, die "das Sibirien Europas" genannt wird.
Das Kreuz des Nordens von KlausBednarz
LESEPROBE
Im Dorf Scholtosero
Am bestensei es, wir kämen am 8. März, hatte Olga Kukorina amTelefon gesagt, die Dorflehrerin. Dann hätten wir die Gelegenheit, Wepsen in ihren traditionellen Trachten zu filmen und ihreviele Jahrhunderte alten Lieder zu hören. Die Wepsensind - nach den Kareliern - die größte nationale Minderheit in Russisch-Karelien, in Herkunft und Sprache den Finnenverwandt. Im Jahr 1926 gab es bei einer Volkszählung noch etwa vierzigtausend Wepsen. Heute wird ihre Zahl offiziell mit achttausendangegeben, und nur die Hälfte von ihnen lebt noch in Karelien. Scholtosero, ein Dorf mit knapp eintau- send Einwohnern amWestufer des Onega-Sees, gilt als ihr kulturellesZentrum.
Der 8.März, den Olga Kukorina als Besuchsdatum vorgeschlagenhat, ist der «Internationale Frauentag», in Russland ein offizieller Feiertag.In Scholtosero versammelt sich traditionsgemäß der«Chor der Wepsen». Man feiert, singt, isst und trinkt- und trägt natürlich die Trachten, die nach alten wepsischenVorbildern, vermischt mit russischen Elementen, genäht sind. OriginaleZeugnisse der wepsischen Kultur gibt es nur nochwenige, einige davon sind im Dorfmuseum von Scholtoserozu besichtigen.
ZuSowjetzeiten wurde die Kultur der Wepsen wie dievieler anderer nationaler Minderheiten systematisch vernichtet. Die Wepsen galten, gleich den Kareliern, als Separatisten undoffene oder heimliche Verbündete der Finnen, ihre Russifizierungwar Moskaus erklärtes Ziel. Bücher in wepsischerSprache, selbst Lehrbücher für Geographie und Mathematik, wurden verbrannt, derGebrauch der wepsischen Sprache geächtet. Erst seitdem Ende der Sowjetunion erlebten die wepsischeSprache und Kultur eine zarte Renaissance, und einer ihrer Pfeiler ist der Chorder Wepsen in Scholtosero.
Aus demHaus, in dem er sich an diesem Vormittag trifft, ist schon von weitem Gesang zuhören, lautes Reden und Lachen. Es ist das Privathaus des Akkordeonspielers,der als Ingenieur im hundert Kilometer entfernten Petrosawodsk,der Hauptstadt Russisch-Kareliens, arbeitet - einHolzbau, nach wepsischer Tradition reich verziert mitSchnitzereien. Die wepsischen Männer gelten weit überdie Grenzen Kareliens hinaus als begnadete Baumeister, ihre Holzhäuser, soheißt es, überdauern mehr als zweihundert Jahre. Das Haus, das wir betreten,ist nicht ganz so alt, aber ebenfalls höchst solide gezimmert. Im Vorgarten hatein junger Mann in Gummistiefeln trotz der Kälte die Ärmel hochgekrempelt undbrät über einem offenen Feuer mächtige Schaschlikspieße. Im Wohnzimmer biegtsich der Tisch, um den sich der Chor versammelt hat, unter dem Gewichtunzähliger Vorspeisen, Sakuski, sowie Wodkaflaschen.Es sind fast ausschließlich Frauen, die singen, nur drei Männer begleiten siemit Gitarren und Akkordeon. Es sind mehrstimmige, zarte lyrische Lieder, diedie Schönheit der karelischen Landschaft besingenund uns zutiefst bewegen. Dazwischen erklingen laute, von spitzen Schreienbegleitete Spott- und Trinklieder, von denen manche russischen Ursprungserscheinen.
Einige derLieder werden tatsächlich in russischer Sprache gesungen, obwohl sie, wie OlgaKukorina versichert, uralte wepsischeVolksweisen sind. «Aber unsere Kulturen haben sich vermischt. Wir Wepse hatten ja ursprünglich auch keine Schriftsprache.Viele unserer Liedtexte wurden erst Anfang des vergangenen Jahrhunderts aufgeschrieben- und dann unter Stalin verbrannt. In den Archiven finden sich kaum noch alteBücher in wepsischer Sprache.»
Olga Kukorina ist, wie sie stolz betont, eine geborene Wepsin. Sie erinnert sich noch genau an ihre Kindheit, alses «eine Schande war, ein Wepse zu sein». Ihre Elternsprachen zu Hause, wenn sie unter sich waren, wepsisch.Aber ihre Kinder hielten sie an, nur russisch zu sprechen. Nicht nur, weil esverboten war, die Sprache ihrer Vorfahren zu benutzen, sondern «weil dieEltern wollten, dass wir es im Leben zu etwas bringen. Nicht einmal, wenn ichim Dorfladen Brot oder Milch holte, durfte ich wepsischreden. Dabei war doch die Verkäuferin auch eine Wepsin.»Es habe ihr in «der Seele wehgetan», als sie später begriff, dass Wepsisch als Sprache vielleicht aussterben wird. «Dannwürde wohl auch unser Volk aussterben.»
Der «Chorder Wepsen» besteht nur zur Hälfte aus «reinen Wepsen», wie sie sagen. Die anderen Sängerinnen sind Russenoder stammen aus gemischten Familien. Aber alle vereint die Liebe zur wepsischen Sprache und Kultur. «Schließlich leben wir hier,haben hier unsere Kinder bekommen - und müssen doch die Wurzeln der Region kennen,die jetzt unsere Heimat ist», sagt Irina, deren Familie es nach Ende desZweiten Weltkriegs nach Karelien verschlagen hat. Trotz eines geringenZuschusses aus dem Etat des russisch-karelischen Kulturministeriumskann der Chor kaum überleben. Es mangelt an Geld für Kostüme, Instrumente,technische Ausrüstung wie Mikrophone, Lautsprecher, Verstärker. «Wir sind einarmes Dorf», sagt die Leiterin des Chores. «Und es fehlt der Nachwuchs.» Vonden rund eintausend Bewohnern, so schätzt sie, sprechen allenfalls noch zweiDutzend wepsisch als Muttersprache. Und das sind, wieauch wir bei unseren Dreharbeiten auf den Straßen im Dorf festgestellt haben,meist ältere Menschen.
DieHoffnungen nicht nur der Chormitglieder ruhen auf der Schule von Scholtosero und dem Kindergarten. Denn seit einigen Jahrenist Wepsisch an dieser Schule wieder Pflichtfach -drei Stunden pro Woche. Es gibt Lehrbücher der wepsischenSprache, eine wepsische Grammatik - alle Exemplare soneu, dass man glaubt, noch die Druckerschwärze zu riechen. Und imKindergarten, in hellen, liebevoll ausgestatteten Räumen, werden die Kleinenvon Olga Kukorina und einigen anderen Kolleginnenbereits ab dem dritten Lebensjahr spielerisch an das Wepsischeherangeführt. Die Kinder sind, wie wir beobachtet haben, mit Temperament undEifer dabei. Doch es gibt auch einen Wermutstropfen für die engagierteLehrerin: Wepsisch als Pflichtfach gilt nur bis zursiebten Klasse. Danach, bis zum russischen Abitur in Klasse elf, wird dieSprache nur noch in freiwilligen Kursen angeboten. «Und da fehlt vielen Jugendlichennatürlich die Motivation.» Allerdings, so Olga Kukorina,gebe es in Petrosawodsk
inzwischenauch einen Lehrstuhl für Sprache und Kultur der Wepsen.«Dort haben schon sechs Schüler aus unserem Dorf ihr Studium er- folgreichabgeschlossen.»
Und nochein anderes Beispiel macht Olga Kukorina Mut - ihreeigenen Kinder. Früher, so sagt sie, hätten sie sich nicht für das Wepsische interessiert. Doch nun seidie Tochter sechzehn Jahre und der Sohn zwanzig, und beide lernen die Spracheihrer Vorfahren. Frei- willig und ohne Druck der Mutter. Bei einem Aufenthaltim benachbarten Finnland haben sie festgestellt, dass sie sich mit den Finnenauf Wepsisch verständigen können; und wie sehr diesihre Chancen steigert, in Finnland dauerhaft Arbeit zu finden. «Jetzt bestehensie oft darauf, dass ich mit ihnen Wepsisch rede.»
Ob denn dasWepsische als Sprache und Kultur überleben werde,fragen wir Olga, als wir uns nach drei Tagen in Scholtoseroverabschieden.
«Ich weiß esnicht», sagt sie nach langem Nachdenken. «Wir sind ein sehr altes Volk. Undwenn unsere Sprache stirbt, werden wir auch als Volk verschwinden. Wir sind einkleines Volk und haben eine sehr bittere Geschichte. Aber wir können auch stolzauf uns sein. Unser Volk ist ein gutes, ehrliches und arbeitsames Volk. Esverfügt über eine reiche Kultur - unsere Lieder, unsere Sagen, unsereHandwerkskunst. Wir müssen alles tun, damit es auch unsere Kinder begreifen.Ich hoffe einfach, dass unsere Sprache überleben wird. Und werde nichtaufhören, dafür zu kämpfen!» Dabei lächelt Olga Kukorina,und wir sind nicht sicher, ob sie wirklich optimistisch ist oder sich nureinfach Mut machen will.
Scholtoseroist die letzte Station unserer Winterreise. Im Sommer soll es weitergehen durchdas Grenzland zwischen Russland und Finn- land. Doch davor warten noch einigeSchwierigkeiten - und Igor ist skeptisch, dass sich alle überwinden lassen.
© VerlagRowohlt
Autoren-Porträtvon Klaus Bednarz
Klaus Bednarz ist als einer der bekanntesten undvielseitigsten Journalisten seit 1967 für die ARD im Einsatz. Geboren wurde er1942 in Falkensee bei Berlin. 1955 verließ die Familie die DDR und zog nachHamburg. Bednarz studierte in Hamburg, Wien und Moskau Theaterwissenschaften,Slawistik und Osteuropäische Geschichte. Er schloss 1966 sein Studium ab mitder Promotion über den russischen Dichter Anton Cechov. Im Jahr darauf begannder Journalist seine Arbeit bei der ARD und war 1977-1982 Leiter des StudiosMoskau. Danach wurde er Redaktionsleiter des Auslandsstudios beim WDR undmoderierte die Tagesthemen. 1983 übernahm Bednarz von Gerd Ruge die Leitung despolitischen Magazins "Monitor", die er 18 Jahre innehatte. Der investigativeJournalist lehrte so manchen Politiker das Fürchten und geriet ins Fadenkreuzöstlicher und westlicher Geheimdienste. "Mr. Monitor" arbeitete auch alsKommentator, Sonderkorrespondent in Russland und ständiger Mitarbeiterverschiedener Tages- und Wochenzeitungen.
Seit 2002 ist Bednarz Sonderkorrespondent und Chefreporterfür das WDR-Fernsehen. Er ist maßgeblich beteiligt an Dokumentarfilmprojektenund hat das Autorenfernsehen durch seine besondere Art der Berichterstattunggeprägt. Die Filme und Bücher über Schlesien, Ostpreußen und Masuren habenLeser und Zuschauer ebenso nachhaltig beeindruckt wie der Dreiteiler über dieReise "Vom Baikalsee nach Alaska" oder "Am Ende der Welt", eine Reise durchFeuerland und Patagonien.
In seinem neuesten Projekt "Das Kreuz des Nordens"dokumentiert Bednarz seine Reise durch Karelien, im Grenzland zwischen Finnlandund Russland. Wie bei vielen anderen Projekten kann der Zuschauer dieFernsehdokumentation mit dem reich bebilderten Buch vertiefen, vor- odernachbereiten. In fast allen Werken des Autors Bednarz wird seine Liebe zuOsteuropa und Russland spürbar: Seine Nähe zu den einfachen Menschen wie in"Fernes nahes Land. Begegnungen in Ostpreußen" (1995) und sein Interesse amkulturellen Leben in "Mein Russland. Literarische Streifzüge durch ein weitesLand" (2006). Für seine Bücher, Filme und Berichte wurde Bednarz vielfach mitPreisen bedacht. Die Goldmedaille des Internationalen Film- undFernsehfestivals in Jalta (2003) dürfte nicht die letzte Auszeichnung gewesensein.
Ihr Buch zeigt wunderbare Landschaftsaufnahmen, gibt aber auch denEinwohnern Kareliens im Wortsinne "ein Gesicht". Wie würden Sie die Menschenbeschreiben, denen Sie begegnet sind?
Sobalddie Menschen in Karelien gespürt haben, dass wir uns ihnen nicht wie im Zoonähern, sondern Anteil nehmen an ihrem Leben und an ihrem Schicksal, ihrenProblemen und den oft tragischen Geschichten ihrer Familien interessiert sind,waren sie offen, herzlich, ohne jedes Ressentiment - auf finnischer Seite wieauf russischer.
Diebeeindruckenden Fotografien des Bildbandes stammen von Gabi Mühlenbrock, mitder Sie schon öfter zusammenarbeiteten...
GabiMühlenbrock ist Redakteurin in der WDR Presse/Foto-Abteilung und hat alsFotografin WDR-Teams schon auf Drehreisen nach Alaska, Feuerland und Patagonienbegleitet.
Der Banderscheint begleitend zu der Ausstrahlung in der ARD. Gab es besondereSchwierigkeiten, mit denen Sie sich bei den Dreharbeiten konfrontiert sahen?
Schwierigkeitengab es vor allem im Winter, wenn im Hohen Norden Russlands und Finnlands Temperaturenum minus 35 Grad herrschen und viele Siedlungen sowie Inseln nur auf demLuftweg zu erreichen sind - mit kleinen Flugzeugen oder Hubschraubern, diezuweilen fast 50 Jahre alt sind... Und um eine Drehgenehmigung für denberühmt-berüchtigten Weißmeer-Kanal zu bekommen, mussten wir wochenlangkämpfen. Dieser Kanal wurde auf persönlichen Befehl Stalins von 130.000 Gulag-Häftlingen gebaut, mindestens 30.000 von ihnen kamen dabei ums Lebens. Damalswie heute untersteht der Kanal der Kontrolle des Geheimdienstes, heute also desKGB bzw. seiner Nachfolgeorganisation FSB.
Sie beschreibenKarelien auch als Kulturlandschaft mit einer langen Tradition? Gelingt es,diese zu erhalten, oder ist sie durch Wegzug, Alkoholismus u.ä. bedroht?
Arbeitslosigkeit,Alkoholismus und - auf russischer Seite - Korruption sind heute in Karelien diebedrückendsten Probleme. Viele der jungen Menschen ziehen weg, suchen ihr Glückin den großen Städten, in Russisch-Karelien wie in Finnisch-Karelien.
Was ist IhreEinschätzung: Hat in dieser Kulturlandschaft die Natur mehr den Menschengeprägt oder umgekehrt?
Die Menschen haben inJahrtausenden gelernt, mit der Natur zu leben, nicht gegen sie. Das hat sie geprägt.Und nur aus dieser Haltung heraus konnten sie so grandiose Kulturdenkmälerschaffen wie die Holzkirchen auf Kishi, die bedeutendsten Denkmäler derrussischer Holzarchitektur - gefertigt nur mit Axt und Schnitzmesser, ohneeinen einzigen Nagel...
Sie sind immerwieder in den Weiten Russlands unterwegs. Wie verändert sich durch diese Reisender Blick auf Deutschland?
Wie immer, wenn man inentlegenen Regionen unseres Planeten unterwegs ist: Man bekommt ein Gefühl fürdie wirklichen Relationen der Dinge und des Lebens.
Die Fragenstellte Henrik Flor, Literaturtest.
- Autor: Klaus Bednarz
- 2007, 1, 253 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 19,8 x 25,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aufn. v. Mühlenbrock, Gabi; Tarasjugin, Maxim; Mitarbeit: Hanke, Barbara; Schmidt, Cordula
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345784
- ISBN-13: 9783871345784
- Erscheinungsdatum: 01.12.2007
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