Das lange Schweigen
Das langeSchweigen von Etienne van Heerden
LESEPROBE
Das Blitzwasser
Prolog
Nach und nach gewöhnten sich die Augen derer, die sich um denEingang
zur Höhle versammelten, an die Dunkelheit. Funkelnd nahm dieKutsche
aus den Tiefen heraus Gestalt an.
Die Vergangenheit traf die Menge wie ein Schlag vor die Brust, und
sie wich zurück, weil sich die schwarze Kutsche in Bewegung zusetzen
und auf sie zuzurollen schien. Doch das war nur eine optischeTäuschung.
Der Staub sank allmählich herab, und die Pupillen der Zuschauerweiteten
sich, als sie unverwandt ins Dunkel starrten.
Die Karosse glich einer Spukerscheinung, einer Geisterkutsche,über
und über mit leuchtenden Glühwürmchen bedeckt, die sie zu bewachen
schienen. Da sie in all der langen Zeit weder Lichtstrahlen nochmenschlicher
Berührung ausgesetzt gewesen war, war sie fast vollkommenerhalten.
Ein Stalaktit war bis auf ihr Dach hinuntergetropft, und aus demBoden
der Grotte wuchsen Stalagmiten empor, als wollten sie sie vonunten
her verankern. Die Erde streckte ihre Finger aus, um diesesgeisterhafte
Gefährt zu beschützen.
Auf dem Kutschbock saß ein weißes Skelett. Es war noch bekleidet,und
an den Gerippen der sechs Pferde konnte man erkennen, dass sie im
Geschirr gestorben waren. Auf ihren Schädeln wiegten sichStraußenfedern
in der sanften Brise.
Ingi Friedländer drängte sich nach vorn, um besser sehen zukönnen.
Zwischen den Fingern des Gerippes steckte eine zur Hälftegerauchte
Zigarre, und mit der anderen Hand umklammerte es ein Dokument. Das
Papier war alt, brüchig und vergilbt, und an den Rändern saßenebenfalls
funkelnde Leuchtkäfer.
Die dritte Karte!, dachten alle gleichzeitig.
Als Jonty Jack eines Morgens die Tür seines kleinen Hauses in derSchlucht
oberhalb des Dorfes Tallejare aufstieß und ihm der Geruch vonfeuchten
Farnen und alten Sägespänen in die Nase stieg, stand die Skulptur
auf einmal dort, als sei sie, »Gott sei mein Zeuge«, sagte JontyJack,
»als sei sie über Nacht aus dem Boden gewachsen«.
Wann immer er die Geschichte in den Monaten nach dem Erscheinender
Skulptur erzählte, wurde Jonty von seinen Gefühlen förmlichüberwältigt.
»Der Fischmann hat einfach seinen Kopf durch die Sägespäne, die Rindenstücke
und die alten Jointstummel gebohrt und ist taumelnd auf die Weltgekommen
«
Trotz des landesweiten Ruhms, den ihm die Skulptur einbrachte,beharrte
Jonty Jack starrköpfig darauf, die Figur des taumelndenFischmannes
stamme nicht von seiner Hand. Niemand schenkte ihm Glauben, da man
im neuen Südafrika während dieses letzten Jahres des zwanzigstenJahrhunderts
geradezu verzweifelt auf der Suche nach außergewöhnlich begabtenKünstlern
war. »Meine Güte«, beschwerte sich Jonty später bei IngiFriedländer,
»dabei bin ich doch nur ein Holzschneider, ein Schnitzer, einTagedieb
und ein Zyniker. Ich habe doch gar nicht das nötige Talent, umeine
solche Statue zu erschaffen - dafür bin ich weiß Gott zuunbegabt.«
Genau das sagte er zu Ingi Friedländer, als sie nach Tallejarereiste,
um die Figur im Auftrag der Kapstädter Nationalgalerie für dieSondersammlung
zu erwerben, die das Parlamentsgebäude schmücken sollte.
Jonty erzählte ihr in allen Einzelheiten, wie er eines Morgens aus
seinem Häuschen herausgekommen war, noch ein wenig benebelt vonden
Schnäpsen des vorherigen Abends, und auf einmal der Fischmann dort
stand, größer als mannshoch, den Körper bogenförmig gekrümmt wieein
aus den Fluten springender Delfin oder wie ein sich flatternd von
der Wasseroberfläche erhebender Schwan, kurz bevor er in die Lüfte
stieg, die Füße noch im Nass, den Körper bereits in der Luft.Neben
ihrer überschwänglichen Lebensfreude - das bemerkte Jonty sofort -
ging von der Skulptur jedoch auch eine tiefe Traurigkeit aus.
An diesem ersten Morgen hatte sich Jonty ganz langsam der Figurgenähert.
Er verspürte den Wunsch, sie zu berühren, aber etwas hielt ihnzurück.
Auf der Vorderseite besaß sie ganz deutlich die Gestalt einesDelfins,
doch wenn man sie umrundete, veränderten sich die Formen in dieeines
Hais. Auf der Rückseite wiederum schien die Skulptur durch düstere
Merkmale noch in ihrem Aufstieg bereits ihren Unterganganzukündigen.
Bestimmte Konturen ähnelten auf den ersten Blick einem gefalteten
Flügel, erinnerten aber bei näherem Hinsehen eher an denmuskulösen
Oberschenkel eines Mannes.
Die Skulptur war sauber ausgearbeitet - keinesfalls das Werk eines
Amateurs. Im Übrigen überragte sie qualitativ bei weitem dieAnsammlung
halb fertiger Figuren, die rund um Jontys kleines Haus verstreutlagen.
Etwa den Mann mit dem flotten Straußenfederhut, der dort drüben am
Hühnerstall lehnte. Und dann die Engelsfigur, die in der Nähe der
Hintertür lag: Die eine Hälfte ihres Gesichts war abgesplittert,als
hätte der Teufel ein Stück herausgebissen. Und dieser kleine Junge
in knielangen Hosen: Ihm fehlte die rechte Hand
© C. Bertelsmann Verlag
Übersetzung: Stefanie Schäfer
Autoren-Porträt von Etienne van Heerden
Etienne van Heerden entstammt einem alten Farmergeschlechtder südafrikanischen Karoo-Ebene und ist über seine Mutter und seine Fraugleichzeitig in der europäischen Kultur verwurzelt. Er gilt als Begründer einesneuen Erzählens in Südafrika und gehört zu den erfolgreichsten Autoren seinesLandes.
- Autor: Etienne van Heerden
- 2004, 1, 508 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Schäfer, Stefanie
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570008061
- ISBN-13: 9783570008065
"Ein farbenprächtiges Epos über die Geschichte Südafrikas, von den mythischen Anfängen der Ureinwohner über die ersten weißen Siedler und die britischen Kolonialherren bis hin zu dem Neuanfang mit Nelson Mandela. Ein großartiges Werk!" (The Guardian)
"Mit diesem Roman, übersetzt aus dem Afrikaans, stellt sich Etienne van Heerden in die Erzähltradition eines Garcia Marquez. Und er kann sich neben dem Südamerikaner gut behaupten!" (The Times)
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