Das Lied der alten Steine
Das Lied der alten Steine von Barbara Erskine
LESEPROBE
Möge nichts gegen mich sprechen,
wenn ich gerichtet werde;
möge keiner sich gegen mich stellen;
möge man uns nicht trennen,
wenn wir ihm gegenüberstehen,
der die Waage hält.
Es ist dreizehnhundert Jahre vorChristi Geburt. Nach der
Einbalsamierung werden die Mumiender Priester zurück in
den Felsentempel gebracht, wo sieeinst ihren Göttern dienten,
und in dem Dämmer, wo sie starben,zur Ruhe gebettet. Für
einen Augenblick dringt einSonnenfleck in das innere Heiligtum,
dann wird der letzte Lehmziegel vorden Eingang gesetzt,
das Licht verschwindet und derTempel, der jetzt ein
Grab ist, liegt sofort im Dunkel.Wären Ohren da zu hören, so
würden sie einige wenige gedämpfteGeräusche wahrnehmen:
Der Verputz wird geglättet und dieSiegel werden aufgedrückt.
Dann herrscht Grabesstille.
Der Schlaf der Toten wird nichtgestört. Die Öle und Harze
im Fleisch beginnen zu wirken. DieVerwesung wird aufgehalten.
Die Seelen der Priester verlassenihre irdischen Körper und
suchen das Gericht der Götter auf.Dort im Saal jenseits der
Tore des westlichen Horizonts hältAnubis, der Totengott, die
Waage, die ihr Schicksal entscheidenwird. In der einen Schale
liegt die Feder von Maat, der Göttinder Wahrheit. Auf die
andere wird das Herz des Menschengelegt.
»Was du brauchst, mein Kind, istUrlaub!«
Phyllis Shelley war eine kleine,drahtige Frau mit einem energischen,
kantigen Gesicht, das von ihrereckigen, rot gerahmten
Brille noch betont wurde. Mit ihremmodischen Kurzhaarschnitt
sah sie zwanzig Jahre jünger aus alsdie achtundachtzig, die sie nur
ungern zugab.
Sie steuerte mit dem Teetablett aufdie Küchentür zu und überließ
es Anna, mit dem Teekessel und einemTeller Gebäck zu folgen.
»Du hast natürlich Recht.« Annalächelte liebevoll. Während
ihre Großtante hinaus auf dieTerrasse strebte, blieb Anna einige
Sekunden im Flur stehen undbetrachtete ihr müdes, mageres
Gesicht in dem fleckigengoldgerahmten Spiegel. Ihr dunkles Haar
war mit einem bunten Schal zurückgebunden,der die grau-grünen
Farbtupfer in ihren braunen Augenhervorhob. Sie war schlank,
groß gewachsen, ebenmäßig gebaut,eine klassische Schönheit, ihr
Körper war immer noch straff undanziehend, aber zu beiden Seiten
ihres Mundes verliefen jetzt feine Linienund die Krähenfüße
um ihre Augen waren tiefer, als siebei einer Frau Mitte dreißig sein
sollten. Sie seufzte und verzog dasGesicht. Sie hatte gut daran
getan, herzukommen. Sie hatte einestarke Dosis Phyllis bitter
nötig!
Mit der einzigen noch lebenden Tanteihres Vaters Tee zu trinken,
war eine der großen Freuden imLeben. Die alte Dame war im
Herzen unverwüstlich jung geblieben,willensstark - unbezähmbar
war das Wort, mit dem die Leute sieimmer beschrieben -, klar
denkend, und sie hatte einenwunderbaren Humor. In ihrem
gegenwärtigen Zustand, unglücklich,einsam und deprimiert, drei
Monate nach dem endgültigenUrteilsspruch, brauchte Anna eine
Infusion all dieser Eigenschaftenund noch einige mehr. In der Tat,
sagte sie sich selbst mit einemLächeln, als sie sich umwandte, um
Phyllis auf die Terrasse hinaus zufolgen, fehlte ihr wahrscheinlich
nichts, was Tee und Kuchen undoffenherzige Gespräche im
Lavenham-Cottage nicht kurierenkönnten.
Es war ein herrlicher Herbsttag, dieBlätter schimmerten in hellen
Gold- und Kupfertönen, die Beeren inden Hecken leuchteten
scharlachrot und schwarz, die Luftduftete nach Holzfeuern und
dem sanften Nachhall des Sommers.
»Du siehst gut aus, Phyl.« Annalächelte über den kleinen runden
Tisch.
Phyllis quittierte Annas Bemerkungmit einem Schnauben und
einer hochgezogenen Augenbraue.»Wenn man bedenkt, wie alt
ich bin, meinst du. Danke, Anna! Esgeht mir gut, was man von dir
nicht gerade behaupten kann, meinSchatz. Du siehst entsetzlich
aus, wenn ich das sagen darf.«
Anna zuckte bedauernd die Achseln.»Ich habe ein paar schreckliche
Monate hinter mir.«
»Natürlich. Aber es hat keinen Sinn,zurückzublicken.« Phyllis
kam ohne Umschweife zur Sache. »Waswillst du jetzt mit deinem
Leben anfangen, wo du allein darüberbestimmen kannst?«
Anna zuckte die Achseln. »Arbeitsuchen, nehme ich an.«
Einen Moment herrschte Stille,während Phyllis Tee einschenkte.
Sie reichte eine der beiden Tassenhinüber und danach
»selbstgebackenes« Teegebäck und einSchälchen Pflaumenmarmelade,
beides aus der Lebensmittelecke desörtlichen Gartengeschäfts.
Phyllis Shelley hatte in ihremvielbeschäftigten Leben
keine Zeit zum Kochen und Stricken,wie sie immer wieder allen
Leuten erklärte, die dieDreistigkeit besaßen, sie um Beiträge aus
einem dieser Gebiete für dasKirchenfest oder ähnliche Wohltätigkeitsveranstaltungen
zu bitten.
»Dem Leben, Anna, muss man sichstellen. Man muss es erleben
«, sagte sie langsam und leckte dieMarmelade von ihren Fin-
gern. »Vielleicht entwickelt es sichnicht so, wie wir es geplant
oder gehofft haben. Es istvielleicht nicht immer angenehm, aber es
sollte immer aufregend sein.« IhreAugen blitzten. »Du klingst
nicht, als hättest du etwasAufregendes vor.«
Anna lachte gegen ihren Willen. »ImMoment hat sich wohl
alles Aufregende aus meinem Lebendavongestohlen.«
Wenn es je vorhanden gewesen war. Esfolgte ein langes Schweigen.
Sie schaute durch den schmalenCottage-Garten zur Steinmauer.
Dort lag Phyllis Katze Jolly undschlief mit dem Kopf auf
den Pfoten auf den uraltenZiegelsteinen, die mit Flechten und wildem
Wein bewachsen waren. Späte Rosenblühten üppig und die
Luft war trügerisch warm, geschütztdurch die Gebäude, die zu
beiden Seiten angrenzten. Annaseufzte. Sie spürte Phyllis Blick
und biss sich auf die Lippe.Plötzlich betrachtete sie sich selbst mit
den kritischen Augen der alten Frau.Verwöhnt. Faul. Nutzlos.
Depressiv. Eine Versagerin.
Phyllis kniff die Augen zusammen.Sie konnte auch Gedanken
lesen. »Selbstmitleid beeindrucktmich gar nicht, Anna. Das hat es
noch nie. Ich konnte diesen Soundso,deinen Mann, nie leiden. Es
war verrückt von deinem Vater, dirdie Ehe mit ihm zu erlauben.
Du hast Felix viel zu junggeheiratet. Du wusstest ja gar nicht, was
du datust. Und ich glaube,du bist noch einmal mit einem blauen
Auge davongekommen. Du hast immernoch viel Zeit, um dir ein
neues Leben aufzubauen. Du bist jungund gesund und hast noch
deine eigenen Zähne!«
Anna lachte wieder. »Du tust mirgut, Phyl. Ich brauche jemanden,
der mir in den Hintern tritt. DasProblem ist, dass ich eigentlich
nicht weiß, wo ich anfangen soll.«
Die Scheidung war sehr zivilisiertverlaufen. Kein unziemliches
Gezanke, keine Feilschereien um Geldoder Eigentum. Felix hatte
ihr das Haus gelassen und sich damitein reines Gewissen erkauft.
Immerhin hatte er sie betrogen undverlassen. Und er hatte schon
ein Auge auf ein anderes Haus ineiner schickeren Gegend geworfen,
ein Haus, das von einemInnenarchitekten maßgeschneidert
und auf das Feinste möbliert seinwürde, um sein neues Leben,
seine neue Frau und sein Kind zubeherbergen.
Für Anna, plötzlich so allein, wardas Leben über Nacht eine
leere Hülle geworden. Felix warsozusagen ihr Alles gewesen.
Selbst ihre Freunde waren Felix Freunde gewesen. Ihre Aufgabe
war es, seine Gäste zu bewirten,seinen gesellschaftlichen Terminkalender
zu führen, alle Rädchen seinesLebens gut zu schmieren,
und all das machte sie, so glaubtesie jedenfalls, ziemlich gut. Aber
vielleicht doch nicht. Vielleichthatte sie sich am Ende doch ihre
innere Unzufriedenheit anmerkenlassen.
Zwei Wochen nach ihrem Diplom inmodernen Sprachen hatten
sie geheiratet. Er war fünfzehnJahre älter. Der Entschluss, ihr Studium
abzuschließen, war, wie es ihrinzwischen schien, die letzte
große Entscheidung in ihrem Lebengewesen, die sie selbst gefällt
hatte.
Felix hatte eigentlich gewollt, dasssie unmittelbar nach dem
Heiratsantrag die Universitätverlässt. »Du brauchst diese ganze
Bildung doch gar nicht, Liebling«,hatte er sie bedrängt. »Wozu
denn? Du wirst nie arbeiten müssen.«
Oder deinen hübschen kleinen Kopfmit irgendetwas belasten,
was des Nachdenkens wert wäre Diesegönnerhaften Worte,
zwar ungesagt, aber stillschweigendgemeint, waren in den folgenden
Jahren immer häufiger in ihrem Kopfwidergeklungen. Aber
sie redete sich auch selbst ein,dass sie für anderes gar keine Zeit
hatte; dass das, was sie für Felix tat,Arbeit war. Es nahm auf alle
Fälle ihre ganze Zeit in Anspruch.Und die Bezahlung? Oh, die
Bezahlung war gut. Sehr gut! Erhatte ihr alles gegönnt. Ihre
Pflichten waren klar und einfach. Indiesen Tagen feministischen
Ehrgeizes, weiblicher Unabhängigkeitund Entschlossenheit sollte
sie ein Dekorationsstück sein. Erhatte das so überzeugend dargestellt,
dass sie gar nicht merkte, wasgeschah. Sie sollte klug genug
sein, um mit Felix FreundenKonversation treiben zu können,
aber nicht so klug, dass sie ihn inden Schatten stellte, und er hatte
nahezu meisterhaft verstanden, esals enorm wichtig und verantwortungsvoll
erscheinen zu lassen, dass sie alldie Lebensbereiche
organisieren durfte, die nicht schonvon seiner Sekretärin organisiert
wurden. Und um diese Organisationreibungslos zu gestalten,
wurde ihr erst nach der vornehmenHochzeit in Mayfair und
der Hochzeitsreise auf die VirginIslands mitgeteilt, dass es keine
Kinder geben würde. Niemals.
Sie hatte zwei Hobbys: Fotografierenund Gärtnern. Er ließ sie
für beides so viel Geld ausgeben,wie sie wollte, und unterstützte
ihre Interessen sogar, solange sieihren sonstigen Pflichten nicht im
Wege standen. Beides war schließlichschick, gab einen guten
Gesprächsstoff ab und war relativharmlos, und sie hatte damit die
Lücken in ihrem Leben gefüllt. Inder Tat war sie in der Verbindung
der beiden Gebiete so gut geworden,dass ihre Gartenfotos
mit Preisen ausgezeichnet undverkauft wurden und ihr die Illusion
gaben, ihr Leben sei sinnvoll.
Seltsamerweise hatte sie seinegelegentlichen Seitensprünge
toleriert, selbst verwundert, wiewenig sie ihr ausmachten. Sie
hegte den leisen Verdacht, gestandes sich aber nie wirklich ein,
dass sie ihn vielleicht doch nichtso sehr liebte, wie sie sollte. Das
spielte keine Rolle. Es gab keinenanderen Mann, zu dem sie sich
hingezogen fühlte. Manchmal fragtesie sich, ob sie vielleicht ein
bisschen frigide war. Der Sex mitFelix machte ihr Spaß, aber sie
vermisste ihn nicht, als er seltenerund seltener wurde. Dennoch
traf sie die Nachricht, dass seineneueste Freundin schwanger war,
wie ein Schlag ins Gesicht. DerDamm, der so lange ihre Gefühle
zurückgehalten hatte, brach und eineWelle aus Wut und Enttäuschung,
Einsamkeit und Unglück stürzte übersie hinweg, die sie
ebenso erschreckte wie sie ihrenMann schockierte. Er hatte diese
Veränderung in seinem Leben nichtgeplant. Und eigentlich hatte
er so weitermachen wollen wiebisher, Shirley besuchen, sie unterstützen,
und wenn die Zeit kam, für das Kindaufzukommen, wäre
er ohne Zweifel großzügig, aber erwürde sich nicht allzu sehr
engagieren. Seine unmittelbare undechte Freude über das Baby
hatte ihn ebensodurcheinandergebracht, wie sie Shirley gefreut
und Anna vernichtet hatte. Nurwenige Tage nach der Entbindung
war er zu Mutter und Kind gezogenund Anna hatte ihren Rechtsanwalt
angerufen.
Nach der einvernehmlichen Scheidunghatten sich Felix
Freunde ihr gegenüber erstaunlichloyal verhalten - vielleicht hatten
sie erkannt, dass etwas Ungeplantesund Unerwartetes geschehen
war, und es tat ihnen wirklich Leid,aber als einer nach dem
anderen anrief, um ihr sein Beileidauszusprechen und dann in verlegenes
Schweigen fiel, wurde ihr klar, dasssie sehr wenige eigene
Freunde besaß, was das Gefühl derEinsamkeit noch verstärkte.
Komischerweise rieten ihr alle,bevor sie auflegten, sie solle Urlaub
machen. (...)
© Heyne Verlag
Übersetzung: Andreas Nohl
- Autor: Barbara Erskine
- 2006, 479 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Nohl, Andreas
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453721004
- ISBN-13: 9783453721005
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