Das Luftkind
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Das Luftkind von Irina Korschunow
LESEPROBE
Freda, die eigentlich Friederike hieß, Friederike vonRützow, war siebzehn, als sie in den Roggen geriet. Eine Katastrophe nannte esihr Vater, doch des einen Eule ist des anderen Nachtigall, und Harro Hochberg,der damals noch mit seinen Rasseln und Klötzchen spielte, wird ihrem Fehltritteines Tages seine Rettung verdanken. Zwei Geschichten, die eine hier, dieandere dort, viel Zeit noch, bis beide sich mischen. Aber sie gehen aufeinanderzu.
Es begann im Juli 1923, kurz vor der Ernte, der Roggen stand hoch. GelberRoggen, wohin man sah, Klatschmohn und Kornblumen dazwischen, die Sommerfarbender Mark, und dass so etwas hier und in seiner Familie passieren könne,erklärte Herr von Rützow, liege an der Unordnung, die um sich greife nach demverlorenen Krieg. Der Kaiser im Exil, das Reich zur Republik verludert, und nundies.
»Und nun dies«, schrie er in seinem Zorn, der schnell hochschoss und wiederzusammenfiel, man kannte es und nahm es hin. Er war der Herr in Großmöllingen,alles seins, die Felder und Koppeln, die Scheunen und Remisen, das Schloss imPark, die niedrigen Katen an der Dorfstraße, eigentlich auch die Leute darin,obwohl jeder gehen konnte, falls es ihn juckte, nach Berlin oder Amerika. Diemeisten jedoch blieben, wie ihre Väter und Großväter, weiterhin unter denDächern des Herrn Baron, ein guter Herr im Allgemeinen, aufbrausend, abergerecht und zugänglich für Sorgen und Nöte, wenn sie ihre Arbeit taten und denroten Agitatoren keine Chance gaben, die gewohnte Ordnung in Großmöllingendurcheinander zu bringen. Denn nur die Ordnung, so sein Credo, halte die Weltzusammen, im Großen wie im Kleinen. Und nun seine Tochter und dies.
Gewalt, stammelte Freda und erzählte etwas von einem fremden Streuner, der siein den Roggen gezerrt habe, lauter Lügen, Friedrich von Rützow glaubte keineinziges Wort. Doch weil der entschwundene Kindsvater als Ehemann ohnehinjenseits jeder Debatte stand, sparte er sich die Mühe, hinter ihm her zuforschen, sondern tat das in solchen Fällen Übliche. Schweren Herzens, erliebte diese Tochter, wenn auch auf seine Weise, preußisch, doch es gab nur deneinen Weg, um das Schlimmste abzuwenden, und Freda fügte sich. Das Schlimmste,wird sie ihm irgendwann sagen, habe ihr seine Ordnung angetan. Aber noch senktesie den Kopf und schwieg, was sonst auch nach den Jahren unter seinerAlleinherrschaft, immer nur du sollst, nie ich will.
Fraglich, ob die kleine Friederike von Gurrleben, kurzzeitig Frau von Rützow,den Mut besessen hätte, mildernd in die väterlichen Erziehungsprinzipieneinzugreifen. Mit siebzehn war sie ins Großmöllinger Schloss gekommen, zehnMonate später auf den Friedhof, wo ein weinender Engel über die toten Rützowswachte. Freda kannte sie nur als Bild im Kaminzimmer, dunkle Augen, dunkles Haar,Rosen am Gürtel, deine Mutter. Der neuen Frau von Rützow, fast ebenso jung,gelang es nicht, die Vakanz zu füllen, und gut, dass Katharina Hook, derenSäugling gestorben war, das Schlosskind an ihrer Brust genährt und gehätschelthatte und vorläufig blieb. Katta, rund, weich und tröstlich in den erstenJahren. Lass man, Kleene, wird schon wieder, murmelte sie, wenn etwas wehtataußen oder innen, eine magische Formel auch noch späterhin, dank derStiefmutter, die ihr, nach Fredas sechstem Geburtstag, das Kommando in der Näh-und Bügelkammer anvertraute, nur eine Treppe höher als der Kindertrakt.
Statt ihrer war Mademoiselle Courrier dort eingezogen, eine dürre Pariserin,durch deren Hände bereits mehrere Mädchen der Verwandtschaft gegangen waren.Sie erschien im April 1912, blieb sieben Jahre und vermittelte, während desErsten Weltkriegs als Herr von Rützow als Major seinem Kaiser diente, Freda dienötigen Kenntnisse im Schreiben, Lesen, Rechnen, anschließend noch das Pensumder ersten Klassen einer höheren Töchterschule sowie diese und jene Fertigkeitim Sticken, Malen und am Klavier, das Übliche eben. Vor allem aber brachte sieihr in galoppierendem Französisch bei, was man tun und sagen durfte und wasnicht, wie man aß, saß, ging, stand, lachte, weinte und dergleichen, mit demZiel, sie für die nächste Etappe in Form zu bringen: das Potsdamer Elisenstift,jene altehrwürdige Anstalt, wo junge Mädchen von Familie seit Generationen aufihre Konfirmation und die künftige Rolle in der Gesellschaft vorbereitet wurden.Auch kaiserliche Hofdamen hatten hier den letzten Schliff erhalten, undwahrhaftig ein Hohn, dass die Saat zu dem, was Herr von Rützow Katastrophenannte, ausgerechnet in diesem Haus gelegt werden sollte.
Zu Beginn des Schuljahrs 1919, nur wenige Monate nach dem verlorenen Krieg,wollte er Freda dort der Pröbstin übergeben, ein Ereignis, dem sie mitUnbehagen entgegensah, seitdem Katta die Stiftsuniformen aus der Truhe geholthatte, um wenigstens die Röcke zu stutzen. Dickes braunes Winterzeug, hellblaueSommerkleider und rosa für die Feiertage, sackartige Gebilde, schon von Tantenund Großtanten getragen, nur dass Rützowtöchter durchweg etwas klobig gerietenund die zierliche Freda darin versank. Egal eigentlich, Eitelkeit war im Stiftohnehin verpönt. Beim Blick in den Spiegel jedoch schien plötzlich alles Festezu zerfließen, wie im Albtraum. Sie fing an zu weinen, gegen die Gebote, mitdreizehn weint man nicht mehr, und Katta nahm sie in den Arm, lass man, Kleene,wird schon wieder, der alte Zauberspruch. Doch dann, als sie invorschriftsmäßigem Rosa der Pröbstin übergeben wurde, war der Zauber dahin.
Sie fürchtete sich vor der hochgewachsenen Frau in Schwarz mit dem strengenLächeln, deren »Willkommen, mein Kind, ich hoffe, du wirst deiner lieben Mutternacheifern« wie eine Drohung klang, fürchtete sich vor der dunklen Halle, derStille im Haus und dem, was dahinter lauerte, wusste indessen, dass man solcheRegungen nicht zeigen durfte, es außerdem zwecklos war. Also lieferte sie ihrenKnicks nebst Handkuss ab und wurde zum Elisenmädchen, ein Attribut, das denAbsolventinnen der Anstalt lebenslang erhalten blieb, ob es ihnen gefiel odernicht.
Das Stift, ein Stadtpalais mit hübscher Rokokofassade im Umfeld von Sanssouci,war von dem Donator, einem Grafen Pail, anno 1738 den adligen Töchtern desLandes gewidmet worden zur Erinnerung an seine Frau Elise, und immer noch galtdas von ihm verordnete Bildungsideal: protestantische Frömmigkeit, preußischeTugenden und gesellschaftliche Contenance, dazu die Unterweisung der jungenDamen in Wissenschaften und schönen Künsten. Dies zum Wohle späterer Ehegattenund der Kinder, wie es in der Stiftungsurkunde hieß, die alljährlich bei einemfeierlichen Gedenken verlesen wurde.
Früher hatte die Kaiserin der Versammlung höfischen Glanz verliehen. Jetztjedoch, da die erste Dame des Reichs irgendeine Frau Soundso war, zog man esvor, unter sich zu bleiben, die ehemaligen und gegenwärtigen Elisenmädchen samtEltern, Lehrern, dem sonstigen Personal sowie Freunden und Förderern derAnstalt, Letztere leider in schrumpfender Zahl. Ein Menetekel für die Herrenvom Kuratorium. Das Vermögen nämlich, das Graf Pail seiner Stiftung beigegebenhatte, um die Türen auch für verarmte junge Damen mit makelloser Ahnenreiheoffen zu halten, war im Laufe des Krieges und der schleichenden Geldentwertungebenfalls geschrumpft. Kaum noch die Rede von Freistellen, im Gegenteil, alleGebühren wurden erhöht und Mädchen akzeptiert, die anstelle von Ahnen nurzahlungskräftige Väter besaßen.
Sogar ein Fräulein Löwenthal war neuerdings im Gespräch, gänzlich konträr demWillen des Stifters, und vielleicht hätte Herr von Rützow bei näherem HinsehenFreda gleich wieder ins sichere Großmöllingen zurückbeordert. Aber seine Groß-und Urgroßmütter waren hier erzogen worden, seine Schwestern, Frauen, Cousinen,Tanten, Nichten, noch schien es undenkbar, dass sogar hinter diesen Mauern dieUnordnung nisten sollte. Allein die bröckelnden Fassaden nahm er zur Kenntnis,und weil solch äußerer Verfall sich beheben ließ, spendete er eine größereSumme als ursprünglich vorgesehen für diesen Zweck, guten Glaubens, die Dingedamit ins Lot zu bringen.
Ein Irrtum, obwohl, was die Erziehung der Mädchen betraf, nach wie vor GrafPails eherne Regel galt, dass Bescheidenheit eine Tugend sei, Luxus Sünde undLibertinage aller Laster Anfang. Gehorsam also hieß das Gebot, bei karger Kostund harten Betten und Pflichterfüllung von morgens bis abends und derzementierte Ablauf, begleitet von frommen Gesängen, zumal in den beiden Jahrenvor der Konfirmation, deren Stille nur heimlich durchbrochen werden durfte.Graf Pails Gesetz. Aber das Geld folgte seinen eigenen: Es ließ die Mauerndurchlässig werden, mischte falsche Elisenmädchen unter die echten und schickteschließlich alle gemeinsam in die Turbulenzen der sich immer schnellerdrehenden Welt.
Der private Unterricht im Stift nämlich, mit sechs Klassen und demHöhere-Töchter-Programm, bisher Garant für das geschlossene System, hatte sichschon bald nach Fredas Ankunft als nicht mehr finanzierbar erwiesen, so dassdie Mädchen fortan in die nächstgelegene öffentliche Schule geleitet wurden,mit Eskorte und uniformiert. Ein täglicher Spießrutenlauf, der jedoch aus derEnge in freiere Luft führte. Denn das neunklassige Helene-Lange-Lyzeum hatteden gleichen Lehrplan wie ein Gymnasium, ermöglichte das Abitur und galtdarüber hinaus als Vorzeigeprojekt der jungen Republik, nicht ohne Konsequenzenfür den Geist dieses Hauses. Die Lehrerinnen etwa wurden weder an Frömmigkeit,Kaisertreue noch Demut gemessen. Sie kamen von der Universität, gelegentlichsogar mit einem Doktortitel, und auch bei den Schülerinnen zählten andereTugenden als die aus Graf Pails Katalog.
Höchst bedenklich dies alles in den Augen mancher Eltern, vor allem der Name derAnstalt. Die sattsam bekannte Helene Lange, konnte man im Rundbrief einesempörten Vaters lesen, gehöre immerhin zu jenen marktschreierischenFrauenriegen, die bereits unter dem Kaiser nicht nur Gymnasien, sondern sogardie Öffnung der Universitäten für Mädchen gefordert hatten, mit geringem Erfolgin Preußen glücklicherweise, und kaum verständlich, dass die Wahl der dochallseits hochverehrten Pröbstin nun ausgerechnet auf dieses Institut gefallensei. Er bat um Unterstützung, worauf es Proteste gab, auch einige Abmeldungen.Doch selbst Herr von Rützow hatte dem Wechsel schließlich zugestimmt, imVertrauen auf den ordnenden Einfluss des Stifts und in der Annahme, dass alles,was nach Abitur roch, seiner Tochter ohnehin fern läge. Wieder ein Irrtum, der größteund folgenreichste überhaupt: Sie entdeckte die Lust am Lernen.
Der Impuls kam von Ulrica Moll, einer Kaufmannstochter aus Bremen, die Medizinstudieren wollte, sämtlichen Dingen auf den Grund ging und Fredas ersteFreundin wurde, die richtige zur richtigen Zeit, wenngleich Herr von Rützow esanders sah. Aber als er erkannte, was dieses falsche Elisenmädchen in Bewegunggebracht hatte, war es zu spät.
Wie hätte er auch damit rechnen können. Früher, unter der Fuchtel vonMademoiselle Courrier, des örtlichen Pastors sowie eines pensioniertenMathematikprofessors, hatte Freda sich schnell abgewöhnt, den Stoff, den manihr vorwarf, nochmals hin und her zu drehen. Lernen, ohne zu fragen, derschnellste Weg, um diese öden Stunden hinter sich zu bringen. Jedes Warumverlängerte die Prozedur, und Hauptsache, sie könne ordentlich rechnen undschreiben und nett Klavier spielen, sagte Herr von Rützow. Seine Tochter habenun mal nicht das Zeug zum Blaustrumpf, und das sei gut so.
Jetzt jedoch, auf der neuen Schule, mit den neuen Lehrern, der neuen Freundin,wollte sie mehr wissen. Frage und Antwort, das neue Spiel. Der Eifer dieserSchülerin reiche weit über das geforderte Pensum hinaus, besagte dasJahreszeugnis, zur Freude der Pröbstin, deren strenges Lächeln in Fredas Nähemilder wurde, und Herr von Rützow schenkte ihr, obwohl sie sich vor Pferdenfürchtete, eine hübsche braune Stute, in der Annahme, damit die Lust am Reitenzu wecken. Er wusste noch nicht, dass Ulrica Moll seine Tochter bald ganz undgar von dem entfernen würde, was ihm gefiel.
Verstehst du, warum wir das tun?«, hatte sie gefragt, als Freda zum ersten Malmit ihr durch den Park von Sanssouci getrottet war, wo die Elisenmädchen inwohl geordneten Zweierreihen der Bevölkerung vorgeführt wurden, »die Gänse«,sagte man, »seht mal, da sind wieder die Gänse«.
Beide waren tags zuvor im Stift angekommen, fast gleichzeitig. Ihre Schränkeund Betten standen nebeneinander, und schon beim Auspacken hatte Ulrica nacheinigen Blicken auf die Nachbarin »ich glaube, ich mag dich« gesagt, ohneUmschweife, wie immer, wenn ihr etwas wichtig schien, während Freda erschrockenzurückwich. Gefühle, hatte Mademoiselle Courrier ihr eingeschärft, behalte manfür sich, und davon abgesehen war Ulrica Moll einen ganzen Kopf größer als sie,strohblond und robust, genau wie die meisten Mitglieder der Rützowsippe. Sieselbst dagegen, klein, schmal, dunkelhaarig, schlug nach der mütterlichenSeite, und mit den Gurrlebens, hatte ihr die Cousine Melanie ausgerechnet zumsiebten Geburtstag um die Ohren gehauen, sei nichts los, die hätten zwar vielGeld, lebten aber nicht lange, und sie werde bestimmt auch mal so jung sterbenwie ihre Mutter, das sagten alle, eine Prophezeiung, die hin und wieder nochdurch Fredas Träume spukte. Kein Wunder, dass sie vor zu viel Direktheiterschrak.
Ulrica indessen ließ sich nicht abweisen, und so sah man beide fortan nur nochnebeneinander, die Große mit dem hellen Haar, die Kleine mit dem dunklen, imStift, bei den Andachten oder nachmittags im Park, wo Freda zum ersten MalUlricas »Warum« gehört hatte, »verstehst du, warum wir das tun müssen?«
Ein Schulterzucken, »weil es immer so gewesen ist«, kein Argument für Ulrica,weder jetzt noch sonst wann. Warum, fragte sie und nahm Freda mit auf die Suchenach den Antworten. Warum ist Afrika so heiß und die Sonne so hell, warum diePröbstin so streng und der Pastor so müde, warum haben wir den Krieg verloren,warum soll man glauben, dass Gott gut ist - eine Reise von dem, was sich imLexikon nachlesen ließ, bis an die Grenze der Geheimnisse hinter Menschen,Worten, Taten, ob zu Fredas Glück oder Unglück, wer kann es sagen, wenngleichman vermuten muss, dass sie ohne Ulrica eine andere geworden wäre, eineRützowtochter nach dem Geschmack ihres Vaters, statt in den Roggen zu geraten.Und ganz gewiss hätte es sie nicht nach Hünneburg verschlagen, die Stadt, inder Harro Hochberg geboren wurde, etwa um die Zeit, als sie mit ihremAbschlußzeugnis ins Zimmer der Pröbstin trat, diesem ebenso glänzenden wieüberflüssigen Dokument. Denn wozu die Obersekundareife, die vielen »Sehr gut«,die Beteuerung, wie gern man die begabte Schülerin zum Abitur geführt hätte.Alles nur für die Schublade, Papier, sonst nichts.
Es war im Frühling 1922, Gründonnerstag, noch eine Nacht, dann musste sie dasStift verlassen. Der Abschied von der Schule lag schon hinter ihr, diemitfühlenden Blicke und Wünsche, das eindringliche »Denk daran« derZeichenlehrerin, der es um mehr als die Handhabung von Stift und Pinselgegangen war. »Denk daran, auch die Abseite der Dinge zu suchen«, sagte sienoch einmal, doch Freda hatte sich abgewandt.
Und nun die Pröbstin. Sie stand neben ihrem Schreibtisch, groß und schwarz wiedamals am ersten Tag, aber nicht mehr furchterregend. Ein langer Blick auf dasZeugnis. »In der Tat bedauerlich, dass du nicht länger bleiben kannst«, undFreda sagte: »Ich würde so gern studieren.«
Die Pröbstin lächelte, jenes besondere Lächeln, das Freda schon kannte,studieren, ja, sie könne es verstehen, das hätte ihr auch gefallen, außerordentlichsogar, aber damals vor vierzig Jahren sei allein der Gedanke unmöglich gewesen.
Sie nestelte an der schwarzen gerüschten Haube, das Zeichen ihres Amtes, jededer Vorgängerinnen, die nun in stummer Würde zu Porträts geronnen waren, truges auf dem Scheitel. »Nein, kein Gedanke daran, absolut unmöglich in unserenKreisen, sonst wäre ich gewiss über alle Hürden gegangen. Gut, dass es andersgeworden ist.«
»Nicht für meinen Vater«, sagte Freda, und die Pröbstin nickte, »ich weiß,gleich nach dem Weihnachtsfest hat er es mir geschrieben. Er meint, ich müsstedich auf die rechte Bahn zurückbringen. Aber das, was er dafür hält, gibt esnicht mehr.«
Weihnachten in Großmöllingen, der zweite Feiertag, die Familie im blauen Zimmerbeim Tee. Sie sitzen um den runden Tisch herum, auf Stühlen, deren Bezügeirgendeine Rützowfrau gestickt hat im fernen Biedermeier, und nun stickt dieStiefmutter an einem Gobelin, hastig, ohne Pause, als fürchtete sie, ihr Lebenwäre nicht lang genug für die Jagdgesellschaft mit Rittern, Damen, Hündchen undHirschen, und der kleine Stiefbruder rutscht ungeduldig hin und her, weilunterm Baum die neuen Spielsachen warten. Er ist Stammhalter, Erbe undAugapfel, seitdem die Diphterie den Erstgeborenen geholt hat. »Ich will aufstehen«,ruft er weinerlich, aber »Kinder mit n Willen krich wat uff de Brillen«, lauteteine der Spruchweisheiten hierzulande, und so wendet Herr von Rützow sich Fredazu, »schade, morgen verlässt du uns schon wieder«, und Freda sagt, dass sielieber noch länger im Stift bliebe, bis zum Abitur.
© btb Verlag
Bei ihren Kinderbüchern arbeitet Irina Korschunow gern mit dem renommierten Illustrator Reinhard Michl zusammen.
Für ihr Gesamtwerk erhielt sie die Roswitha-Gedenkmedaille, den Literaturpreis der Stadt Gandersheim.
Irina Korschunow über ihr künstlerisches Selbstverständnis: "Autorin, ganz einfach Autorin. Unter anderem deshalb, weil dann den Leuten, die sich theoretisch mit mir zu befassen haben, die Einordnung meiner schreibenden Person leichter fiele. Denn es gibt von mir neben Büchern für Kinder auch Bücher für Erwachsene, Grund für mancherlei Schwierigkeiten offenbar. Als Kinderbuchautorin und Schriftstellerin' hat man mich schon bezeichnet, in säuberlichem Kästchendenken, und sogar hin und her überlegt, ob ich vielleicht ein bisschen schizophren sei. Worüber sämtliche Schichten in mir, das Kind, der junge Mensch, der ältere, immer ältere, all das, was sich so übereinander schiebt im Laufe eines Lebens, nun wirklich lachen mussten." Irina Korschunow verstarb 2013.
- Autor: Irina Korschunow
- 2002, 1, 271 Seiten, Maße: 12,5 x 19,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455039995
- ISBN-13: 9783455039993
"Irina Korschunow ist mit "Das Luftkind" ein packender Roman von großer Erzählkraft gelungen." (Berliner Morgenpost)
"Irina Korschunow konstruiert aus menschlichen Alltäglichkeiten einen Gesamtblick auf eine Geschichtsära und leitet aus den Eigenarten dieser Ära das Tun und Lassen ihrer Zeitgenossen ab." (FAZ)
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