Das Mädchen ohne Hände
Im Bürgerkrieg von Sierra Leone verstümmeln Kindersoldaten Mariatu Kamara - sie schlagen ihr die Hände ab. Doch das Mädchen gibt nicht auf. Heute lebt sie in Kanada und besucht ein College. Hier schildert sie mit...
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Produktinformationen zu „Das Mädchen ohne Hände “
Im Bürgerkrieg von Sierra Leone verstümmeln Kindersoldaten Mariatu Kamara - sie schlagen ihr die Hände ab. Doch das Mädchen gibt nicht auf. Heute lebt sie in Kanada und besucht ein College. Hier schildert sie mit kraftvollen Worten ihr Schicksal.
Die 12-jährige Mariatu Kamara lebt ein behütetes Leben auf dem Land in Sierra Leone. Bis der Bürgerkrieg ihr Dorf erreicht. Völlig enthemmte Kindersoldaten richten ein Blutbad unter den Bewohnern an und schlagen Mariatu die Hände ab. Ihr ergeht es wie so vielen anderen Menschen in diesem leidgeplagten Land. Wie durch ein Wunder überlebt das Mädchen die Schandtat. Als Kriegswaise begibt sie sich auf eine Odyssee durch den afrikanischen Busch. Sie kann sich in die Hauptstadt Freetown durchschlagen. Doch das Leben meint es weiterhin nicht gut mit ihr. Sie wird ungewollt schwanger und das Kind stirbt. Da besucht eine UNICEF-Delegation ihr Flüchtlingslager.
Lese-Probe zu „Das Mädchen ohne Hände “
Das Mädchen ohne Hände von Mariatu Kamara mit Susan McClellandVorwort
In meiner Kultur werden Geschichten entweder erzählt, um Wissen weiterzugeben, um eine gestörte Beziehung zu kitten, oder um Zuhörer und Erzähler zu verzaubern. Mariatus Geschichte kann all das. Ich habe auf eine solche Geschichte gewartet, eine Geschichte, die uns alle an die Stärke und die Unverwüstlichkeit des menschlichen Geistes erinnert.
Das Mädchen ohne Hände ist der einzigartige, schonungslos ehrliche Bericht eines zwölfjährigen Mädchens, das zum Opfer eines der brutalsten Kriege des 20. Jahrhunderts wurde. Das Mädchen erzählt, wie es überlebte und ihr Leben neu begann, nachdem sie nicht nur ihrer Kindheit, sondern auch ihrer Hände beraubt worden war. Sie musste lernen, ohne ihre Hände auszukommen. Wie aber fühlt man sich, wenn man sich nicht einmal die eigenen bitteren Tränen aus den Augen wischen kann? Wenn man keine Hände hat, um sich wieder aufzurichten? Mariatu berichtet von diesen und vielen anderen Erfahrungen.
Sie erzählt von verlorener Unschuld, von Verrat und Heilung in einer schwierigen und schrecklichen Zeit. Und sie beschreibt das einfache Leben, die kulturellen Eigenheiten und das Zusammenleben in einer eng verbundenen Dorfgemeinschaft in Sierra Leone – und sie erklärt, wie der Krieg in diesem Land eine Gesellschaft hervorbrachte, in der Verdächtigungen und Misstrauen alles beherrschte, in der sich Nachbarn gegen Nachbarn, Kinder gegen Kinder und Kinder gegen ihre Eltern wandten.
Diese kraftvolle und aktuelle Geschichte ist in einer einfachen Sprache erzählt, die sowohl die Unschuld der Erzählerin als auch ihre Verzweifl ung widerspiegelt. Sie schafft ein tiefes Verständnis für das Leid eines Kindes, das in den Wahnsinn eines Krieges geraten ist. »Es ist schwierig, über das zu
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reden, was im Krieg passiert ist, aber wenn man einmal angefangen hat, muss man auch weitermachen«, sagte Mariatu zu mir, als wir uns im April 2007 trafen. Ich glaube, dass diese Erkenntnis all das prägt, was ihren Alltag ausmacht.
Das Leuchten und die Freude in Mariatus Gesicht geben keinen Hinweis darauf, dass sie sich von dem verabschieden musste, was ihr lieb und teuer und vertraut war.
Wer diese bemerkenswerte junge Frau kennt, wird eine neue Vorstellung davon haben, was es heißt, Opfer eines Krieges zu sein. Die Medien konzentrieren sich oft auf die Traumata der Menschen und vergessen darüber, von der Fähigkeit der Menschen zu erzählen, wieder heil zu werden. Mariatus Geschichte aber zeigt in all ihrer Menschlichkeit, was es bedeutet, sowohl Opfer als auch Überlebende zu sein, was es bedeutet, zur Veränderung bereit zu sein und mit neuer Kraft weiterzuleben. Ich bin zutiefst dankbar, dass dank des Buches die ganze Welt diesem außergewöhnlichen Menschen begegnen kann.
Ishmael Beah
New York, Juni 2008
Kapitel 1
Mein Name ist Mariatu, und dies ist meine Geschichte.
Sie beginnt in dem Jahr, als ich elf war. Damals lebte ich bei meiner Tante, meinem Onkel und meinen Cousins in einem kleinen Dorf in Sierra Leone. Ich war bei Marie, der Schwester meines Vaters, und ihrem Mann zu Hause, seit ich ein Baby war, und nannte sie bei ihren Kosenamen, Ya für Mutter und Pa für Vater. In Sierra Leone war es auf dem Land üblich, dass Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwuchsen.
Unser Dorf Magborou war klein, wie die meisten Dörfer in Sierra Leone, und hatte etwa zweihundert Einwohner. Es gab acht Häuser aus Lehm und Holz mit einem Blechdach, in denen jeweils mehrere Familien lebten. Die Erwachsenen schliefen in den kleineren Räumen und wir Kinder gewöhnlich zusammen im Wohnraum, den wir den Salon nannten. Jeder packte mit an, und alle halfen, wo immer es notwendig war. Die Frauen kochten gemeinsam. Die Männer reparierten zusammen das Dach.
Und wir Kinder spielten miteinander.
Keines der Kinder aus dem Dorf ging zur Schule. Meine Familie war, wie alle in Magborou, sehr arm. »Wir brauchen dich hier bei der Arbeit«, hatte Marie mir erklärt.
Manchmal kamen Kinder aus reicheren Familien und Dörfern auf ihrem Schulweg durch Magborou. Einige dieser Kinder besuchten Internate in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Wenn ich sie sah, wurde ich traurig, denn ich wünschte mir, selbst einmal eine große Stadt zu sehen. Seit ich etwa sieben Jahre alt und kräftig genug war, einen Plastikeimer mit Wasser oder einen Strohkorb mit Getreide auf dem Kopf zu tragen, arbeitete ich vormittags auf den Feldern von Magborou. In unserem Dorf besaß niemand eigenes Land, sondern alle bewirtschafteten die Felder gemeinsam. Wir bauten unterschiedliche Feldfrüchte an: Maniok – der Kartoffeln ähnelt –, Erdnüsse, Reis, Pfeffer und Süßkartoffeln. Alle vier Jahre wechselten wir dabei die Felder.
Obwohl nicht alle, die in Maries und Alies Haus lebten, miteinander verwandt waren, betrachteten wir uns doch als Familie und nannten uns Onkel, Tante, Cousin und Cousine. Mohamed und Ibrahim, zwei meiner Cousins, lebten bereits im Dorf, als ich, noch ein Baby, hinzukam.
Mohamed war ungefähr siebzehn – ich bin mir da nicht ganz sicher, weil die Leute im Dorf keine Geburtstage feierten oder auch nur wussten, wie alt sie waren. Mohamed war pummelig und hatte weiche Gesichtszüge mit warmen Augen. Er versuchte immer, die Menschen zum Lachen zu bringen, sogar bei Beerdigungen. Wenn jemand starb, blieben alle zu Hause und trauerten, normalerweise dauerte das drei Tage. Während dieser Zeit wurde auch nicht gearbeitet. Wir saßen beisammen, und die Erwachsenen weinten. Aber dann kam Mohamed herein und trieb seine Scherze über die Tränen der anderen.
»Wenn die Toten hören, dass ihr so eine Szene macht«, pfl egte er zu sagen, »kommen sie als Geister zurück und fahren in eure Körper.«
Wenn die Leute ihn dann schockiert ansahen, fuhr er behutsamer fort: »Wirklich, die Toten sind gestorben, weil ihre Zeit gekommen war. Sie würden nicht wollen, dass ihr eure verbleibenden Tage hier auf Erden damit verbringt, um sie zu weinen.«
Mohamed war ein wirklich netter Mensch. Gab es einmal nicht genug zu essen, dann überließ er mir oder den anderen kleinen Kindern seine Portion und meinte: »Esst ihr nur, ihr seid noch klein und müsst wachsen.«
Ibrahim hingegen war völlig anders. Er war ungefähr ein Jahr älter als Mohamed, groß und dünn. Ibrahim spielte immer den Chef. Wenn wir auf den Feldern arbeiteten, kommandierte er mich und die anderen kleineren Kinder herum. Und gehorchten wir ihm nicht, so trat er wütend gegen eine Schaufel oder einen Eimer oder stürmte einfach davon.
Ibrahim hatte manchmal Anfälle, bei denen sein Körper sich verkrampfte, seine Augen wurden dann glasig, und Schaum stand ihm vor dem Mund. Erst viel später, als ich längst in Nordamerika lebte, erfuhr ich, dass er Epileptiker war.
In Magborou ging es lebhaft zu – ständig liefen uns Ziegen und Hühner vor die Füße. Nachmittags spielte ich Verstecken mit meinen Cousins und Freunden. Unter ihnen war auch ein Mädchen, das ebenfalls Mariatu hieß.
Vom ersten Moment an waren wir ein Herz und eine Seele. Wir fanden es ungeheuer komisch, dass wir den gleichen Namen hatten, und konnten auch über eine Menge anderer Sachen lachen. Sobald wir alt genug für die Feldarbeit waren, bettelten wir bei unseren Familien darum, unsere Felder nebeneinander anlegen zu dürfen, damit wir nicht getrennt wurden. Abends tanzten wir zum Klang der Trommeln und dem Gesang der Dorfbewohner.
Mindestens einmal in der Woche traf sich das ganze Dorf, um sich ein Theaterstück anzusehen, das einige von uns aufführten. Wenn ich mitspielte, war ich immer der Teufel, in einem tollen rot-schwarzen Kostüm. Nachdem ich eine Weile getanzt hatte, fi ng ich dann an, die Zuschauer zu jagen und ihnen Angst einzujagen wie der richtige Teufel.
Meine Eltern sah ich nicht sehr oft, aber als ich zehn Jahre alt war, besuchte ich sie einmal in Yonkro, dem Dorf, in dem sie wohnten. Eines Abends saßen wir nach dem Essen noch draußen, und mein Vater erzählte mir von meinem Leben, bevor ich zu seiner älteren Schwester gegeben worden war. Die Sterne standen am Himmel, und der Mond schien. Ich hörte, wie die Grillen in den Büschen ihre langen Beine aneinanderrieben, und der Duft unseres Abendessens aus scharfem Pfeffer, Reis und
Huhn hing noch in der Luft.
»Dein Geburtstag war ein Glückstag«, sagte mein Vater und zog an seiner langen Tabakspfeife. »Du wurdest im Krankenhaus geboren«, fuhr er fort – was, wie ich wusste, in unserem Dorf sehr ungewöhnlich war. »Deine Mutter rauchte Zigaretten, und zwar ziemlich viele, und als du gerade herauskommen wolltest, bekam sie Krämpfe und fing an zu bluten. Wärst du nicht im Krankenhaus gewesen, wo dir die Schwestern Medikamente für deine Augen gaben, wärst du heute blind.«
Mich schauderte einen Moment lang, als ich mir vorstellte, was für ein Leben das gewesen wäre.
An meinem Geburtstag war das Wetter kalt und regnerisch, erzählte mein Vater dann. »Das ist ein gutes Zeichen «, lachte er. »Es bringt Glück, an einem Regentag zu heiraten oder zu gebären.«
Für den Lebensunterhalt der Familie ging mein Vater im Buschland auf die Jagd und verkaufte das Fleisch der erlegten Tiere in der nahen Stadt auf dem Markt, neben den Bauern, die ihre Feldfrüchte anboten. Er schien allerdings kein besonders guter Jäger zu sein, denn, wie Marie mir erzählte, verdiente er auf diese Weise nicht viel Geld.
Ich wusste auch, dass er immer wieder in Schwierigkeiten geriet und häufig im Gefängnis saß. Das Gefängnis war ein Käfig mit Holzstangen, der mitten im Dorf stand, damit sich alle den Verbrecher ansehen konnten.
Die Mädchen in Sierra Leone verbringen die meiste Zeit mit Frauen und anderen Mädchen, nicht mit ihren Vätern, Großvätern oder Onkeln. Es war schön, so mit meinem Vater zu sprechen, und ich hörte aufmerksam zu, als er erklärte, wie es kam, dass ich bei Marie und Alie lebte.
Mein Vater hatte zwei Frauen geheiratet, wie es viele Männer in Sierra Leone tun. Die ältere Ehefrau hieß Sampa; die jüngere, Aminatu, war meine Mutter. Bevor ich geboren wurde, hatte Sampa schon zwei Söhne gehabt. Beide starben jedoch noch im ersten Lebensjahr. Als Sampa zum dritten Mal schwanger wurde, fragte mein Vater Marie, ob sie das Kind zu sich nehmen würde. Auf diese Weise, so hoffte er, würde es vielleicht überleben. Und so wurde Santigie, mein Halbbruder, drei Jahre vor mir geboren.
Kurz nachdem Santigie zu Marie gegeben worden war, wurde meine Mutter mit meiner älteren Schwester schwanger. Sampa gefiel das nicht. Sie war eine eifersüchtige Frau, die die Aufmerksamkeit meines Vaters für sich allein wollte. Als meine Schwester zur Welt gekommen war, bat sie deshalb meinen Vater sehr freundlich, Santigie wieder zurückzunehmen.
Marie war die Lieblingsschwester meines Vaters. Zuerst, so erzählte er mir, hatte er Santigie nicht wieder nach Hause zurückholen wollen, weil er wusste, dass er seiner Schwester damit wehtun würde. Aber schließlich, als Sampas Freundlichkeit in Ärger umschlug, gab er nach.
Denn sie stritt mit meinem Vater, bis Santigie wieder in die Familie zurückkehrte. Marie war darüber jedoch sehr traurig.
Da wollte meine Mutter Marie und meinem Vater eine Freude machen und sagte Marie, sie könne das Kind aufziehen, das sie erwarte. »Ich weiß zwar nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird«, meinte meine Mutter zu ihr, »aber ich verspreche dir, dass du das Kind für immer behalten und dein Eigen nennen darfst.«
Sowie meine Mutter mich abgestillt hatte, wurde ich also zu Marie gegeben. Aus irgendeinem Grund, den sogar mein Vater vergessen hatte, gab Sampa auch Santigie wieder an Marie zurück, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Mein Halbbruder und ich standen uns sehr nahe.
Wir schliefen nebeneinander auf Strohmatten, aßen vom selben großen Teller und wuschen uns im Fluss gegenseitig den Rücken. Als wir älter wurden, ärgerten wir einander unaufhörlich. Aber drei Jahre später wollte Sampa dann ihren Sohn Santigie doch wieder zurückhaben. Santigie wollte zwar nicht zu ihr zurück, und ich wollte auch, dass er blieb, aber Marie und ich mussten ihn zu seiner Mutter zurückbringen.
Zu dieser Zeit waren Sampa und meine Mutter schon so eifersüchtig aufeinander, dass sie sich regelrecht prügelten. Es war schwer zu verstehen, worüber sie eigentlich stritten, weil sie so schnell und laut sprachen, aber sie zogen sich gegenseitig an den Haaren und bespuckten und traten einander. Wenn sie aneinandergerieten, zogen Santigie und ich uns zurück, bis wir mit dem Rücken an der Wand standen, starrten sie mit großen Augen an und legten die Hand auf den Mund, um nicht laut loszulachen. Der Anblick zweier erwachsener Frauen, die sich prügelten, mit blitzenden Augen, schaukelnden Brüsten und bis an die Hüften hochgezogenen Kleidern, war einfach zu lustig. Wenn ich Sampa und meine Mutter streiten sah, war ich immer froh, dass ich bei Marie aufwuchs. Ich wünschte mir nur, Marie dürfte auch Santigie großziehen.
Einige Monate, nachdem Marie und ich nach Magborou zurückgekehrt waren, hörten wir, dass Santigie krank sei. Es hieß, sein Bauch sei angeschwollen wie bei einer Schwangeren, und er sei so schwach, dass er das Bett nicht mehr verlassen könne. Die Medizinfrau habe ihm alle möglichen Mittel gegeben, aber nichts half. Und dieses Mal, erzählte mein Vater mir, hatte er nicht genug Geld für das Krankenhaus. Santigie starb zu Hause, mitten in der Nacht.
Als Santigie tot war, erlebte ich etwas Merkwürdiges. Ich meinte plötzlich seine Stimme zu hören, die mich rief. Ich drehte mich um, aber niemand war da. Das geschah im Laufe des folgenden Jahres noch mehrmals. Ich fragte mich danach oft, ob Santigies Geist vielleicht über mich wachte.
An jenem Abend, als mein Vater mir von meiner frühen Kindheit erzählte, hörte er auf, als einige Kinder anfingen, in der Dorfmitte zu singen und zu trommeln. Es war ein Abend, an dem sich die Menschen von Yonkro versammelten, um zu singen, zu tanzen und sich Geschichten und Klatsch zu erzählen, wie wir es auch jede Woche in Magborou taten.
»Danke«, flüsterte ich meinem Vater zu.
Er nickte nur, stand auf und ging zurück zu den anderen in die Hütte.
Übersetzung: Dagmar Mallett
Deutsche Erstausgabe © 2009 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Das Leuchten und die Freude in Mariatus Gesicht geben keinen Hinweis darauf, dass sie sich von dem verabschieden musste, was ihr lieb und teuer und vertraut war.
Wer diese bemerkenswerte junge Frau kennt, wird eine neue Vorstellung davon haben, was es heißt, Opfer eines Krieges zu sein. Die Medien konzentrieren sich oft auf die Traumata der Menschen und vergessen darüber, von der Fähigkeit der Menschen zu erzählen, wieder heil zu werden. Mariatus Geschichte aber zeigt in all ihrer Menschlichkeit, was es bedeutet, sowohl Opfer als auch Überlebende zu sein, was es bedeutet, zur Veränderung bereit zu sein und mit neuer Kraft weiterzuleben. Ich bin zutiefst dankbar, dass dank des Buches die ganze Welt diesem außergewöhnlichen Menschen begegnen kann.
Ishmael Beah
New York, Juni 2008
Kapitel 1
Mein Name ist Mariatu, und dies ist meine Geschichte.
Sie beginnt in dem Jahr, als ich elf war. Damals lebte ich bei meiner Tante, meinem Onkel und meinen Cousins in einem kleinen Dorf in Sierra Leone. Ich war bei Marie, der Schwester meines Vaters, und ihrem Mann zu Hause, seit ich ein Baby war, und nannte sie bei ihren Kosenamen, Ya für Mutter und Pa für Vater. In Sierra Leone war es auf dem Land üblich, dass Kinder nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwuchsen.
Unser Dorf Magborou war klein, wie die meisten Dörfer in Sierra Leone, und hatte etwa zweihundert Einwohner. Es gab acht Häuser aus Lehm und Holz mit einem Blechdach, in denen jeweils mehrere Familien lebten. Die Erwachsenen schliefen in den kleineren Räumen und wir Kinder gewöhnlich zusammen im Wohnraum, den wir den Salon nannten. Jeder packte mit an, und alle halfen, wo immer es notwendig war. Die Frauen kochten gemeinsam. Die Männer reparierten zusammen das Dach.
Und wir Kinder spielten miteinander.
Keines der Kinder aus dem Dorf ging zur Schule. Meine Familie war, wie alle in Magborou, sehr arm. »Wir brauchen dich hier bei der Arbeit«, hatte Marie mir erklärt.
Manchmal kamen Kinder aus reicheren Familien und Dörfern auf ihrem Schulweg durch Magborou. Einige dieser Kinder besuchten Internate in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone. Wenn ich sie sah, wurde ich traurig, denn ich wünschte mir, selbst einmal eine große Stadt zu sehen. Seit ich etwa sieben Jahre alt und kräftig genug war, einen Plastikeimer mit Wasser oder einen Strohkorb mit Getreide auf dem Kopf zu tragen, arbeitete ich vormittags auf den Feldern von Magborou. In unserem Dorf besaß niemand eigenes Land, sondern alle bewirtschafteten die Felder gemeinsam. Wir bauten unterschiedliche Feldfrüchte an: Maniok – der Kartoffeln ähnelt –, Erdnüsse, Reis, Pfeffer und Süßkartoffeln. Alle vier Jahre wechselten wir dabei die Felder.
Obwohl nicht alle, die in Maries und Alies Haus lebten, miteinander verwandt waren, betrachteten wir uns doch als Familie und nannten uns Onkel, Tante, Cousin und Cousine. Mohamed und Ibrahim, zwei meiner Cousins, lebten bereits im Dorf, als ich, noch ein Baby, hinzukam.
Mohamed war ungefähr siebzehn – ich bin mir da nicht ganz sicher, weil die Leute im Dorf keine Geburtstage feierten oder auch nur wussten, wie alt sie waren. Mohamed war pummelig und hatte weiche Gesichtszüge mit warmen Augen. Er versuchte immer, die Menschen zum Lachen zu bringen, sogar bei Beerdigungen. Wenn jemand starb, blieben alle zu Hause und trauerten, normalerweise dauerte das drei Tage. Während dieser Zeit wurde auch nicht gearbeitet. Wir saßen beisammen, und die Erwachsenen weinten. Aber dann kam Mohamed herein und trieb seine Scherze über die Tränen der anderen.
»Wenn die Toten hören, dass ihr so eine Szene macht«, pfl egte er zu sagen, »kommen sie als Geister zurück und fahren in eure Körper.«
Wenn die Leute ihn dann schockiert ansahen, fuhr er behutsamer fort: »Wirklich, die Toten sind gestorben, weil ihre Zeit gekommen war. Sie würden nicht wollen, dass ihr eure verbleibenden Tage hier auf Erden damit verbringt, um sie zu weinen.«
Mohamed war ein wirklich netter Mensch. Gab es einmal nicht genug zu essen, dann überließ er mir oder den anderen kleinen Kindern seine Portion und meinte: »Esst ihr nur, ihr seid noch klein und müsst wachsen.«
Ibrahim hingegen war völlig anders. Er war ungefähr ein Jahr älter als Mohamed, groß und dünn. Ibrahim spielte immer den Chef. Wenn wir auf den Feldern arbeiteten, kommandierte er mich und die anderen kleineren Kinder herum. Und gehorchten wir ihm nicht, so trat er wütend gegen eine Schaufel oder einen Eimer oder stürmte einfach davon.
Ibrahim hatte manchmal Anfälle, bei denen sein Körper sich verkrampfte, seine Augen wurden dann glasig, und Schaum stand ihm vor dem Mund. Erst viel später, als ich längst in Nordamerika lebte, erfuhr ich, dass er Epileptiker war.
In Magborou ging es lebhaft zu – ständig liefen uns Ziegen und Hühner vor die Füße. Nachmittags spielte ich Verstecken mit meinen Cousins und Freunden. Unter ihnen war auch ein Mädchen, das ebenfalls Mariatu hieß.
Vom ersten Moment an waren wir ein Herz und eine Seele. Wir fanden es ungeheuer komisch, dass wir den gleichen Namen hatten, und konnten auch über eine Menge anderer Sachen lachen. Sobald wir alt genug für die Feldarbeit waren, bettelten wir bei unseren Familien darum, unsere Felder nebeneinander anlegen zu dürfen, damit wir nicht getrennt wurden. Abends tanzten wir zum Klang der Trommeln und dem Gesang der Dorfbewohner.
Mindestens einmal in der Woche traf sich das ganze Dorf, um sich ein Theaterstück anzusehen, das einige von uns aufführten. Wenn ich mitspielte, war ich immer der Teufel, in einem tollen rot-schwarzen Kostüm. Nachdem ich eine Weile getanzt hatte, fi ng ich dann an, die Zuschauer zu jagen und ihnen Angst einzujagen wie der richtige Teufel.
Meine Eltern sah ich nicht sehr oft, aber als ich zehn Jahre alt war, besuchte ich sie einmal in Yonkro, dem Dorf, in dem sie wohnten. Eines Abends saßen wir nach dem Essen noch draußen, und mein Vater erzählte mir von meinem Leben, bevor ich zu seiner älteren Schwester gegeben worden war. Die Sterne standen am Himmel, und der Mond schien. Ich hörte, wie die Grillen in den Büschen ihre langen Beine aneinanderrieben, und der Duft unseres Abendessens aus scharfem Pfeffer, Reis und
Huhn hing noch in der Luft.
»Dein Geburtstag war ein Glückstag«, sagte mein Vater und zog an seiner langen Tabakspfeife. »Du wurdest im Krankenhaus geboren«, fuhr er fort – was, wie ich wusste, in unserem Dorf sehr ungewöhnlich war. »Deine Mutter rauchte Zigaretten, und zwar ziemlich viele, und als du gerade herauskommen wolltest, bekam sie Krämpfe und fing an zu bluten. Wärst du nicht im Krankenhaus gewesen, wo dir die Schwestern Medikamente für deine Augen gaben, wärst du heute blind.«
Mich schauderte einen Moment lang, als ich mir vorstellte, was für ein Leben das gewesen wäre.
An meinem Geburtstag war das Wetter kalt und regnerisch, erzählte mein Vater dann. »Das ist ein gutes Zeichen «, lachte er. »Es bringt Glück, an einem Regentag zu heiraten oder zu gebären.«
Für den Lebensunterhalt der Familie ging mein Vater im Buschland auf die Jagd und verkaufte das Fleisch der erlegten Tiere in der nahen Stadt auf dem Markt, neben den Bauern, die ihre Feldfrüchte anboten. Er schien allerdings kein besonders guter Jäger zu sein, denn, wie Marie mir erzählte, verdiente er auf diese Weise nicht viel Geld.
Ich wusste auch, dass er immer wieder in Schwierigkeiten geriet und häufig im Gefängnis saß. Das Gefängnis war ein Käfig mit Holzstangen, der mitten im Dorf stand, damit sich alle den Verbrecher ansehen konnten.
Die Mädchen in Sierra Leone verbringen die meiste Zeit mit Frauen und anderen Mädchen, nicht mit ihren Vätern, Großvätern oder Onkeln. Es war schön, so mit meinem Vater zu sprechen, und ich hörte aufmerksam zu, als er erklärte, wie es kam, dass ich bei Marie und Alie lebte.
Mein Vater hatte zwei Frauen geheiratet, wie es viele Männer in Sierra Leone tun. Die ältere Ehefrau hieß Sampa; die jüngere, Aminatu, war meine Mutter. Bevor ich geboren wurde, hatte Sampa schon zwei Söhne gehabt. Beide starben jedoch noch im ersten Lebensjahr. Als Sampa zum dritten Mal schwanger wurde, fragte mein Vater Marie, ob sie das Kind zu sich nehmen würde. Auf diese Weise, so hoffte er, würde es vielleicht überleben. Und so wurde Santigie, mein Halbbruder, drei Jahre vor mir geboren.
Kurz nachdem Santigie zu Marie gegeben worden war, wurde meine Mutter mit meiner älteren Schwester schwanger. Sampa gefiel das nicht. Sie war eine eifersüchtige Frau, die die Aufmerksamkeit meines Vaters für sich allein wollte. Als meine Schwester zur Welt gekommen war, bat sie deshalb meinen Vater sehr freundlich, Santigie wieder zurückzunehmen.
Marie war die Lieblingsschwester meines Vaters. Zuerst, so erzählte er mir, hatte er Santigie nicht wieder nach Hause zurückholen wollen, weil er wusste, dass er seiner Schwester damit wehtun würde. Aber schließlich, als Sampas Freundlichkeit in Ärger umschlug, gab er nach.
Denn sie stritt mit meinem Vater, bis Santigie wieder in die Familie zurückkehrte. Marie war darüber jedoch sehr traurig.
Da wollte meine Mutter Marie und meinem Vater eine Freude machen und sagte Marie, sie könne das Kind aufziehen, das sie erwarte. »Ich weiß zwar nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird«, meinte meine Mutter zu ihr, »aber ich verspreche dir, dass du das Kind für immer behalten und dein Eigen nennen darfst.«
Sowie meine Mutter mich abgestillt hatte, wurde ich also zu Marie gegeben. Aus irgendeinem Grund, den sogar mein Vater vergessen hatte, gab Sampa auch Santigie wieder an Marie zurück, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Mein Halbbruder und ich standen uns sehr nahe.
Wir schliefen nebeneinander auf Strohmatten, aßen vom selben großen Teller und wuschen uns im Fluss gegenseitig den Rücken. Als wir älter wurden, ärgerten wir einander unaufhörlich. Aber drei Jahre später wollte Sampa dann ihren Sohn Santigie doch wieder zurückhaben. Santigie wollte zwar nicht zu ihr zurück, und ich wollte auch, dass er blieb, aber Marie und ich mussten ihn zu seiner Mutter zurückbringen.
Zu dieser Zeit waren Sampa und meine Mutter schon so eifersüchtig aufeinander, dass sie sich regelrecht prügelten. Es war schwer zu verstehen, worüber sie eigentlich stritten, weil sie so schnell und laut sprachen, aber sie zogen sich gegenseitig an den Haaren und bespuckten und traten einander. Wenn sie aneinandergerieten, zogen Santigie und ich uns zurück, bis wir mit dem Rücken an der Wand standen, starrten sie mit großen Augen an und legten die Hand auf den Mund, um nicht laut loszulachen. Der Anblick zweier erwachsener Frauen, die sich prügelten, mit blitzenden Augen, schaukelnden Brüsten und bis an die Hüften hochgezogenen Kleidern, war einfach zu lustig. Wenn ich Sampa und meine Mutter streiten sah, war ich immer froh, dass ich bei Marie aufwuchs. Ich wünschte mir nur, Marie dürfte auch Santigie großziehen.
Einige Monate, nachdem Marie und ich nach Magborou zurückgekehrt waren, hörten wir, dass Santigie krank sei. Es hieß, sein Bauch sei angeschwollen wie bei einer Schwangeren, und er sei so schwach, dass er das Bett nicht mehr verlassen könne. Die Medizinfrau habe ihm alle möglichen Mittel gegeben, aber nichts half. Und dieses Mal, erzählte mein Vater mir, hatte er nicht genug Geld für das Krankenhaus. Santigie starb zu Hause, mitten in der Nacht.
Als Santigie tot war, erlebte ich etwas Merkwürdiges. Ich meinte plötzlich seine Stimme zu hören, die mich rief. Ich drehte mich um, aber niemand war da. Das geschah im Laufe des folgenden Jahres noch mehrmals. Ich fragte mich danach oft, ob Santigies Geist vielleicht über mich wachte.
An jenem Abend, als mein Vater mir von meiner frühen Kindheit erzählte, hörte er auf, als einige Kinder anfingen, in der Dorfmitte zu singen und zu trommeln. Es war ein Abend, an dem sich die Menschen von Yonkro versammelten, um zu singen, zu tanzen und sich Geschichten und Klatsch zu erzählen, wie wir es auch jede Woche in Magborou taten.
»Danke«, flüsterte ich meinem Vater zu.
Er nickte nur, stand auf und ging zurück zu den anderen in die Hütte.
Übersetzung: Dagmar Mallett
Deutsche Erstausgabe © 2009 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG,
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Autoren-Porträt von Mariatu Kamara
Matriatu Kamara wurde 1986 im westafrikanischen Sierra Leone geboren und wuchs dort in einem kleinen Dorf im Kreis der Großfamilie auf. Nach ihrer Verstümmelung kam sie aus einem Flüchtlingslager mit Hilfe der UNO nach Großbritannien, bevor sie eine neue Heimat in einer kanadischen Pflegefamilie fand. Heute lebt und studiert die 22-Jährige in Toronto und ist in Nordamerika als UNICEFSonderbotschafterin für Kinder in bewaffneten Konflikten unterwegs. Darüber hinaus hat sie eine Stiftung ins Leben gerufen, die ein Heim für verstoßene Frauen und Kinder in Sierra Leone errichten möchte, und tritt als Rednerin für die gemeinnützige Organisation "Free the Children" auf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mariatu Kamara
- 2009, 208 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Mit Susan McClelland
- Übersetzer: Mihr Ulrich
- Verlag: Pattloch
- ISBN-10: 3629022294
- ISBN-13: 9783629022295
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