Das Meer der Sehnsucht
Roman
Der reiche Geschäftsmann, den Stepha heiraten will, obwohl sie ihn nicht liebt, ist nach einem Autounfall völlig verändert.
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Produktinformationen zu „Das Meer der Sehnsucht “
Der reiche Geschäftsmann, den Stepha heiraten will, obwohl sie ihn nicht liebt, ist nach einem Autounfall völlig verändert.
Lese-Probe zu „Das Meer der Sehnsucht “
"Ich bitte dich, Kind, sag mir: Liebst du Klaus Stoltenbeck nicht mehr? Hast du ihn überhaupt geliebt, als du seine Werbung annahmst? Bedenke doch, welchen Schmerz du ihm bereitest, wenn du ihn jetzt, da er auf Hochzeit drängt, um deine Freiheit bitten willst!"Stepha hielt mit beiden Händen das Fensterkreuz umklammert. Klaus Stoltenbeck - die Mama - die Hochzeit - alles zog in wirbelnden Bildern an ihr vorüber. In ihrem Herzen war eine grenzenlose Leere und die Angst vor dem Kommenden, vor der Ehe mit Klaus.
"Verzeih, Mama, daß ich dich betrüben muß", schluchzte sie auf. "Ich muß es dir sagen, wenigstens einem Menschen muß ich mich anvertrauen. Nein, ich liebe ihn nicht! Ich habe ihn auch nicht geliebt, als er um mich warb. Ich weiß, daß ich schlecht gehandelt habe. Verzeih mir! Ich will auch nicht mehr von einer Trennung von Klaus sprechen - nie wieder! Damals, Mama - dachte ich nur an das große Glück, das mir und dir winkte. Die Entbehrungen hatten mich aufgerieben. Dazu kam Klaus Stoltenbecks herrisches Wesen. Er rechnete wohl gar nicht mit einer Absage. Ach, du kennst nicht den kühlen Rechner. Nach meinem Herzen hat er überhaupt nicht gefragt. Er hat mich einfach überrumpelt."
Eine bedrückende Stille folgte dieser bitteren Beichte.
"Mama!" Stepha schlang ihre Arme um den Hals der Mutter. "Vergib! Ich wollte dir den morgigen Tag, der so bedeutungsvoll für dich ist, nicht verderben. Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen wie in den letzten Wochen, seit Warnitz so viel Liebe in dein Leben bringt.
Ich mache dir auch keinen Vorwurf, daß du nun zu dem Mann deiner Liebe gehst. Du bist ja noch so jung mit deinen zweiundvierzig Jahren. Aber dein Glück hat mir die Augen geöffnet, hat mir so recht zum Bewußtsein gebracht, wie unglücklich ich bin."
"Stepha - gibst du dich zufrieden, wenn ich Friedrich bitte, morgen nicht auf mich zu warten? Ich sage alles ab, die Hochzeit - die Gäste -"
"Nein! Nein! Bitte nicht, Mama! Ich würde meines Lebens nicht
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wieder froh werden, zumal Warnitz stets so gut zu mir ist - so sehr gut. Warum sollst nicht wenigstens du glücklich sein? Bitte, Mama, vergiß meine wirren Reden und versprich mir, daß du morgen Warnitz' Frau wirst!"
"Wenn es dich beruhigt, Stepha, dann soll alles beim alten bleiben, obschon ich mit dem schmerzlichen Wissen Friedrichs Frau werde, daß du mich gerade jetzt sehr nötig brauchst."
"Nein, Mama!" Stepha fuhr heftig auf. "Sei lieb! Ich brauche nichts als Ruhe, viel Ruhe. Mach dir also keine Sorgen mehr und denk an dein Glück, für das ich jeden Abend beten werde."
Drei Tage später.
Stepha Witt war wieder ruhig geworden. Sie ging durch die Wohnung, von Zimmer zu Zimmer, und sah, daß alles wieder an Ort und Stelle stand. Zwei Tage war nun schon die Mama mit ihrem Mann auf der Hochzeitsreise! Sie gönnte der Mutter das späte Glück von Herzen; aber sie seufzte doch hinter ihr her.
Zwei Karten hatte sie schon erhalten, aus Berlin und München. Und hinter jedem Gruß stand die ängstliche Frage: "Wie geht es dir, Stepha?"
Nun, bis jetzt ging es ihr gut. Klaus hatte ihr Ruhe gelassen, so daß sie wieder mit sich ins reine gekommen war. Aber heute würde er auf ihre Gesellschaft Anspruch erheben; das fühlte sie. Die Unruhe trieb sie deshalb von Zimmer zu Zimmer.
Mit Händen und Füßen hatte sie sich gesträubt, mit in die große Villa an der Stadtgrenze zu ziehen. Sie hatte die Mutter so lange bestürmt, in der alten Wohnung bleiben zu dürfen, bis sie nachgegeben hatte.
Dritter im Bunde wollte Stepha nicht sein. Die Mama mußte sich ja selber erst an die neuen Verhältnisse gewöhnen. Sie war nun nicht mehr die arme Witwe, sondern die Frau des wohlhabenden Friedrich Warnitz.
Der Fernsprecher riß sie aus ihren Grübeleien.
Erschrocken ging sie an den Apparat und meldete sich.
"Klaus - bist du es?"
"Ja, Stepha, hier Stoltenbeck!" Die tiefe Stimme des Verlobten schlug an ihr Ohr. "Nun - ist das junge Paar fort? War die Hochzeit schön?"
"Gewiß, Klaus - es war sehr schön", erwiderte sie, so ruhig sie es vermochte.
"Bist du böse, Kleines? Ich konnte wirklich nicht abkommen. Mama wird es mir gewiß nicht übelgenommen haben."
"Bestimmt nicht, Klaus!" beruhigte sie ihn. "Hast du einen besonderen Wunsch?"
"Ich habe nur den einen Wunsch, dich heute zu sehen, zu sprechen."
"Bestimme nur", fiel sie ihm rasch ins Wort.
"Halte dich für neunzehn Uhr bereit, Stepha! Der Chauffeur holt dich ab. Pünktlich sein - du weißt!"
"Ich bin pünktlich, Klaus", sagte sie müde. Sie kannte die bestimmte, fordernde Art des Verlobten - alles hatte sich seinen Anordnungen zu fügen - und sie hatte sich damit abgefunden.
"Auf Wiedersehen!"
Ohne die berauschende Freude, die jede Frau in sich trägt, wenn der Geliebte sie ruft, ging Stepha in ihr Schlafzimmer und legte sich ihre Sachen zurecht.
Als es zehn Minuten vor der verabredeten Zeit war, bestieg sie den Wagen, der schon vor dem Haus wartete.
Pünktlich betrat sie das Hotel, in dem Klaus Stoltenbeck sie erwartete. Wie stets, wenn sie den Schritt in die große Welt setzte, verwirrte sie auch heute die flimmernde Helle des weiten, eleganten Raumes.
Als sie in dem Speisesaal erschien, erhob sich Klaus Stoltenbeck. Hochgewachsen, breitschultrig, mit hellen Augen, selbstbewußt und beherrscht bis in die Fingerspitzen, stellte Stepha fest, während sie ihm entgegenging.
"Guten Abend, Kleines! Pünktlich wie immer; das schätze ich an dir", begrüßte er sie. Dabei umschloß er ihre lichte Erscheinung mit einem aufleuchtenden Blick und führte ihre Hand an seinen Mund. "Ausgeschlafen von den anstrengenden Tagen?"
Aber er schien gar keine Antwort zu erwarten, denn sobald er ihr gegenübersaß, blickten seine Augen schon wieder kühl an ihr vorbei. "Ich habe bereits gewählt. Es ist dir doch recht?"
"Selbstverständlich! Übrigens - ich soll dich von Mama und Warnitz grüßen."
"Danke, Stepha! Wir werden es ihnen bald nachmachen."
Er griff nach seinem Notizbuch und blätterte darin. "Wie denkst du über Anfang Mai? Das wäre in vier Wochen."
Stepha nickte nur; sprechen konnte sie nicht. Da war wieder die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte.
Er schien auch keinen Widerspruch zu erwarten, denn er fuhr gleich fort:
"Weshalb sollte es dir auch nicht recht sein, so bald wie möglich Frau Stoltenbeck zu werden? Du wirst damit eine der angesehensten Frauen Hamburgs und spielst eine große Rolle in der Gesellschaft. Ich bin überzeugt, daß du dich schnell an das Neue gewöhnen wirst; du machst ja einen großen Schritt nach oben."
Dabei lächelte er sie an und sah mit heimlicher Freude, wie sich ein dunkles Rot von dem weißen Hals bis hinauf in die helle Stirn ergoß.
"Ich weiß die Ehre, Frau Stoltenbeck zu werden, wohl zu schätzen", erwiderte sie und beugte sich tiefer über ihren Teller.
"Nun dann - auf unsere Zukunft, Kleines!" Er hielt ihr sein Glas entgegen. Stepha aber dachte, während sie ihm Bescheid tat: Er spricht nur von unserer Zukunft. Vielleicht verlangt er von mir gar nicht die große, himmelstürmende Liebe. Vielleicht ist seiner kühlen Natur jeder Gefühlsausbruch verhaßt. Ich werde noch viel lernen müssen, um mich ihm anzupassen.
"Übrigens", fuhr er fort, als er sein Glas wieder abgesetzt hatte, "mein Bruder kommt in den nächsten Tagen. Du kennst ihn ja, wenn auch nur flüchtig. Dieter ist ganz das Gegenteil von mir: lebenslustig, ein Brausekopf voll unverwüstlichen Humors. Ihr werdet bestimmt Freunde werden."
"Ich hoffe es", meinte sie leise und erschrak über die Gleichgültigkeit, mit der sie alles betrachtete, was ihn betraf.
Wärmer setzte sie deshalb hinzu: "Ich werde mir jedenfalls Mühe geben."
In seinen Augen aber lag etwas wie Angst, als er ihre Finger hart umspannte und meinte:
"Vor allem halte dein Herz fest, Stepha." Er versuchte zu scherzen. "Dieter galt von jeher als unwiderstehlich. Und er ist auch nie als Kostverächter an den Frauen vorübergegangen. Er war stets aller Liebling - auch der meiner Mutter."
"Aber ihr seid doch Zwillingsbrüder, nicht wahr?" fiel sie ihm, überrascht von dem ernsten Ton, in dem er das sagte, rasch ins Wort.
"Ja - wir sind Zwillinge. Dieter gleicht mir wie ein Ei dem anderen. Aber nur im Äußeren - im Charakter sind wir grundverschieden."
Schweigen. Nach einer Weile fragte Stepha nachdenklich: "Dann - dann ist er wohl leichtsinnig ... leichtlebiger ... zumal du ihn nach Südamerika geschickt hast?"
"Leichtsinnig war Dieter nie", gab er wahrheitsgemäß zur Antwort. "Aber er ist ein Sonnenmensch. Alles, was ich mir schwer erkämpfen mußte: Erfolg, Zuneigung, das flog ihm ohne Mühe zu. Ja, manchmal habe ich ihn deswegen förmlich gehaßt."
Stepha legte ihre Hände im Schoß zusammen. Wie er so vor ihr saß, die Stirn in düstere Falten gezogen, den Blick ins Ungewisse gerichtet, fürchtete sie sich vor ihm. Er haßte den Bruder? Dann bedeutete dessen Reise nach Südamerika gewiß eine Art Verbannung. Dieter hatte ihm wohl bei irgend etwas im Wege gestanden und weichen müssen.
Sie fühlte in diesem Augenblick Mitleid mit Klaus und Erbarmen mit seinem Bruder, der fern von der Heimat sein Leben verbringen mußte. Doch jetzt kam er heim.
"Marion!" rief Erich Vollmer entsetzt und umklammerte vor Schreck die Brüstung der Terrasse.
Die Reiterin kam in diesem Augenblick über den zweiten Zaun gesprengt, steuerte geradewegs auf die Terrasse zu, riß aber dicht davor das Pferd herum und verschwand auf dem Seitenweg zu den Stallungen.
Nach zehn Minuten stieg Marion Vollmer, die Gerte schwingend, die Stufen der Terrasse empor.
"Morgen, Papa!" grüßte sie kurz und stellte sich wortlos an die Brüstung. Der schmale, rassige Körper bebte in ungeheurer Erregung. Jeder Muskel schien noch angespannt zu sein.
Vollmer beobachtete sie unausgesetzt. Schließlich legte er den Arm um ihre Schulter. In seine Stimme zwang er Härte.
"Von heute an unterbleiben diese tollen Ritte, Marion! Furchtbar ist mir der Gedanke, daß man dich eines Tages mit zerschmetterten Gliedern heimbringen könnte. Ich verbiete dir hiermit diese stundenlangen Ausritte; du kannst niemals maßhalten, Marion."
Achselzuckend entwand das Mädchen sich seiner Umarmung und ließ sich gleichmütig am Tisch nieder.
"Ich will deinem Wunsche nachkommen, Papa. Ich werde meine Ritte aufgeben und dafür - reisen!"
Vollmer war verblüfft.
"Schon wieder eine neue Laune, Kind? Reisen? Und wohin, bitte?"
Marion straffte den jungen Körper.
"Nach Deutschland - Dieter Stoltenbeck nach", kam es rauh über ihre Lippen. Dabei füllten sich ihre großen dunklen Augen mit Tränen, und plötzlich lag ihr Kopf auf dem Tisch. Ihre Schultern zuckten vom Schluchzen.
Das Donnerwetter, das Vollmer Marion zugedacht hatte, blieb ihm im Halse stecken. Sein wildes Mädel, das einem tollen Jungen glich und jede Gefahr lächelnd überwand - weinte?
Hilflos strich er über den dunklen Wuschelkopf.
"Kind, so sehr liebst du ihn?"
Marion riß den Kopf in die Höhe.
"Ja - so sehr liebe ich ihn!" kam es bitter über ihre Lippen. "So sehr, daß ich meinen Stolz begrabe und ihm nachreise. Ich kann nicht leben ohne ihn."
"Und glaubst du, daß ein Dieter Stoltenbeck dich lieben wird, wenn du ihm nachreist?" fragte er ungläubig.
Da fuhr Marion leidenschaftlich auf: "Er wird von meiner Liebe überzeugt sein! Bis jetzt glaubt er noch, daß es mir nicht ernst ist. Ich werde ihn zwingen, das Gegenteil festzustellen."
Der alte Eigenwille! dachte Vollmer besorgt. So war nun Marion. Nichts konnte sie sich versagen, auf nichts verzichten. Aber das Leben gibt nichts freiwillig. Alles muß man sich erkämpfen.
Vollmer lächelte leicht. Nun ja, sein Mädel wollte ja kämpfen um den Mann ihrer Liebe, den die Sehnsucht nach der Heimat getrieben hatte. Keinem hätte er sein Mädel lieber anvertraut als diesem tatkräftigen, zielbewußten Mann. Aber - ob Marion zu ihm paßte? War sie nicht doch zu flattrig für ihn?
"Gut!" sagte er dann entschlossen und setzte damit seinen Gedanken ein Ziel. "Ich hindere dich nicht, Marion; du kannst nach Deutschland reisen - zu deinem Dieter."
Mit hellem Aufschrei warf sie sich an seine Brust, schlang die Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
Da wirbelte sie auch schon ins Haus, pfiff nach Stanja, der alten Dienerin, und befahl ihr, die Koffer zu packen.
"Wir reisen, Stanja - du wirst mich begleiten. Wir fahren weit übers Meer - nach Deutschland", hörte Vollmer sie jubeln.
Glückliche, beneidenswerte Jugend - sann er - die sich nicht unterkriegen läßt, die bereit ist, zu kämpfen für ein Ziel - für ihre Liebe!
Wie ein Schatten huschte Armand über die Planken des Achterdecks, wo ein einsamer Mann gedankenverloren an der Reling lehnte und über das Meer blickte.
"Herr, Sie sollen sich endlich schlafen legen. Schon viele Nächte haben Sie gewacht. Bald sind wir in der Heimat", sprach die gütige Stimme aus dem Dunkel heraus zu Dieter Stoltenbeck.
Dieter fuhr herum und legte seinem Getreuen die Hand auf die Schulter.
"Ja, Armand, die Heimat und die Liebe brennen mir wie Feuer in den Adern. Ich sehne mich nach beiden unsagbar - und doch habe ich Angst, sie wiederzusehen; kannst du dir das vorstellen?"
Er ließ seine Hand nicht von Armands Schulter, als er neben ihm das Deck verließ und seiner Kabine zuschritt.
"Es ist großes Unrecht, Armand. Ich weiß es, und doch kann ich nicht gegen dieses übermächtige Gefühl an. Vielleicht würde ich es noch Jahre hindurch drüben ausgehalten haben, wer weiß - wenn ich nicht Tag und Nacht Stephas Bild im Herzen getragen hätte. So aber hatte ich keine Ruhe, keine Freude mehr in der Fremde.
Ja, ja - Armand, nun schüttelst du sorgenvoll den Kopf. Es ist aber so", fuhr der sonst so verschlossene Dieter Stoltenbeck sinnend fort. "Ich liebe die Braut meines Bruders - ich liebe Stepha Witt. Nur die Sehnsucht nach ihr treibt mich in die Heimat. Aber fast wünsche ich, daß ich von ihr enttäuscht wäre, damit die heimliche Qual ein Ende findet."
Sie waren vor Stoltenbecks Kabine angekommen. "Komm mit zu mir, Armand - wir trinken noch ein Gläschen."
Schweigend gehorchte der alte Diener. Das Herz war ihm schwer von Sorge um den geliebten Herrn.
Wie oft hatte sich in letzter Zeit nicht diese Aussprache wiederholt? Dieter brauchte ja einen Menschen, zu dem er von seiner großen Liebe sprechen konnte.
So geschah es auch heute. Während sie Schluck um Schluck tranken, schüttete Dieter Stoltenbeck sein Herz dem Vertrauten aus, der ihn aus der Heimat hinüber in das fremde Land begleitet hatte und der jetzt nicht von seiner Seite wich.
Auch heute trennten sie sich erst, als der Morgen dämmerte. Geräuschlos, wie es Armands Art war, zog er die Tür hinter sich zu und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.
Dann krampften sich seine zitternden Finger ineinander. "Herrgott - führe es zu einem guten Ende! Einmal schon hat Klaus den Bruder in die Verbannung geschickt. Ich weiß nicht, was er ein zweites Mal mit ihm machen würde, wenn etwas Schlimmes geschähe."
Klaus Stoltenbeck war Dieter entgegengefahren. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Bruder in Bremerhaven willkommen zu heißen.
Es war kein wortreiches Wiedersehen gewesen, aber doch war es herzlich.
Dieter fand den Bruder offener, wärmer. Stepha, dachte er, hat das Wunder fertiggebracht. Klaus jedoch verbarg sein Erstaunen hinter einer unbeweglichen Miene. Der Bruder war reifer, männlicher geworden. Sogar die Augen, die die Mutter einst Sonnenaugen genannt hatte, entbehrten jetzt ihren strahlenden Glanz.
"Bist du allein?" fragte Dieter nach der Begrüßung.
"Ja, Dieter!" Klaus blickte verwundert auf. An Stepha dachte er in diesem Augenblick nicht. Und er sah auch nicht das sichtbare Aufatmen des Bruders, da er sich schon an den abseits stehenden Armand gewandt hatte.
Noch eine Gnadenfrist, dachte Dieter. Doch innerlich fieberte er der ersten Begegnung mit Stepha entgegen.
"Wir fahren sofort weiter", meinte Klaus.
"Wollen wir nicht lieber heute noch hierbleiben und morgen erst heimfahren?" schlug Dieter vor.
"Ausgeschlossen, Dieter!" widersprach Klaus. "Morgen findet eine wichtige Sitzung statt, bei der ich keineswegs fehlen darf. Es ist nicht die erste Nacht, die ich mir um die Ohren schlage."
Eine Stunde später saßen sie bereits in Klaus Stoltenbecks Wagen. Dieter lehnte neben dem Bruder. Armand saß auf dem Rücksitz. Zuerst plauderten sie munter drauflos. Es gab viel zu berichten, zu erklären, während sich der Wagen Kilometer um Kilometer durch die Landschaft fraß, immer tiefer hinein in das Dunkel der Nacht. Allmählich aber wurde es stiller zwischen den Brüdern.
Ein leichter Nebel stieg auf und machte zeitweise die Sicht fast unmöglich, so daß Klaus' ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen war.
Dieter wehrte sich vergeblich gegen die ihn anfallende Müdigkeit. Langsam glitt er hinüber in ein traumhaftes Hindämmern.
Unentwegt saß Klaus am Steuer.
Ich hätte doch Dieters Rat befolgen sollen, überlegte er, als auch ihn bleierne Müdigkeit anfiel. Ein Telefongespräch hätte meine Abwesenheit entschuldigen können.
Allmählich lichtete sich der Nebel. Dafür aber klatschte dichter Regen gegen die Windschutzscheibe. Der Wischer pendelte gleichmäßig nach rechts und links.
Klaus' Blick war starr geradeaus gerichtet und bohrte sich gleich den Lichtern seines Wagens in das Dunkel.
Plötzlich schien der Wischer stehenzubleiben ... er veränderte sich zusehends, wurde größer und größer - wuchs ins Riesenhafte.
Haltsuchend umklammerte Klaus Stoltenbeck das Lenkrad fester. Er wollte es zwingen, kämpfte verzweifelt gegen das ihn überkommende Schwindelgefühl an.
Dann sank sein Kopf kraftlos auf die Brust herab.
"Dieter!" keuchte er.
Dieter Stoltenbeck blickte verwirrt um sich und sah den Bruder zusammengesunken über das Lenkrad gebeugt. Sofort wurde er hellwach.
"Fuß vom Gaspedal!" schrie er.
Das nächste war das Werk eines Augenblicks: ein wuchtiger Schlag - Krachen und Splittern - angstgepeitschter Aufschrei - noch einer ... Dann senkte tiefe Nacht sich über Dieter Stoltenbecks Denken herab.
"Wenn es dich beruhigt, Stepha, dann soll alles beim alten bleiben, obschon ich mit dem schmerzlichen Wissen Friedrichs Frau werde, daß du mich gerade jetzt sehr nötig brauchst."
"Nein, Mama!" Stepha fuhr heftig auf. "Sei lieb! Ich brauche nichts als Ruhe, viel Ruhe. Mach dir also keine Sorgen mehr und denk an dein Glück, für das ich jeden Abend beten werde."
Drei Tage später.
Stepha Witt war wieder ruhig geworden. Sie ging durch die Wohnung, von Zimmer zu Zimmer, und sah, daß alles wieder an Ort und Stelle stand. Zwei Tage war nun schon die Mama mit ihrem Mann auf der Hochzeitsreise! Sie gönnte der Mutter das späte Glück von Herzen; aber sie seufzte doch hinter ihr her.
Zwei Karten hatte sie schon erhalten, aus Berlin und München. Und hinter jedem Gruß stand die ängstliche Frage: "Wie geht es dir, Stepha?"
Nun, bis jetzt ging es ihr gut. Klaus hatte ihr Ruhe gelassen, so daß sie wieder mit sich ins reine gekommen war. Aber heute würde er auf ihre Gesellschaft Anspruch erheben; das fühlte sie. Die Unruhe trieb sie deshalb von Zimmer zu Zimmer.
Mit Händen und Füßen hatte sie sich gesträubt, mit in die große Villa an der Stadtgrenze zu ziehen. Sie hatte die Mutter so lange bestürmt, in der alten Wohnung bleiben zu dürfen, bis sie nachgegeben hatte.
Dritter im Bunde wollte Stepha nicht sein. Die Mama mußte sich ja selber erst an die neuen Verhältnisse gewöhnen. Sie war nun nicht mehr die arme Witwe, sondern die Frau des wohlhabenden Friedrich Warnitz.
Der Fernsprecher riß sie aus ihren Grübeleien.
Erschrocken ging sie an den Apparat und meldete sich.
"Klaus - bist du es?"
"Ja, Stepha, hier Stoltenbeck!" Die tiefe Stimme des Verlobten schlug an ihr Ohr. "Nun - ist das junge Paar fort? War die Hochzeit schön?"
"Gewiß, Klaus - es war sehr schön", erwiderte sie, so ruhig sie es vermochte.
"Bist du böse, Kleines? Ich konnte wirklich nicht abkommen. Mama wird es mir gewiß nicht übelgenommen haben."
"Bestimmt nicht, Klaus!" beruhigte sie ihn. "Hast du einen besonderen Wunsch?"
"Ich habe nur den einen Wunsch, dich heute zu sehen, zu sprechen."
"Bestimme nur", fiel sie ihm rasch ins Wort.
"Halte dich für neunzehn Uhr bereit, Stepha! Der Chauffeur holt dich ab. Pünktlich sein - du weißt!"
"Ich bin pünktlich, Klaus", sagte sie müde. Sie kannte die bestimmte, fordernde Art des Verlobten - alles hatte sich seinen Anordnungen zu fügen - und sie hatte sich damit abgefunden.
"Auf Wiedersehen!"
Ohne die berauschende Freude, die jede Frau in sich trägt, wenn der Geliebte sie ruft, ging Stepha in ihr Schlafzimmer und legte sich ihre Sachen zurecht.
Als es zehn Minuten vor der verabredeten Zeit war, bestieg sie den Wagen, der schon vor dem Haus wartete.
Pünktlich betrat sie das Hotel, in dem Klaus Stoltenbeck sie erwartete. Wie stets, wenn sie den Schritt in die große Welt setzte, verwirrte sie auch heute die flimmernde Helle des weiten, eleganten Raumes.
Als sie in dem Speisesaal erschien, erhob sich Klaus Stoltenbeck. Hochgewachsen, breitschultrig, mit hellen Augen, selbstbewußt und beherrscht bis in die Fingerspitzen, stellte Stepha fest, während sie ihm entgegenging.
"Guten Abend, Kleines! Pünktlich wie immer; das schätze ich an dir", begrüßte er sie. Dabei umschloß er ihre lichte Erscheinung mit einem aufleuchtenden Blick und führte ihre Hand an seinen Mund. "Ausgeschlafen von den anstrengenden Tagen?"
Aber er schien gar keine Antwort zu erwarten, denn sobald er ihr gegenübersaß, blickten seine Augen schon wieder kühl an ihr vorbei. "Ich habe bereits gewählt. Es ist dir doch recht?"
"Selbstverständlich! Übrigens - ich soll dich von Mama und Warnitz grüßen."
"Danke, Stepha! Wir werden es ihnen bald nachmachen."
Er griff nach seinem Notizbuch und blätterte darin. "Wie denkst du über Anfang Mai? Das wäre in vier Wochen."
Stepha nickte nur; sprechen konnte sie nicht. Da war wieder die Angst, die ihr die Kehle zuschnürte.
Er schien auch keinen Widerspruch zu erwarten, denn er fuhr gleich fort:
"Weshalb sollte es dir auch nicht recht sein, so bald wie möglich Frau Stoltenbeck zu werden? Du wirst damit eine der angesehensten Frauen Hamburgs und spielst eine große Rolle in der Gesellschaft. Ich bin überzeugt, daß du dich schnell an das Neue gewöhnen wirst; du machst ja einen großen Schritt nach oben."
Dabei lächelte er sie an und sah mit heimlicher Freude, wie sich ein dunkles Rot von dem weißen Hals bis hinauf in die helle Stirn ergoß.
"Ich weiß die Ehre, Frau Stoltenbeck zu werden, wohl zu schätzen", erwiderte sie und beugte sich tiefer über ihren Teller.
"Nun dann - auf unsere Zukunft, Kleines!" Er hielt ihr sein Glas entgegen. Stepha aber dachte, während sie ihm Bescheid tat: Er spricht nur von unserer Zukunft. Vielleicht verlangt er von mir gar nicht die große, himmelstürmende Liebe. Vielleicht ist seiner kühlen Natur jeder Gefühlsausbruch verhaßt. Ich werde noch viel lernen müssen, um mich ihm anzupassen.
"Übrigens", fuhr er fort, als er sein Glas wieder abgesetzt hatte, "mein Bruder kommt in den nächsten Tagen. Du kennst ihn ja, wenn auch nur flüchtig. Dieter ist ganz das Gegenteil von mir: lebenslustig, ein Brausekopf voll unverwüstlichen Humors. Ihr werdet bestimmt Freunde werden."
"Ich hoffe es", meinte sie leise und erschrak über die Gleichgültigkeit, mit der sie alles betrachtete, was ihn betraf.
Wärmer setzte sie deshalb hinzu: "Ich werde mir jedenfalls Mühe geben."
In seinen Augen aber lag etwas wie Angst, als er ihre Finger hart umspannte und meinte:
"Vor allem halte dein Herz fest, Stepha." Er versuchte zu scherzen. "Dieter galt von jeher als unwiderstehlich. Und er ist auch nie als Kostverächter an den Frauen vorübergegangen. Er war stets aller Liebling - auch der meiner Mutter."
"Aber ihr seid doch Zwillingsbrüder, nicht wahr?" fiel sie ihm, überrascht von dem ernsten Ton, in dem er das sagte, rasch ins Wort.
"Ja - wir sind Zwillinge. Dieter gleicht mir wie ein Ei dem anderen. Aber nur im Äußeren - im Charakter sind wir grundverschieden."
Schweigen. Nach einer Weile fragte Stepha nachdenklich: "Dann - dann ist er wohl leichtsinnig ... leichtlebiger ... zumal du ihn nach Südamerika geschickt hast?"
"Leichtsinnig war Dieter nie", gab er wahrheitsgemäß zur Antwort. "Aber er ist ein Sonnenmensch. Alles, was ich mir schwer erkämpfen mußte: Erfolg, Zuneigung, das flog ihm ohne Mühe zu. Ja, manchmal habe ich ihn deswegen förmlich gehaßt."
Stepha legte ihre Hände im Schoß zusammen. Wie er so vor ihr saß, die Stirn in düstere Falten gezogen, den Blick ins Ungewisse gerichtet, fürchtete sie sich vor ihm. Er haßte den Bruder? Dann bedeutete dessen Reise nach Südamerika gewiß eine Art Verbannung. Dieter hatte ihm wohl bei irgend etwas im Wege gestanden und weichen müssen.
Sie fühlte in diesem Augenblick Mitleid mit Klaus und Erbarmen mit seinem Bruder, der fern von der Heimat sein Leben verbringen mußte. Doch jetzt kam er heim.
"Marion!" rief Erich Vollmer entsetzt und umklammerte vor Schreck die Brüstung der Terrasse.
Die Reiterin kam in diesem Augenblick über den zweiten Zaun gesprengt, steuerte geradewegs auf die Terrasse zu, riß aber dicht davor das Pferd herum und verschwand auf dem Seitenweg zu den Stallungen.
Nach zehn Minuten stieg Marion Vollmer, die Gerte schwingend, die Stufen der Terrasse empor.
"Morgen, Papa!" grüßte sie kurz und stellte sich wortlos an die Brüstung. Der schmale, rassige Körper bebte in ungeheurer Erregung. Jeder Muskel schien noch angespannt zu sein.
Vollmer beobachtete sie unausgesetzt. Schließlich legte er den Arm um ihre Schulter. In seine Stimme zwang er Härte.
"Von heute an unterbleiben diese tollen Ritte, Marion! Furchtbar ist mir der Gedanke, daß man dich eines Tages mit zerschmetterten Gliedern heimbringen könnte. Ich verbiete dir hiermit diese stundenlangen Ausritte; du kannst niemals maßhalten, Marion."
Achselzuckend entwand das Mädchen sich seiner Umarmung und ließ sich gleichmütig am Tisch nieder.
"Ich will deinem Wunsche nachkommen, Papa. Ich werde meine Ritte aufgeben und dafür - reisen!"
Vollmer war verblüfft.
"Schon wieder eine neue Laune, Kind? Reisen? Und wohin, bitte?"
Marion straffte den jungen Körper.
"Nach Deutschland - Dieter Stoltenbeck nach", kam es rauh über ihre Lippen. Dabei füllten sich ihre großen dunklen Augen mit Tränen, und plötzlich lag ihr Kopf auf dem Tisch. Ihre Schultern zuckten vom Schluchzen.
Das Donnerwetter, das Vollmer Marion zugedacht hatte, blieb ihm im Halse stecken. Sein wildes Mädel, das einem tollen Jungen glich und jede Gefahr lächelnd überwand - weinte?
Hilflos strich er über den dunklen Wuschelkopf.
"Kind, so sehr liebst du ihn?"
Marion riß den Kopf in die Höhe.
"Ja - so sehr liebe ich ihn!" kam es bitter über ihre Lippen. "So sehr, daß ich meinen Stolz begrabe und ihm nachreise. Ich kann nicht leben ohne ihn."
"Und glaubst du, daß ein Dieter Stoltenbeck dich lieben wird, wenn du ihm nachreist?" fragte er ungläubig.
Da fuhr Marion leidenschaftlich auf: "Er wird von meiner Liebe überzeugt sein! Bis jetzt glaubt er noch, daß es mir nicht ernst ist. Ich werde ihn zwingen, das Gegenteil festzustellen."
Der alte Eigenwille! dachte Vollmer besorgt. So war nun Marion. Nichts konnte sie sich versagen, auf nichts verzichten. Aber das Leben gibt nichts freiwillig. Alles muß man sich erkämpfen.
Vollmer lächelte leicht. Nun ja, sein Mädel wollte ja kämpfen um den Mann ihrer Liebe, den die Sehnsucht nach der Heimat getrieben hatte. Keinem hätte er sein Mädel lieber anvertraut als diesem tatkräftigen, zielbewußten Mann. Aber - ob Marion zu ihm paßte? War sie nicht doch zu flattrig für ihn?
"Gut!" sagte er dann entschlossen und setzte damit seinen Gedanken ein Ziel. "Ich hindere dich nicht, Marion; du kannst nach Deutschland reisen - zu deinem Dieter."
Mit hellem Aufschrei warf sie sich an seine Brust, schlang die Arme um seinen Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
Da wirbelte sie auch schon ins Haus, pfiff nach Stanja, der alten Dienerin, und befahl ihr, die Koffer zu packen.
"Wir reisen, Stanja - du wirst mich begleiten. Wir fahren weit übers Meer - nach Deutschland", hörte Vollmer sie jubeln.
Glückliche, beneidenswerte Jugend - sann er - die sich nicht unterkriegen läßt, die bereit ist, zu kämpfen für ein Ziel - für ihre Liebe!
Wie ein Schatten huschte Armand über die Planken des Achterdecks, wo ein einsamer Mann gedankenverloren an der Reling lehnte und über das Meer blickte.
"Herr, Sie sollen sich endlich schlafen legen. Schon viele Nächte haben Sie gewacht. Bald sind wir in der Heimat", sprach die gütige Stimme aus dem Dunkel heraus zu Dieter Stoltenbeck.
Dieter fuhr herum und legte seinem Getreuen die Hand auf die Schulter.
"Ja, Armand, die Heimat und die Liebe brennen mir wie Feuer in den Adern. Ich sehne mich nach beiden unsagbar - und doch habe ich Angst, sie wiederzusehen; kannst du dir das vorstellen?"
Er ließ seine Hand nicht von Armands Schulter, als er neben ihm das Deck verließ und seiner Kabine zuschritt.
"Es ist großes Unrecht, Armand. Ich weiß es, und doch kann ich nicht gegen dieses übermächtige Gefühl an. Vielleicht würde ich es noch Jahre hindurch drüben ausgehalten haben, wer weiß - wenn ich nicht Tag und Nacht Stephas Bild im Herzen getragen hätte. So aber hatte ich keine Ruhe, keine Freude mehr in der Fremde.
Ja, ja - Armand, nun schüttelst du sorgenvoll den Kopf. Es ist aber so", fuhr der sonst so verschlossene Dieter Stoltenbeck sinnend fort. "Ich liebe die Braut meines Bruders - ich liebe Stepha Witt. Nur die Sehnsucht nach ihr treibt mich in die Heimat. Aber fast wünsche ich, daß ich von ihr enttäuscht wäre, damit die heimliche Qual ein Ende findet."
Sie waren vor Stoltenbecks Kabine angekommen. "Komm mit zu mir, Armand - wir trinken noch ein Gläschen."
Schweigend gehorchte der alte Diener. Das Herz war ihm schwer von Sorge um den geliebten Herrn.
Wie oft hatte sich in letzter Zeit nicht diese Aussprache wiederholt? Dieter brauchte ja einen Menschen, zu dem er von seiner großen Liebe sprechen konnte.
So geschah es auch heute. Während sie Schluck um Schluck tranken, schüttete Dieter Stoltenbeck sein Herz dem Vertrauten aus, der ihn aus der Heimat hinüber in das fremde Land begleitet hatte und der jetzt nicht von seiner Seite wich.
Auch heute trennten sie sich erst, als der Morgen dämmerte. Geräuschlos, wie es Armands Art war, zog er die Tür hinter sich zu und lehnte sich erschöpft gegen die Wand.
Dann krampften sich seine zitternden Finger ineinander. "Herrgott - führe es zu einem guten Ende! Einmal schon hat Klaus den Bruder in die Verbannung geschickt. Ich weiß nicht, was er ein zweites Mal mit ihm machen würde, wenn etwas Schlimmes geschähe."
Klaus Stoltenbeck war Dieter entgegengefahren. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Bruder in Bremerhaven willkommen zu heißen.
Es war kein wortreiches Wiedersehen gewesen, aber doch war es herzlich.
Dieter fand den Bruder offener, wärmer. Stepha, dachte er, hat das Wunder fertiggebracht. Klaus jedoch verbarg sein Erstaunen hinter einer unbeweglichen Miene. Der Bruder war reifer, männlicher geworden. Sogar die Augen, die die Mutter einst Sonnenaugen genannt hatte, entbehrten jetzt ihren strahlenden Glanz.
"Bist du allein?" fragte Dieter nach der Begrüßung.
"Ja, Dieter!" Klaus blickte verwundert auf. An Stepha dachte er in diesem Augenblick nicht. Und er sah auch nicht das sichtbare Aufatmen des Bruders, da er sich schon an den abseits stehenden Armand gewandt hatte.
Noch eine Gnadenfrist, dachte Dieter. Doch innerlich fieberte er der ersten Begegnung mit Stepha entgegen.
"Wir fahren sofort weiter", meinte Klaus.
"Wollen wir nicht lieber heute noch hierbleiben und morgen erst heimfahren?" schlug Dieter vor.
"Ausgeschlossen, Dieter!" widersprach Klaus. "Morgen findet eine wichtige Sitzung statt, bei der ich keineswegs fehlen darf. Es ist nicht die erste Nacht, die ich mir um die Ohren schlage."
Eine Stunde später saßen sie bereits in Klaus Stoltenbecks Wagen. Dieter lehnte neben dem Bruder. Armand saß auf dem Rücksitz. Zuerst plauderten sie munter drauflos. Es gab viel zu berichten, zu erklären, während sich der Wagen Kilometer um Kilometer durch die Landschaft fraß, immer tiefer hinein in das Dunkel der Nacht. Allmählich aber wurde es stiller zwischen den Brüdern.
Ein leichter Nebel stieg auf und machte zeitweise die Sicht fast unmöglich, so daß Klaus' ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen war.
Dieter wehrte sich vergeblich gegen die ihn anfallende Müdigkeit. Langsam glitt er hinüber in ein traumhaftes Hindämmern.
Unentwegt saß Klaus am Steuer.
Ich hätte doch Dieters Rat befolgen sollen, überlegte er, als auch ihn bleierne Müdigkeit anfiel. Ein Telefongespräch hätte meine Abwesenheit entschuldigen können.
Allmählich lichtete sich der Nebel. Dafür aber klatschte dichter Regen gegen die Windschutzscheibe. Der Wischer pendelte gleichmäßig nach rechts und links.
Klaus' Blick war starr geradeaus gerichtet und bohrte sich gleich den Lichtern seines Wagens in das Dunkel.
Plötzlich schien der Wischer stehenzubleiben ... er veränderte sich zusehends, wurde größer und größer - wuchs ins Riesenhafte.
Haltsuchend umklammerte Klaus Stoltenbeck das Lenkrad fester. Er wollte es zwingen, kämpfte verzweifelt gegen das ihn überkommende Schwindelgefühl an.
Dann sank sein Kopf kraftlos auf die Brust herab.
"Dieter!" keuchte er.
Dieter Stoltenbeck blickte verwirrt um sich und sah den Bruder zusammengesunken über das Lenkrad gebeugt. Sofort wurde er hellwach.
"Fuß vom Gaspedal!" schrie er.
Das nächste war das Werk eines Augenblicks: ein wuchtiger Schlag - Krachen und Splittern - angstgepeitschter Aufschrei - noch einer ... Dann senkte tiefe Nacht sich über Dieter Stoltenbecks Denken herab.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Karin Bucha
- 2005, 351 Seiten, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453490029
- ISBN-13: 9783453490024
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