Das Messer im Sumpf
Doch daraus wird nichts. Auf einer Kanutour durch...
Doch daraus wird nichts. Auf einer Kanutour durch die Everglades findet er die sorgältig verschnürte Leiche eines Kindes.
DasMesser im Sumpf von JonathonKing
LESEPROBE
2
»GütigerHimmel, nicht schon wieder.«
Immer nochblicke ich auf das im Mondlicht glänzende Gesicht des Kindes, das im Wasserschaukelt. Mein erster Gedanke ist: Du musst helfen. Mein zweiter: Hau ab, so schnelldu kannst. Mein dritter: Beruhige dich erst mal.
Der Lärmeiner Milliarde zirpender Grillen erfüllt die Stille. Ich atme die warme,feuchte Luft ein und zwinge mich zum Nachdenken. Ich bin eineinhalb Kilometervon meiner Hütte und gute vier Kilometer von der Ranger-Stationentfernt. Vor mir liegt ein totes Kind, und ich befinde mich an einem Tatort.Ich bin zu lange bei der Polizei gewesen, auch wenn ich schon vor zwei Jahrenden Dienst quittiert habe, und wenn ich während meines Rückzugs etwas gelernthabe, dann, dass man bestimmte Dinge nicht so einfach aus dem Kopf kriegenkann.
Ichbeginne, meine Gedanken zu organisieren, und gehe eine Liste durch. Das Bündelhat sich zwischen den Zypressenwurzeln verhakt - es kann durch die Strömungdorthin getrieben oder mit Absicht hier abgelegt worden sein. Die Leiche istsorgfältig und sauber eingewickelt, doch das Gesicht ist frei. Warum? Warummuss es herausschauen? Die Haut ist so blass, dass sie aussieht wiekonserviert, doch wer weiß, welche Wirkung das Brackwasser hatte. Und wenn dieLeiche mit dem Gesicht nach oben durchs Wasser getrieben war, war das Blutvielleicht nach unten gesackt.
Der Stoffbesteht aus reißfestem Nylon. Viel zu sauber, denke ich. Viel zu neu. Als ichmit dem Paddel das Bündel vorne berühre, blicke ich wieder in das Gesicht understarre. Das ist ein Tatort, sage ich mir. Sollen ihn doch die zuständigenFachleute untersuchen. Du kannst hier ohnehin nichts ausrichten. Also ruf siean.
Es sindvier Kilometer stromabwärts, mindestens eine gute Stunde bis zur Ranger-Station am ThompsonsPoint. Cleve Wilson, der
In wenigenSekunden habe ich meinen Rhythmus gefunden. Das Paddel kräftig durchziehen,aber am Ende sanft anheben. Immer mit der gleichen Stärke und dem gleichenSchlag. Ich gleite durch den nassen Wald, bewege das Paddel nur in den scharfenKurven in die entgegengesetzte Richtung, in densanften nehme ich die Kraft zurück. Binnen weniger Minuten bin ich nassgeschwitzt, nehme mir aber nicht die Zeit, mir den Schweiß aus den Augen zuwischen, sondern schleudere die Tropfen mit einem schnellen Ruck des Kopfesfort. Ich kenne den Weg auswendig, und nach vierzig Minuten wird der Flussbreiter und krümmt sich nach Osten, Richtung Ozean. Das Dach aus Zypressenöffnet sich und bleibt hinter mir. Der Mond folgt. Ich achte nicht auf denSchmerz in Rücken und Schultern, sondern halte meinen Blick fest auf dienächste dunkle Silhouette von Mangroven gerichtet, die sich aus dem Wassererheben und die nächste Kurve ankündigen, auf die ich direkt zusteuere. Icharbeite mich von einem Punkt zum anderen vor. Nur so werde ich es schaffen.
Als ichhierher gekommen war, hatte ich etwas Stumpfsinniges und körperlich Ermüdendesgesucht. Ich hatte diese Sonderanfertigung eines Voyager-Kanus in klassischemHolzdesign gekauft, das zwar modern, aber mit seinen Rippen und der Holzrelingim alten Stil gebaut war. Ich hatte es zum Fluss gebracht und mir die Seele ausdem Leib gepaddelt. Ich hatte gehört, dass sich Athleten, Langstreckenläuferund Schwimmer in einen Zustand hineinarbeiten, in dem sie nichts mehr denken.Einfach in einen Rhythmus verfallen und die Welt um sich herum vergessen.
Doch ichschaffte das nicht. Schon bald hatte ich in meiner Abgeschiedenheit gemerkt,dass mein Vorhaben nicht funktionierte. Egal, ob ich Rhythmus oder Ruhe suchteoder nicht. Ich bin wie ein Schleifstein. Und die Felsbrocken, die sich inmeinen Kopf festgesetzt hatten, nachdem ich vor einem bis spät in die Nachtgeöffneten Laden ein Kind erschossen hatte, wirbelten immer wiederdurcheinander und sorgten dafür, dass ich die Sache nicht vergaß. Vielleichtwürden sich die scharfen Kanten mit der Zeit abwetzen, die Ecken etwas runderwerden. Aber vergessen? Unmöglich.
Ich dürftenoch vierzig Paddelschläge vom Landungssteg am ThompsonsPoint entfernt gewesen sein, als mir der Scheinwerfer mitten ins Gesichtleuchtete. Das letzte Stück von mehr als zwei Kilometern hatte ich in einerknappen halben Stunde bei einem regelmäßigen Takt von siebzig Schlägen proMinute zurückgelegt. Mein graues T-Shirt war schwarz vor Schweiß, und ich hatteschon nach der ersten Viertelstunde mit Seitenstechen zu kämpfen gehabt, dasich nur schwer unter Kontrolle bringen konnte.
Immer nochpaddelte ich dem Licht entgegen, als jemand etwas rief und zwei weitereLichtkegel auf mich gerichtet wurden. Mein Tempo und meinen Rhythmus behieltich bei, bis der Boden meines Kanus über den Kies am Anlegeplatz kratzte.
»Um Gotteswillen, Max! Mach mal langsam, Junge!«
CleveWilsons Gesicht war das Erste, was ich erkennen konnte, als er zum Ufer kam, ummich zu begrüßen.
»Wirwollten uns gerade auf den Weg zu dir machen«, erklärte er mit einemeigenartigen Klang in der Stimme, während sein Blick von rechts nach links überdie Anlegestelle zuckte.
Während ichmir den Schweiß aus den Augen schüttelte, konnte ich den Rest derFünf-Personen-Gesellschaft an der Anlegestelle erkennen - vier Männer und eineFrau. Zwei der Männer hatten dicke Bäuche und trugen die braune Uniform derFlorida Highway Patrol. Die anderen beiden wirktendagegen dünn. Sie hatten Segeltuchhosen und Oxford-Hemden mit hochgekrempeltenÄrmeln an. Der Jüngere fluchte auf Spanisch, als das Flusswasser in seineMokassins schwappte.
Die Frauwar so groß wie die vier Männer. Im Lichtschein bemerkte ich ihr blondes Haar,doch ich wendete den Blick ab. Die Nacht war schon mit zu vielen Erinnerungenangefüllt. Ich wollte nicht über das Beben nachdenken, das diese Haarsträhnenin meinem Herzen auslösten.
Als ichwieder zu Cleve sah, bemerkte ich sein Zögern. Ichüberlegte, ob sie bereits von der Kinderleiche wussten, als er mir dieErklärung lieferte.
»Wir warenschon auf dem Weg zum Damm rauf«, sagte er. »Diese Leute haben einen Tipperhalten, dass sie dort oben auf so was wie Hinweise zu den Ermittlungen stoßenwürden, an denen sie arbeiten.«
Clevesprach in seinem alten Florida-Slang, den er mir gegenüber in den erstenMonaten benützt hatte, als ich ihn gerade kennengelernthatte. Es war seine Art, Informationen zu sammeln, indem er sich selbst dummstellte und andere dazu verleitete, sich über seinen Kopf hinweg zuunterhalten. Er wollte mich den anderen vorstellen, als die Männer in denOxford-Hemden die Sache von sich aus in die Hand nahmen.
DetectivesMark Hammonds und Vincente Diaz, CountySheriffs bei einer Sonderkommission der Polizeibehörden von Florida. Hammonds trat vor und schüttelte mir in der typischen Arteines Geschäftsmannes die Hand, aber mit einem direkten Blick in die Augen -ein alter Trick beim Verhör, der einem das Gefühl gab, der andere könnte dortin irgendeinem Winkel die Wahrheit erkennen, ohne dass man eine Chance hätte,etwas zu verbergen. Genau so hatte ich selbst oft geschaut. Ich hielt seinemBlick stand, bis er blinzelte, dann trat ich einen halben Schritt zurück.
Hammondsgehörte zu den Typen, die einem immer zu verstehen geben, dass sie dieErmittlungen leiten, ohne es ausdrücklich sagen zu müssen. Er war dünn, überfünfzig und hatte müde Augen, doch er straffte die Schultern, um - wie vieleandere in seiner Position - größer zu wirken, als er war.
Diaz warschneller mit dem Händeschütteln. Er war ein gut aussehender, junger Latino, dem eine natürliche Freundlichkeit ins Gesichtgeschrieben stand. Gäbe es bei der Polizei stellvertretende Geschäftsführer,wäre er so einer. Immer bedacht darauf, zu lernen und zu gefallen. Er hattegroße, weiße Zähne, und auch wenn er es versuchte, schaffte er es nicht, einleichtes Lächeln zu unterdrücken.
Die Frauweigerte sich, näher ans Ufer zu treten, und als Hammondssie als Detective Richards aus Fort Lauderdalevorstellte, war auch ich darauf bedacht, mein Terrain zu sichern. Wir grüßtenuns mit einem Nicken. Sie hatte die Arme verschränkt, als wäre ihr kalt, obwohldie schwüle Nachtluft drückend über der Flusslandschaft hing. Die von einemWindhauch herübergewehte Parfümwolke passte überhaupt nicht hierher. Als ichmich zu den anderen umdrehte, spürte ich ihren Blick auf meinem Rücken.
»Dann hatalso jemand den Vorfall schon gemeldet?«, fragte ich schließlich Cleve, während ich mein Kanu höher ans Ufer hinaufzog.
»Was gemeldet?«,fragte Hammonds zurück.
»DasVerbrechen da draußen.« Mir war sofort klar, dass diese Nachricht für sie zwarnicht neu war, sie aber dennoch hart traf. Hammondspresste die Lippen aufeinander, und Diaz zuckte zusammen. Außerdem spürte ich,dass die Frau hinter mir instinktiv einen Schritt näher trat.
»Was fürein Verbrechen, Mr. Freeman?«, hakte Hammonds nach.
»Ein totesKind. Eingewickelt. Gleich oberhalb des Damms.«
Cleve warder Einzige, der wirklich schockiert war.
»Mein Gott,Max«, sagte er und blickte in die Runde.
»Schickenwir ein Team da raus«, ordnete Hammonds an, ohneseine Worte an jemand Speziellen zu richten, während er, sein kantiges Kinn indie Luft gereckt, aufs Wasser hinausblickte.
© Droemer Knaur
Übersetzung:Helmut Splinter
Autoren-Porträt von Jonathon King
NachdemJonathan King mehr als 20 Jahre als Journalist gearbeitet hatte, entdeckte ersein Faible für das Schreiben von Krimis. Sein Debut-Kriminalromangewann auf Anhieb den Edgar Award und war ein "LosAngeles Times" Bestseller. Jonathon King lebt mitseiner Frau und zwei Kindern in Florida.
- Autor: Jonathon King
- 2004, 361 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Helmut Splinter
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342662382X
- ISBN-13: 9783426623824
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