Das Prinzip Mensch
Ende einer abendländischen Utopie?
Nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts schien es allgemeiner Konsens zu sein, daß der Mensch und das von ihm getragene Prinzip der Menschlichkeit unantastbar sein müßten. Durch die Hintertür der Versprechen von Gentechnologie und Globalisierung...
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Produktinformationen zu „Das Prinzip Mensch “
Klappentext zu „Das Prinzip Mensch “
Nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts schien es allgemeiner Konsens zu sein, daß der Mensch und das von ihm getragene Prinzip der Menschlichkeit unantastbar sein müßten. Durch die Hintertür der Versprechen von Gentechnologie und Globalisierung schleicht sich jedoch eine Erosion der Idee des Menschlichen ein. Die Fronten sind mannigfaltig: Nicht nur werden die Grenzlinien zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Maschine, ja zwischen Mensch und Sache durchlässig. Guillebaud zeigt, wie zudem die schlimmsten Ideen des Sozialdarwinismus, der Eugenik, ja bis hin zur Sklaverei im scheinbar fortschrittlichen Denken überwintern konnten und nun mühelos ein beängstigendes ideologisches Unterfutter für die neuen biotechnologischen Möglichkeiten bereitstellen. Guillebauds Analyse ist unbestechlich: Auch in den verstecktesten Argumentationen, in den unschuldigsten Beteuerungen reiner Wissenschaftlichkeit offenbart er die Verknüpfungen mit materiellen Interessen oder die wie auchimmer unbewusste Gefährdung des Prinzips Mensch. Für seine Bewahrung hat Guillebaud einen überraschenden Vorschlag parat: Erst wenn die Wissenschaft ein neues Bündnis mit den christlichen Grundwerten einzugehen bereit ist, stehen die Herausforderungen der Gentechnologie auf einem menschenwürdigen Fundament.
Lese-Probe zu „Das Prinzip Mensch “
Was geschieht mit uns?"Wir stehen heute vor einer Welt, die sich gerade erst entwickelt, eroberungswillig und beherrschend, dabei jedoch nicht Gefahr läuft, wie der Koloß auf tönernen Füßen zusammenzubrechen, sondern vielmehr jene schleichende Verrohung herbeizuführen, die durchaus das Gesicht der neuen Katastrophe nach der Shoah werden könnte." Jacques Hassoun
Wir haben es mit einem verblüffenden Paradox zu tun: einer unsichtbaren Logik, die uns Tag für Tag ein weiteres Stück Teppich unter den Füßen wegzieht. Unsere Gesellschaften werden hinterrücks angegriffen, ohne es zu ahnen, und unser Denken ist orientierungslos geworden, wie eine versprengte Armee im Nebel. Die Werte, die Begriffe, die demokratischen Ziele, die wir vertreten, werden von ihrem Fundament her ausgehöhlt. Eine Art ontologische Schizophrenie droht uns im Hinblick auf die Bedeutung der Worte und Dinge. Sehen wir uns genauer an, was es damit auf sich hat: Was sind die beiden Seiten dieser sonderbaren Medaille?
Auf der Vorderseite ist die Sache klar. Wir glauben - zu Recht! - an die Menschenrechte. Wir sind überzeugt, daß ihr Siegeszug am Beginn eines neuen Jahrtausends nicht das Ende der Geschichte ankündigt, sondern die (jedenfalls vorläufige) Niederlage der Tyranneien und Despotien. Vorbei sind die Zeiten des Faschismus, Nazismus, Kommunismus, der mittelmäßigen Diktaturen, der unvermeidlichen Fremdbestimmung. Die optimistischeren Zeitgenossen - zu denen auch ich gehöre - wittern schon den möglichen Anbruch eines neuen Zeitalters der Aufklärung, das sich diesmal über die ganze Erde erstreckt. Die Idee ist weder abwegig noch unberechtigt.
Diese Überzeugung und diese Hoffnung leiten jedenfalls unsere Rechtsprechung, unsere Presse, unseren politischen Diskurs. Auf allen Ebenen verlangen wir das Primat von Freiheit und Menschenwürde. Keine todbringenden Staatsgewalten, keine Zwangszugehörigkeiten, keine Unterdrückung von Minderheiten mehr: Die Menschenrechte sind der letzte Horizont, auf
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den wir einmütig den Blick richten. Das reicht zwar noch nicht, ist aber zweifellos notwendig. Über das zu Ende gegangene zwanzigste Jahrhundert mit seinem Wahnsinn, seinen Lagern, seinen anmaßenden Ideologien soll sich möglichst ewiges Vergessen legen: Nie wieder! Nach unserer Vorstellung wird das künftige Maß aller Dinge der emanzipierte und auf friedliche Weise selbstbestimmte Mensch sein. Deshalb runzeln wir heute die Stirn, sobald auch nur ein einziges dieser "Rechte" in Frage steht.
Gleichzeitig ist unser aller Bewußtsein für mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschärft: Vergehen, die den Mord an Menschen noch mit der Leugnung des Menschlichen krönen, die das Massaker um des Massakers willen verüben. Auf diesem Gebiet ist unsere Erinnerung noch frisch. Um Gemetzel, Vernichtung und unmenschliches Elend für immer zu verbieten und die Gefahr eines Rückfalls auszuschließen, streben wir eine neue internationale Rechtsprechung mit entsprechenden Gerichten und Strafkategorien an, über deren Anwendung dann eine eigene "Polizei" zu wachen hätte. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit halten wir Waffengewalt für angebracht: Bosnien, Ruanda, Kosovo ... Die Wachsamkeit an dieser Front, meinen wir, rechtfertigt eine Neubewertung der traditionellen Kategorien von Realpolitik, vielleicht den Verzicht darauf: abgeriegelte Nationalstaaten, geschlossene Grenzen, allmächtige Staatshoheit, Staatsräson ...
Wir fordern eine regelrechte "Umwertung der politischen Werte", um Nietzsche zu paraphrasieren. Auf einem Planeten, der langsam zusammenwächst, ist keine "nationale Hoheit" mehr legitim, solange unter diesem Deckmantel der Schrecken des Verbrechens gegen die Menschlichkeit weiterbesteht. Wer mit Sorge die traditionellen Vertreter der Diplomatie, der Geopolitik und des internationalen Rechts dabei verschwinden sieht, wer über dieses zivilisatorische Sendungsbewußtsein spottet, dem halten wir das unmittelbare - und fernsehübertragene - Grauen entgegen. Hat der Verzicht auf den vorsichtigen Zynismus von einst nicht absoluten Vorrang, wenn es darum geht, die Entstehung einer globalen Moral zu beschleunigen? "Die Eroberung der Menschenrechte schließt auch etwas Absolutes mit ein", kommentierte eine der besten französischen Juristinnen auf diesem Gebiet. "Es ist nötig, unverrückbare Grenzen zu setzen, die juristisch 'unantastbare Rechte' und 'unverjährbare Verbrechen' heißen. Diese absoluten Grenzen müssen Anwendung finden."
Menschenrechte auf der einen Seite, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der anderen: Diese sinnbildlichen Kategorien sind also die beiden Pole, der positive und der negative, der Moderne geworden. Das ist es eigentlich, worüber wir ständig reden. Das ist fortan der Konsens. Davon nährt sich unser gutes Gewissen, darauf stützt sich der Rest unseres historischen Optimismus. Soviel zur Vorderseite der Medaille.
Eine Neudefinition des Menschen?
Die Kehrseite ist beunruhigender. Während wir argumentieren und moralische Betrachtungen anstellen, hören wir hinter unserem Rücken das Raunen grundsätzlicher Fragen, die wir vorläufig lieber ausblenden. Was eigentlich ist der Mensch? Was bedeutet der Begriff "Menschlichkeit"? Kann sich diese Vorstellung nicht vielleicht ändern oder weiterentwickeln? Das Beunruhigende daran ist, daß diese neue Infragestellung humanistischer Prinzipien nicht wie früher von barbarischen Diktatoren oder aufgeklärten Despoten formuliert wird, sondern von der Wissenschaft selbst, der Wissenschaft in ihren neuen Erscheinungsformen. Als wäre es der Tribut, den man ihren atemberaubenden Verheißungen zollen müßte, heißt es: Man muß den Menschen in Frage stellen, um ihn effizienter heilen zu können ... Von der Biologie bis zu den Neurowissenschaften, von der Genetik bis zur kognitiven Forschung ist ein großer Teil der heutigen Intelligenz damit beschäftigt, die Gewißheiten, an die wir uns heute noch klammern, zu untergraben. Noch verbirgt sich dieser ungeheure Widerspruch hinter einem Dickicht aus Worten, doch das Dickicht lichtet sich.
Wenn wir den zahllosen Debatten in der Presse wie vor Gericht, ausgelöst durch die Fortschritte in den Biowissenschaften - Klonierung, medizinisch unterstützte Fortpflanzung, Embryonenforschung, Genmanipulation, Organtransplantation, Neuroprothetik -, wenn wir diesen Debatten mit größerer Aufmerksamkeit zuhören, stellen wir fest, daß ihnen allen ein und dieselbe Frage zugrunde liegt. Sie ist so radikal, so "gewaltig", daß sie das Denken ins Stocken geraten läßt, die Rechtsprechung zum Stammeln bringt, die Richter in Verwirrung stürzt: Wo ist denn die wahre Grenze des Menschlichen, wie soll die Menschlichkeit des Menschen definiert werden? Mit anderen Worten, was unterscheidet den Menschen von der übrigen Natur? Woran ließe sich die Einzigartigkeit der Spezies Mensch noch verankern, nachdem heute alles darauf hinwirkt, diese Einmaligkeit in der grenzenlosen biogenetischen Vielfalt des Lebens "wissenschaftlich" aufzulösen?
Unter den neuen Debatten findet sich keine einzige, die nicht auf diese wesentliche Frage hinausläuft und dieselbe dumpfe Unruhe auslöst. Führt uns die Genetik nicht de facto zu einer unterschiedslosen Gemeinschaft von Mensch und Tier? Arbeiten die kognitiven Wissenschaften nicht an der Hypothese vom Gehirn als Computer oder einer möglichen künstlichen Intelligenz, also am Nachweis der Verwandtschaft zwischen Mensch und Maschine? Fordert die Molekularphysik nicht eine grundsätzliche Kontinuität der Materie an sich, der lebenden Materie, die auch den Menschen mit einschließt? Bald werden wir mit leeren Händen dastehen und nicht mehr wissen, wie wir den Menschen definieren sollen. Vielleicht wissen wir es heute schon nicht mehr.
Das ist die wahre Natur der begrifflichen Revolution - des "Paradigmenwechsels", werden die Besserwisser sagen -, deren stumme Zeugen wir sind. Noch ist jeder auf der Suche nach den richtigen Worten, um die Revolution, den Wandel für sich persönlich eindeutig zu benennen. Hier ließen sich nach Belieben Zitate anführen. "Neu ist", schreibt beispielsweise Paul Ricoeur, "daß der Mensch heute eine Bedrohung für sich selbst geworden ist, weil er das Leben, das ihn trägt, und die Natur, in deren Schutz er einst die Mauern seiner Städte errichtet hat, in Gefahr bringt." Die Zukunftsaussichten, die auf uns einstürmen, setzen nicht mehr nur die mehr oder minder gerechte Organisation unserer Gesellschaften aufs Spiel, sondern die Prinzipien Mensch und Menschlichkeit schlechthin. In den letzten drei Jahrzehnten haben wir eine "Schwelle" überschritten, die Michel Foucault auf seine Weise vorausahnte, als er vor vierundzwanzig Jahren schrieb: "Aber die 'biologische Modernitätsschwelle' einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht."
Menschheit, Menschlichkeit, menschliche Gattung: Wir spüren ganz genau, daß sich hier ein Spalt unter unseren Füßen auftut. Vor dem angekündigten Abgrund erfaßt uns Schwindel. Wir nehmen einen unauflöslichen Gegensatz zwischen den "beiden Hälften" des modernen Denkens wahr. Wie können wir uns für die Menschenrechte einsetzen, wenn die Definition des Menschen von der Wissenschaft in Zweifel gezogen wird? Wie sollen wir Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden, wenn die Definition des Menschseins an sich problematisch ist? Dieses Paradox, das uns nicht erspart bleibt, hat nicht mehr viel gemein mit der traditionellen, gutmütigen und "freundlichen" Anhänglichkeit an den Humanismus alter Schule, diesem dick aufgetragenen Bürgersinn, in dem unsere politischen Redner noch heute schwelgen. Auch nicht mit dem bloßen ökologischen Schutz unseres Planeten gegen die Bedrohung durch das Ozonloch und die Klimaerwärmung.
Auf dem Spiel steht heute nicht mehr nur das "Überleben der Menschheit", also der Gesamtheit der menschlichen Bewohner des Planeten Erde, sondern auch, in jedem von uns, der Fortbestand der Humanität des Menschen, seiner Menschlichkeit: jener universalen Eigenschaft, die Kant als "Menschheit" - im Unterschied zur "Tierheit" - bezeichnete und die einen Menschen zur Person macht. "Zur Debatte steht", schreibt sehr anschaulich Maurice Bellet, "die Geburt der Menschlichkeit: Das heißt, daß das Menschliche des Menschen nicht selbstverständlich ist, sondern eine ebenso großartige wie unwahrscheinliche Neuerung im Universum." Eine Neuerung, die heute wieder anfälliger ist denn je.
Ja, wir sind im Begriff, eine entscheidende Schwelle zu überschreiten und den Schritt zu dem Vorsatz "möglich" zu tun, den der Qualitätssprung der Wissenschaft unseren Entwürfen auf einmal anbietet. Es ist die Vorstellung von einer sich wandelnden Menschheit oder einer Post-Menschheit, einer Umwälzung, für die der Wissenschaftsjournalist Hervé Kempf die Bezeichnung "biolithische Revolution" vorgeschlagen hat - im Unterschied zur "neolithischen" Revolution (abgeleitet vom griechischen neo, neu, und lithos, Stein) vor rund zwölftausend Jahren, als die menschlichen Gesellschaften von der Subsistenzwirtschaft als Jäger und Sammler zur neuen Daseinsweise als Viehhirten und Ackerbauern übergingen. Damit änderte sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur von Grund auf. Wir treten nun erneut in eine neue Ära ein, schreibt Kempf, "bestimmt von Techniken, die das Lebende (bio) mit dem Unbelebten (lithos) verknüpfen". Nach seiner Ansicht beendet diese neue Revolution die sehr lange geschichtliche Periode der Entstehung jener geistigen Kategorien, in denen das abendländische Denken im Lauf der Jahrhunderte sein Weltbild errichtete. Ein Weltbild, das heute zerbröckelt wie brüchig gewordener Zement.
"Man hat sich den Menschen als unveränderliche Kategorie gedacht, jedenfalls in den vergangenen Jahrtausenden, seitdem die Gattung Mensch mit der Vollendung ihrer biologischen Evolution in die Geschichte eingetreten ist. [...] Mit dem Biolithikum beginnt die Geschichte einer gelenkten Evolution, einer verwandelten Biologie, eines Menschen, der nicht mehr Kind der schützenden Macht der Natur ist, sondern das Produkt seiner eigenen Werke." Manche, denen solche Aussichten mehr Unbehagen verursachen, beschwören apokalyptische Metaphern angesichts dieses Wandels. "Nachdem wir die Tabus der erdrückenden bürgerlichen Kultur gebrochen haben, ist es jetzt an der Zeit, das menschliche Sein aufzubrechen, die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies: Die genetische Bombe, deren Zündung bevorsteht, wird für die Biologie sein, was die Atombombe für die Physik war."
Eines ist sicher: Angesichts unserer technisch-wissenschaftlichen Kühnheit kommen uns plötzlich Bedenken. Die Werkzeuge in unseren Händen öffnen uns das Tor zu einem Abenteuer, das in unserer Geschichte beispiellos ist. Wir haben jetzt die Macht, die biologischen Grenzen zu erweitern, in unser leibliches Schicksal einzugreifen, physiologisch oder erblich bedingte Mängel wettzumachen, einst unheilbare Krankheiten zu heilen und so weiter. Von diesem Standpunkt aus ist der Stolz des modernen Menschen nicht ganz unangebracht. Nicht minder berechtigt aber ist das große Erschrecken, das damit einhergeht. Im Februar 1997, nachdem das (nach sechsjährigem Dasein inzwischen wieder verstorbene) Klonschaf Dolly zur Welt gekommen war, drückte die Frankfurter Allgemeine Zeitung das vorherrschende Gefühl so aus: "Kopernikus hat den Menschen aus dem Zentrum des Weltalls vertrieben, Darwin aus der Natur, und der Reproduktionstechniker ist im Begriff, den Menschen aus sich selbst zu vertreiben."
Vielleicht ist das, um einen schönen Ausdruck von Marie Balmary aufzugreifen, "das katastrophale Glück, das uns droht".
Eine sehr nahe Vergangenheit
Halten wir das Erschrecken für einen Augenblick fest. Wir müssen es sehr ernst nehmen und dürfen es keinesfalls als Aberglauben abtun, zumal wir nicht davon sprechen können, ohne jene Erinnerung zu erwähnen, die es insgeheim nährt, steigert, immer wieder von neuem wachruft, die Erinnerung an eine gar nicht so ferne Vergangenheit. Bei jeder Debatte über sogenannte "bioethische" Fragen, bei jedem Kolloquium wacht sie unweigerlich im Hintergrund, bei jeder Überlegung steht sie so unübersehbar im Zentrum, daß sie die meisten Denkansätze vergiftet. Die Rede ist natürlich vom Holocaust und von dem, was vor gar nicht langer Zeit in den Konzentrationslagern vor sich ging. Selbstverständlich müssen uns alle Fragen, die wir heute im Zusammenhang mit der Definition des Menschen stellen, an etwas erinnern.
Die Verfechter des Wissenschaftsoptimismus werden mißmutig, wenn man diese Erinnerung heraufbeschwört, um vor möglichen Irrwegen der Genetik zu warnen. In der ständigen Mahnung an Hitler erblicken sie nur eine bequeme Ermutigung aller "obskurantistischen" Vorbehalte und "technikfeindlichen" Reaktionen (zwei Modewörter). Zu Unrecht. Die intuitive Bezugnahme auf diese Vergangenheit ist berechtigt: Gerade die extremen Erscheinungsformen des Nationalsozialismus und des Holocaust haben indirekt Anlaß zu unserer ständigen, obsessiven Sorge um die Menschlichkeit des Menschen gegeben. Davon zeugt der Verlauf der Geschichte. Nach der Öffnung der KZs und der Massengräber bleibt das Thema für alle Zeiten mit der Tragödie verbunden. Nach dem Holocaust war es endgültig vorbei mit dem Verspielten, Distanzierten, beinahe Neckischen, das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Plutarch, Lamettrie, Descartes und unzählige andere) allen Überlegungen über Tierheit und Menschheit noch anhaftete. Die Konzentrationslager der Nazis erzeugten im wahrsten Sinn des Wortes ein "Untermenschentum". Über den Juden, den Zigeuner wurde der Mensch als solcher mit Gewalt auf das Kreatürliche reduziert, zum Objekt, zur Sache degradiert. Die Leichen der Ermordeten, ihre Zähne, ihre Haut, ihre Haare wurden zum Rohstoff. In den Jahren 1945 und 1946 "entdeckte der Westen auf einmal mit Entsetzen, daß man eine Wahrheit vernichten konnte, die kostbarer ist als das Leben selbst: die Menschlichkeit des Menschen".
Gleichzeitig ist unser aller Bewußtsein für mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschärft: Vergehen, die den Mord an Menschen noch mit der Leugnung des Menschlichen krönen, die das Massaker um des Massakers willen verüben. Auf diesem Gebiet ist unsere Erinnerung noch frisch. Um Gemetzel, Vernichtung und unmenschliches Elend für immer zu verbieten und die Gefahr eines Rückfalls auszuschließen, streben wir eine neue internationale Rechtsprechung mit entsprechenden Gerichten und Strafkategorien an, über deren Anwendung dann eine eigene "Polizei" zu wachen hätte. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit halten wir Waffengewalt für angebracht: Bosnien, Ruanda, Kosovo ... Die Wachsamkeit an dieser Front, meinen wir, rechtfertigt eine Neubewertung der traditionellen Kategorien von Realpolitik, vielleicht den Verzicht darauf: abgeriegelte Nationalstaaten, geschlossene Grenzen, allmächtige Staatshoheit, Staatsräson ...
Wir fordern eine regelrechte "Umwertung der politischen Werte", um Nietzsche zu paraphrasieren. Auf einem Planeten, der langsam zusammenwächst, ist keine "nationale Hoheit" mehr legitim, solange unter diesem Deckmantel der Schrecken des Verbrechens gegen die Menschlichkeit weiterbesteht. Wer mit Sorge die traditionellen Vertreter der Diplomatie, der Geopolitik und des internationalen Rechts dabei verschwinden sieht, wer über dieses zivilisatorische Sendungsbewußtsein spottet, dem halten wir das unmittelbare - und fernsehübertragene - Grauen entgegen. Hat der Verzicht auf den vorsichtigen Zynismus von einst nicht absoluten Vorrang, wenn es darum geht, die Entstehung einer globalen Moral zu beschleunigen? "Die Eroberung der Menschenrechte schließt auch etwas Absolutes mit ein", kommentierte eine der besten französischen Juristinnen auf diesem Gebiet. "Es ist nötig, unverrückbare Grenzen zu setzen, die juristisch 'unantastbare Rechte' und 'unverjährbare Verbrechen' heißen. Diese absoluten Grenzen müssen Anwendung finden."
Menschenrechte auf der einen Seite, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der anderen: Diese sinnbildlichen Kategorien sind also die beiden Pole, der positive und der negative, der Moderne geworden. Das ist es eigentlich, worüber wir ständig reden. Das ist fortan der Konsens. Davon nährt sich unser gutes Gewissen, darauf stützt sich der Rest unseres historischen Optimismus. Soviel zur Vorderseite der Medaille.
Eine Neudefinition des Menschen?
Die Kehrseite ist beunruhigender. Während wir argumentieren und moralische Betrachtungen anstellen, hören wir hinter unserem Rücken das Raunen grundsätzlicher Fragen, die wir vorläufig lieber ausblenden. Was eigentlich ist der Mensch? Was bedeutet der Begriff "Menschlichkeit"? Kann sich diese Vorstellung nicht vielleicht ändern oder weiterentwickeln? Das Beunruhigende daran ist, daß diese neue Infragestellung humanistischer Prinzipien nicht wie früher von barbarischen Diktatoren oder aufgeklärten Despoten formuliert wird, sondern von der Wissenschaft selbst, der Wissenschaft in ihren neuen Erscheinungsformen. Als wäre es der Tribut, den man ihren atemberaubenden Verheißungen zollen müßte, heißt es: Man muß den Menschen in Frage stellen, um ihn effizienter heilen zu können ... Von der Biologie bis zu den Neurowissenschaften, von der Genetik bis zur kognitiven Forschung ist ein großer Teil der heutigen Intelligenz damit beschäftigt, die Gewißheiten, an die wir uns heute noch klammern, zu untergraben. Noch verbirgt sich dieser ungeheure Widerspruch hinter einem Dickicht aus Worten, doch das Dickicht lichtet sich.
Wenn wir den zahllosen Debatten in der Presse wie vor Gericht, ausgelöst durch die Fortschritte in den Biowissenschaften - Klonierung, medizinisch unterstützte Fortpflanzung, Embryonenforschung, Genmanipulation, Organtransplantation, Neuroprothetik -, wenn wir diesen Debatten mit größerer Aufmerksamkeit zuhören, stellen wir fest, daß ihnen allen ein und dieselbe Frage zugrunde liegt. Sie ist so radikal, so "gewaltig", daß sie das Denken ins Stocken geraten läßt, die Rechtsprechung zum Stammeln bringt, die Richter in Verwirrung stürzt: Wo ist denn die wahre Grenze des Menschlichen, wie soll die Menschlichkeit des Menschen definiert werden? Mit anderen Worten, was unterscheidet den Menschen von der übrigen Natur? Woran ließe sich die Einzigartigkeit der Spezies Mensch noch verankern, nachdem heute alles darauf hinwirkt, diese Einmaligkeit in der grenzenlosen biogenetischen Vielfalt des Lebens "wissenschaftlich" aufzulösen?
Unter den neuen Debatten findet sich keine einzige, die nicht auf diese wesentliche Frage hinausläuft und dieselbe dumpfe Unruhe auslöst. Führt uns die Genetik nicht de facto zu einer unterschiedslosen Gemeinschaft von Mensch und Tier? Arbeiten die kognitiven Wissenschaften nicht an der Hypothese vom Gehirn als Computer oder einer möglichen künstlichen Intelligenz, also am Nachweis der Verwandtschaft zwischen Mensch und Maschine? Fordert die Molekularphysik nicht eine grundsätzliche Kontinuität der Materie an sich, der lebenden Materie, die auch den Menschen mit einschließt? Bald werden wir mit leeren Händen dastehen und nicht mehr wissen, wie wir den Menschen definieren sollen. Vielleicht wissen wir es heute schon nicht mehr.
Das ist die wahre Natur der begrifflichen Revolution - des "Paradigmenwechsels", werden die Besserwisser sagen -, deren stumme Zeugen wir sind. Noch ist jeder auf der Suche nach den richtigen Worten, um die Revolution, den Wandel für sich persönlich eindeutig zu benennen. Hier ließen sich nach Belieben Zitate anführen. "Neu ist", schreibt beispielsweise Paul Ricoeur, "daß der Mensch heute eine Bedrohung für sich selbst geworden ist, weil er das Leben, das ihn trägt, und die Natur, in deren Schutz er einst die Mauern seiner Städte errichtet hat, in Gefahr bringt." Die Zukunftsaussichten, die auf uns einstürmen, setzen nicht mehr nur die mehr oder minder gerechte Organisation unserer Gesellschaften aufs Spiel, sondern die Prinzipien Mensch und Menschlichkeit schlechthin. In den letzten drei Jahrzehnten haben wir eine "Schwelle" überschritten, die Michel Foucault auf seine Weise vorausahnte, als er vor vierundzwanzig Jahren schrieb: "Aber die 'biologische Modernitätsschwelle' einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht."
Menschheit, Menschlichkeit, menschliche Gattung: Wir spüren ganz genau, daß sich hier ein Spalt unter unseren Füßen auftut. Vor dem angekündigten Abgrund erfaßt uns Schwindel. Wir nehmen einen unauflöslichen Gegensatz zwischen den "beiden Hälften" des modernen Denkens wahr. Wie können wir uns für die Menschenrechte einsetzen, wenn die Definition des Menschen von der Wissenschaft in Zweifel gezogen wird? Wie sollen wir Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden, wenn die Definition des Menschseins an sich problematisch ist? Dieses Paradox, das uns nicht erspart bleibt, hat nicht mehr viel gemein mit der traditionellen, gutmütigen und "freundlichen" Anhänglichkeit an den Humanismus alter Schule, diesem dick aufgetragenen Bürgersinn, in dem unsere politischen Redner noch heute schwelgen. Auch nicht mit dem bloßen ökologischen Schutz unseres Planeten gegen die Bedrohung durch das Ozonloch und die Klimaerwärmung.
Auf dem Spiel steht heute nicht mehr nur das "Überleben der Menschheit", also der Gesamtheit der menschlichen Bewohner des Planeten Erde, sondern auch, in jedem von uns, der Fortbestand der Humanität des Menschen, seiner Menschlichkeit: jener universalen Eigenschaft, die Kant als "Menschheit" - im Unterschied zur "Tierheit" - bezeichnete und die einen Menschen zur Person macht. "Zur Debatte steht", schreibt sehr anschaulich Maurice Bellet, "die Geburt der Menschlichkeit: Das heißt, daß das Menschliche des Menschen nicht selbstverständlich ist, sondern eine ebenso großartige wie unwahrscheinliche Neuerung im Universum." Eine Neuerung, die heute wieder anfälliger ist denn je.
Ja, wir sind im Begriff, eine entscheidende Schwelle zu überschreiten und den Schritt zu dem Vorsatz "möglich" zu tun, den der Qualitätssprung der Wissenschaft unseren Entwürfen auf einmal anbietet. Es ist die Vorstellung von einer sich wandelnden Menschheit oder einer Post-Menschheit, einer Umwälzung, für die der Wissenschaftsjournalist Hervé Kempf die Bezeichnung "biolithische Revolution" vorgeschlagen hat - im Unterschied zur "neolithischen" Revolution (abgeleitet vom griechischen neo, neu, und lithos, Stein) vor rund zwölftausend Jahren, als die menschlichen Gesellschaften von der Subsistenzwirtschaft als Jäger und Sammler zur neuen Daseinsweise als Viehhirten und Ackerbauern übergingen. Damit änderte sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur von Grund auf. Wir treten nun erneut in eine neue Ära ein, schreibt Kempf, "bestimmt von Techniken, die das Lebende (bio) mit dem Unbelebten (lithos) verknüpfen". Nach seiner Ansicht beendet diese neue Revolution die sehr lange geschichtliche Periode der Entstehung jener geistigen Kategorien, in denen das abendländische Denken im Lauf der Jahrhunderte sein Weltbild errichtete. Ein Weltbild, das heute zerbröckelt wie brüchig gewordener Zement.
"Man hat sich den Menschen als unveränderliche Kategorie gedacht, jedenfalls in den vergangenen Jahrtausenden, seitdem die Gattung Mensch mit der Vollendung ihrer biologischen Evolution in die Geschichte eingetreten ist. [...] Mit dem Biolithikum beginnt die Geschichte einer gelenkten Evolution, einer verwandelten Biologie, eines Menschen, der nicht mehr Kind der schützenden Macht der Natur ist, sondern das Produkt seiner eigenen Werke." Manche, denen solche Aussichten mehr Unbehagen verursachen, beschwören apokalyptische Metaphern angesichts dieses Wandels. "Nachdem wir die Tabus der erdrückenden bürgerlichen Kultur gebrochen haben, ist es jetzt an der Zeit, das menschliche Sein aufzubrechen, die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies: Die genetische Bombe, deren Zündung bevorsteht, wird für die Biologie sein, was die Atombombe für die Physik war."
Eines ist sicher: Angesichts unserer technisch-wissenschaftlichen Kühnheit kommen uns plötzlich Bedenken. Die Werkzeuge in unseren Händen öffnen uns das Tor zu einem Abenteuer, das in unserer Geschichte beispiellos ist. Wir haben jetzt die Macht, die biologischen Grenzen zu erweitern, in unser leibliches Schicksal einzugreifen, physiologisch oder erblich bedingte Mängel wettzumachen, einst unheilbare Krankheiten zu heilen und so weiter. Von diesem Standpunkt aus ist der Stolz des modernen Menschen nicht ganz unangebracht. Nicht minder berechtigt aber ist das große Erschrecken, das damit einhergeht. Im Februar 1997, nachdem das (nach sechsjährigem Dasein inzwischen wieder verstorbene) Klonschaf Dolly zur Welt gekommen war, drückte die Frankfurter Allgemeine Zeitung das vorherrschende Gefühl so aus: "Kopernikus hat den Menschen aus dem Zentrum des Weltalls vertrieben, Darwin aus der Natur, und der Reproduktionstechniker ist im Begriff, den Menschen aus sich selbst zu vertreiben."
Vielleicht ist das, um einen schönen Ausdruck von Marie Balmary aufzugreifen, "das katastrophale Glück, das uns droht".
Eine sehr nahe Vergangenheit
Halten wir das Erschrecken für einen Augenblick fest. Wir müssen es sehr ernst nehmen und dürfen es keinesfalls als Aberglauben abtun, zumal wir nicht davon sprechen können, ohne jene Erinnerung zu erwähnen, die es insgeheim nährt, steigert, immer wieder von neuem wachruft, die Erinnerung an eine gar nicht so ferne Vergangenheit. Bei jeder Debatte über sogenannte "bioethische" Fragen, bei jedem Kolloquium wacht sie unweigerlich im Hintergrund, bei jeder Überlegung steht sie so unübersehbar im Zentrum, daß sie die meisten Denkansätze vergiftet. Die Rede ist natürlich vom Holocaust und von dem, was vor gar nicht langer Zeit in den Konzentrationslagern vor sich ging. Selbstverständlich müssen uns alle Fragen, die wir heute im Zusammenhang mit der Definition des Menschen stellen, an etwas erinnern.
Die Verfechter des Wissenschaftsoptimismus werden mißmutig, wenn man diese Erinnerung heraufbeschwört, um vor möglichen Irrwegen der Genetik zu warnen. In der ständigen Mahnung an Hitler erblicken sie nur eine bequeme Ermutigung aller "obskurantistischen" Vorbehalte und "technikfeindlichen" Reaktionen (zwei Modewörter). Zu Unrecht. Die intuitive Bezugnahme auf diese Vergangenheit ist berechtigt: Gerade die extremen Erscheinungsformen des Nationalsozialismus und des Holocaust haben indirekt Anlaß zu unserer ständigen, obsessiven Sorge um die Menschlichkeit des Menschen gegeben. Davon zeugt der Verlauf der Geschichte. Nach der Öffnung der KZs und der Massengräber bleibt das Thema für alle Zeiten mit der Tragödie verbunden. Nach dem Holocaust war es endgültig vorbei mit dem Verspielten, Distanzierten, beinahe Neckischen, das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Plutarch, Lamettrie, Descartes und unzählige andere) allen Überlegungen über Tierheit und Menschheit noch anhaftete. Die Konzentrationslager der Nazis erzeugten im wahrsten Sinn des Wortes ein "Untermenschentum". Über den Juden, den Zigeuner wurde der Mensch als solcher mit Gewalt auf das Kreatürliche reduziert, zum Objekt, zur Sache degradiert. Die Leichen der Ermordeten, ihre Zähne, ihre Haut, ihre Haare wurden zum Rohstoff. In den Jahren 1945 und 1946 "entdeckte der Westen auf einmal mit Entsetzen, daß man eine Wahrheit vernichten konnte, die kostbarer ist als das Leben selbst: die Menschlichkeit des Menschen".
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Autoren-Porträt von Jean-Claude Guillebaud
Jean-Claude Guillebaud, geboren 1944 geboren . Er schreibt seit vielen Jahren für Le Monde und ist Mitbegründer der Edition Arlea. Ausgezeichnet u. a. mit dem Medicis-Essaypreis. Guillebaud lebt als Journalist und Autor in Frankreich.Barbara Schaden, Jahrgang 1959, studierte Romanistik und Turkolgoie in Wien und München. Nach ein paar Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat seit 1992 freiberufliche Übersetzerin, u.a. von Patricia Duncker, Margaret Atwood, Nadine Gordimer, Jean-Claude Guillebrand, MaurizioMaggiani, Fleur Jaeggy, Kazuo Ishiguro und Cindy Dyson.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jean-Claude Guillebaud
- 2004, 480 Seiten, Maße: 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schaden, Barbara
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630880118
- ISBN-13: 9783630880112
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