Das Siegel des Sultans
Roman
Istanbul, 1886: Am Ufer des Bosporus wird die Leiche der jungen Engländerin Mary Dixon entdeckt. Und für den zuständigen Ermittlungsbeamten Kamil Pascha ist es wie ein grausames Déjà-vu-Erlebnis: Denn schon einmal wurde in seinem Bezirk eine englische...
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Produktinformationen zu „Das Siegel des Sultans “
Istanbul, 1886: Am Ufer des Bosporus wird die Leiche der jungen Engländerin Mary Dixon entdeckt. Und für den zuständigen Ermittlungsbeamten Kamil Pascha ist es wie ein grausames Déjà-vu-Erlebnis: Denn schon einmal wurde in seinem Bezirk eine englische Gouvernante ermordet. Und genau wie Mary Dixon trug auch sie um den Hals ein auffälliges Silbermedaillon - verziert mit dem Siegel des Sultans ...
Klappentext zu „Das Siegel des Sultans “
Liebe, Intrigen und Mord im Palast des Sultans ...Istanbul, 1886: Am Ufer des Bosporus wird die Leiche der jungen Engländerin Mary Dixon entdeckt. Und für den zuständigen Ermittlungsbeamten Kamil Pascha ist es wie ein grausames Déjà-vu-Erlebnis: Denn schon einmal wurde in seinem Bezirk eine englische Gouvernante ermordet. Und genau wie Mary Dixon trug auch sie um den Hals ein auffälliges Silbermedaillon - verziert mit dem Siegel des Sultans ..."Ein überwältigendes Debüt - wunderbar geschrieben und voller großartiger Charaktere!"Publishers Weekly
Lese-Probe zu „Das Siegel des Sultans “
Dunkle AugenFlackernd ziehen die Lichter von etwa einem Dutzend Bootslaternen über das Wasser, gleiten lautlos die Meerenge hinauf. Die Ruderer bleiben unsichtbar. Vom Ufer dringt ein raues, scharrendes Geräusch herüber, doch die Brise ist schwach, und sie kann den Klang nur ein kurzes Stück mit sich tragen. Wilde Hunde bellen und brechen durch das Unterholz. Gedämpftes Knurren ist zu hören, ein kurzes Aufjaulen, und dann abermals Stille.
Ein Boot nach dem anderen kommt durch den Lichtkegel geschwebt, den der Vollmond über den Bosporus ergießt, und ganz ähnlich Schauspielern auf einer hell erleuchteten Bühne, nehmen die Fischer ihre Plätze ein. Die Männer im hinteren Teil der Barken rudern, ihre Gefährten stehen und halten die spitz zulaufenden, an Stangen befestigten Netze. Angelockt vom Licht der am Bug der Boote baumelnden Öllampen, drängen sich dicht unter der Wasseroberfläche die Zarganafische, Angehörige einer der zahlreichen, allein in diesen Gewässern vorkommenden Arten. Mit einer einzigen fließenden Bewegung lassen die Fischer ihre Reusen durch den schwarzen Fluss gleiten, stemmen sie kurze Zeit später über ihre Köpfe empor, und nur ganz leise kann man das Geräusch vernehmen, wenn die Netze die Oberfläche des Wassers durchbrechen; so leise, dass kein Laut zum Ufer hinüberdringt.
Plötzlich ertönt ein weithin vernehmliches Klatschen in der Dunkelheit. Der in der Nähe des Ufers fischende Mann wendet den Kopf und lauscht. Doch es ist nichts weiter zu hören. Er lässt den Blick über die im Mondlicht erbleichten Felsen und Bäume schweifen, hält forschend Ausschau nach dem, was sich da wohl hinter den Schatten verbergen mag, was unter ihnen kauert, und plötzlich bemerkt er einen Kreis kleiner, gekräuselter Wellen, die sich, vom Ufer ausgehend, zur Buchtmitte hin ausbreiten. Der Fischer runzelt die Stirn, dann deutet er mit der Hand zum Strand hinüber und murmelt seinem an den Rudern sitzenden Bruder etwas zu. Der aber zuckt lediglich mit den Schultern und
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konzentriert sich abermals ganz auf seine Arbeit an den Ruderblättern. Alles ist still, so still, dass der Fischer glaubt, er könne das Scharren der Krebse vernehmen, die über die Felszunge nahe dem albanischen Dorf klettern. Seit Jahrhunderten schon nehmen sie diese Abkürzung; ein schmaler, in das Felsgestein getriebener Graben zeugt von ihrem Weg. War wohl bloß irgendein Tier, sagt der Fischer sich schließlich. Aber auch Dschinns und Dämonen, so heißt es, bevölkern die Nacht. Er hat schon mancherlei Geschichten darüber gehört. Doch er bemüht sich, sie aus seinem Gedächtnis zu verbannen.
Kamil Pascha tastet auf seinem Nachttisch nach einem Streichholz, um damit die Lampe zu entzünden. Er ist als Friedensrichter am Istanbuler Bezirksgericht, dem Beioglu, tätig. Dieses ist sowohl zuständig für Pera, jenes Viertel, wo die Europäer ihre Botschaften und Geschäftssitze angesiedelt haben, als auch für Galata, den überfüllten jüdischen Stadtteil gleich unterhalb Peras, ein Labyrinth aus schmalen Straßen, die sich über den steil ansteigenden Hügel winden und sich hinunter bis zu den Wassern des Bosporus und seinem Meeresarm, dem Goldenen Horn, erstrecken. Das Hämmern an Kamils Tür verstummt, doch schon schallt lautes Stimmengewirr aus der Eingangshalle herauf. In diesem Augenblick betritt Kamils Diener Yakup mit einer Lampe in der Hand das
Schlafgemach. Riesige Schatten schleichen Yakup hinterher, gleiten lautlos über die Zimmerdecke.
"Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Euch geweckt habe, Bei. Der Wortführer der Mittelstadt behauptet, er käme in einer dringenden Angelegenheit. Er besteht darauf, mit Euch allein zu sprechen."
Die Augen zum Schutz vor dem Licht zu schmalen Schlitzen verengt, wirft Kamil die Satinüberdecke zurück, erhebt sich und rutscht dann auf der Zeitschrift aus, die aus seinem Bett gefallen ist. Der Friedensrichter kann für gewöhnlich erst dann einschlafen, wenn er sich zuvor noch eine Weile in ein Buch oder irgendeine andere Art von Lektüre vertieft hat; in diesem Fall war es die schon mehrere Jahre alte Gärtnerchronik und Landwirtschaftliche Gazette. Mittlerweile schreibt man das Jahr 1302 nach der Rumi-Zeitrechnung oder auch 1886 im christlichen Kalender, und es ist Juni. Kamil war über einem Artikel des deutschen Botanikers H. G. Reichenbach eingeschlafen, in dem dieser über die Neuklassifizierung der Acineta hrubyana berichtet hatte, jene erst kürzlich in Südamerika entdeckte, mehrblütige Orchidee mit den festen, beinahe schon ein wenig unartikuliert anmutenden Blattlippen. Doch trotz der Lektüre hat Kamil nur sehr unruhig geschlafen. In seinem Traum war er in eine Art von Strudel geraten, in dem es von kleinen, lederhäutigen Männchen nur so wimmelte. Gesichtslos, doch überaus wendig, hatten sie ihn immer tiefer mit sich hinabgerissen. Yakup, umsichtig wie alle Bewohner in den hölzernen Häusern von Istanbul, musste unterdessen wohl ins Zimmer gekommen sein und die Öllampe gelöscht haben.
Kamil schöpft etwas Wasser aus dem Becken auf dem marmornen Waschtisch und spritzt es sich ins Gesicht, in der Hoffnung, damit die betäubende Leere vertreiben zu können, die sich seiner stets bemächtigt in den grau verhangenen Augenblicken zwischen dem Erwachen und den ersten, noch angenehm unstrukturierten Gesten seiner morgendlichen Routine. Letztere besteht üblicherweise darin, dass er sich zunächst rasiert, dann die Finger um ein dampfend heißes Glas Tee legt, der besänftigenden Hitze nachspürt, die in seine Hände dringt, und schließlich in der Zeitung blättert. Der Spiegel zeigt Kamil ein glattes, doch müdes Gesicht, einen dunklen Schnurrbart, schmale, zu einer grimmigen Linie zusammengepresste Lippen und Augen, die sich fast gänzlich unter seinem nur schwer zu bändigenden, schwarzen Schopf verbergen. Über die linke Braue kringelt sich eine einzelne graue Strähne. Hastig verreibt Kamil etwas Pomade zwischen den nassen Händen und streicht sein Haar zurück, das sich aber gleich darauf schon wieder in weiche Locken legt. Mit einem verärgerten Seufzer wendet er sich schließlich zu Yakup um, der Kamil bereits dessen Hosen entgegenhält. Der Diener des Friedensrichters ist ein magerer, mürrisch dreinblickender Mann Mitte dreißig mit hohen Wangenknochen und einem länglichen Gesicht. Geduldig wartend verharrt er neben Kamil, und seine Miene zeigt jenen typischen, geistesabwesenden Ausdruck, wie ihn Menschen, die schon ihr ganzes Leben lang anderen dienen, oftmals haben; Menschen, die sich nicht mehr länger mit den ihrem Stande geziemenden Höflichkeitsfloskeln aufhalten, sondern nur noch auf die ordentliche Ausführung ihrer Pflichten bedacht sind.
"Dann bin ich ja mal gespannt, was da los ist", murmelt Kamil vor sich hin. Im Übrigen ist er in Bezug auf das Übermaß an Erregung, das einen Menschen dazu veranlasst, mitten in der Nacht bei ihm an die Tür zu hämmern, bereits ein wenig argwöhnisch geworden. Denn er ist ein nach eigener Einschätzung durchaus ausgeglichener Mann, dem derlei Aufdringlichkeiten missfallen.
Yakup hilft Kamil, zunächst in ein weißes Hemd zu schlüpfen. Dann reicht er ihm den in Stambul üblichen Gehrock und schließlich die gelben Ziegenlederstiefel mit dem komplizierten eingepunzten Muster. Gefertigt von einem in Aleppo ansässigen Schuhmachermeister und nach einer Methode, die nur dort benutzt und nur vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, sind die Stiefel so zart wie die Haut am Handgelenk einer Frau, zugleich aber absolut unzerstörbar, sodass weder Wasser noch Messerklingen durch das Material hindurchdringen können. Zudem befindet sich eingeätzt ins lederne Innere des Stiefelschafts ein Gitterwerk aus winzigen, Glück bringenden Symbolen, mit denen jene Kräfte angerufen werden sollen, deren Macht über das handwerkliche Können des Schusters hinausgeht und die dem Träger der Stiefel Stärke verleihen sollen. Kamil ist ein hoch gewachsener Mann, schlank und muskulös. Die leicht nach vorne hin abfallenden Schultern und das etwas spitze Kinn allerdings vermitteln den Eindruck, als ob er sich stets zu irgendetwas vorbeuge, irgendetwas untersuche - wie ein Mann eben, der sich zumeist zusammengesunken und in Gedanken verloren über alte Handschriften neigt. Hebt Kamil dann allerdings einmal den Blick, so blitzen seine moosgrünen Augen mit einer solchen Intensität und Klarheit, dass sie den ersten Eindruck sogleich wieder Lügen strafen. Denn Kamil ist ein Mann, der seine Umwelt dadurch beherrscht, dass er sie versteht. Folglich vermögen Dinge, die jenseits seines Verständnisses liegen, ihn nur wenig zu reizen; wohl aber können ihn Angelegenheiten, die sich seiner Kontrolle entziehen, durchaus verärgern. In erstere Kategorie fällt somit das Schicksal im Allgemeinen. Seine Familie wiederum, seine Freunde und natürlich die Frauen gehören zu letzterer. Die Hände des Friedensrichters sind stets in Bewegung, während er mit den Fingerspitzen über eine kurze Schnur gleitet, die in seiner rechten Tasche liegt und auf der einige Bernsteinperlen aufgezogen sind. Der Bernstein fühlt sich warm an, scheint unter der Berührung seines Besitzers fast schon lebendig. Kamil spürt das zarte Beben der Perlen: seinen eigenen, von den Perlchen verstärkten Puls. Schon sein Vater und sein Großvater hatten diese kurze Kette in ihrem Besitz, und ihre Finger haben im Laufe der vielen Jahre kleine, flache Einbuchtungen in die Steine gerieben. Berühren Kamils Finger nun diese winzigen Vertiefungen, so steigt in ihm eine Art Ahnung auf; eine Ahnung, die ihm zuzuflüstern scheint, dass auch er bloß ein kleines Glied in einer langen Reihe von Sterblichen ist. Und stets fühlt er sich dann wie eingebettet in die ihm zustehende Zeit, auf den ihm zugewiesenen Platz. Zwar bietet ihm diese Empfindung, bezogen auf sein tägliches Leben, keinerlei Halt oder Stütze, doch es geht immerhin ein gewisser Frieden mit diesem Gedanken einher.
Kamil lebt recht bescheiden, mit lediglich einem Mindestmaß an Hausangestellten und in einer vergleichsweise kleinen und ganz aus Holz errichteten, ockerfarbenen Villa, die er von seiner Mutter geerbt hat. Das Haus liegt in einem großen Garten, direkt am Ufer des Bosporus oberhalb von Beschiktasch und versteckt im Schatten von Schirmkiefern, Zypressen und Maulbeerbäumen. Das Anwesen war ursprünglich Teil der Mitgift seiner Mutter gewesen. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern hatte sie hier ihre letzten Lebensjahre verbracht. Sie liebte die ruhige Gemeinschaft der am Ufer lebenden Menschen, wo jeder sie kannte und auch schon ihre Eltern und Großeltern gekannt hatte, und sie zog dieses Leben dem hoch auf einem Hügel gelegenen, prunkvollen Herrenhaus mit Blick über das Goldene Horn vor; jenem Herrenhaus, von dem aus Kamils Vater, der Gendarmerieminister Alp-Pascha, die Provinz von Istanbul regiert hatte.
Kamil hat den Ruderer, der Alp-Pascha über mehrere Jahre hinweg jeweils an den Wochenenden zu der Villa von Kamils Mutter übergesetzt hatte, in seinem Dienst behalten. Nun rudern die sehnigen Arme des Bootsführers allmorgendlich Kamil die Meerenge hinab und bis an den Tophane-Anleger, wo dann bereits ein leichter, vierrädriger Zweispänner auf Kamil wartet, um ihn den steilen Hügel hinauf und bis vor das an der Grande Rue de Pera gelegene Gerichtsgebäude zu kutschieren. Und ist das Urteilsregister, das Kamil stets mit sich trägt, einmal etwas leichter, so läuft er den Weg vom Kai den Hügel hinauf zu Fuß und genießt die frische Luft. Nachdem seine Mutter gestorben war, hatte Kamil einen kleinen Wintergarten an den hinteren Teil des Hauses anbauen lassen. Als Friedensrichter hat er jetzt allerdings nur noch wenig Zeit für seine botanischen, oftmals wochenlang dauernden Exkursionen. Doch die Orchideen, die er einst aus den verschiedensten Ecken des Kaiserreichs zusammengetragen hat, pflegt er natürlich weiterhin und studiert sie nun bei sich zu Hause.
Kamil atmet einmal tief durch. Dann schreitet er die breite Treppe hinab, die in die Eingangshalle hinunterführt. Ein kleiner, rotgesichtiger Mann wartet ungeduldig im Kreise der von Kamils Dienern gehaltenen Lampen. Seine Hose ist traditionell weit geschnitten, das Ende seines Kummerbundes hängt locker herab, und die rote Filzkappe auf seinem Kopf ist mit einem gestreiften Tuch umschlungen. Ruhelos verlagert er sein Gewicht von dem einen seiner kräftigen Beine auf das andere. Als er schließlich Kamil entdeckt, verbeugt er sich sogleich tief und berührt in einer Geste des Respekts mit den Fingern der rechten Hand zuerst die Lippen und dann die Stirn. Kamil grübelt unterdessen bereits darüber nach, was wohl geschehen sein mag, das den Wortführer der Mittelstadt dermaßen aufgewühlt hat - einen Mord jedenfalls hätte man zuerst einmal bei der Bezirkspolizei angezeigt, statt dafür mitten in der Nacht den Friedensrichter aus seinem Bett zu holen.
"Möge Frieden dich begleiten. Was führt dich zu so früher Stunde hierher?"
"Möge auch Euch steter Frieden begleiten, Pascha-Bei", stottert der Wortführer, und sein rundes Gesicht nimmt eine noch etwas intensivere Schattierung an. "Ich bin Ibrahim, der Sprecher der Mittelstadt. Bitte entschuldigt mein Eindringen, aber es hat sich da in meinem Viertel so eine Sache ereignet, von der ich denke, dass Ihr unbedingt darüber unterrichtet werden müsst."
Dann hält er einen Augenblick inne, und sein Blick huscht in Richtung der hinter den Laternen verborgenen Schatten. Kamil gibt seinen Dienern ein Zeichen, dass diese die Lampen abstellen und sich zurückziehen sollen.
"Was ist denn passiert?"
"Efendi, in der Mittelstadt hat man eine Leiche gefunden. Ganz in der Nähe der Moschee, im Wasser."
"Wer hat sie gefunden?"
"Die Mülldiebe." So nennt man die halboffiziellen Müllleute, die für gewöhnlich kurz vor Sonnenaufgang damit beginnen, den Abfall einzusammeln, der sich über Nacht in den Straßen anzusammeln pflegt beziehungsweise an den Stränden angespült wird. Erst suchen sie die verwertbaren Stücke für sich selbst heraus und laden dann den Rest auf Frachtboote, die den Müll schließlich aufs Marmarameer hinausbefördern, wo die Strömung ihn zerstreut.
Kamil wendet den Kopf in Richtung der Salontür und dem dahinter liegenden Fenster. Ein erster, zarter Lichtschimmer am Himmel lässt die Silhouetten der Bäume in seinem Garten erahnen. Kamil seufzt. Dann wendet er sich wieder dem Wortführer zu.
"Und warum meldest du das nicht dem für dein Viertel verantwortlichen Polizeipräsidenten?"
Kamil teilt sich die Verantwortung für die Rechtsprechung auf der europäischen Seite des Bosporus mit zwei weiteren Friedensrichtern. Ihr Bereich umfasst sowohl jenen südlich gelegenen Stadtteil, in dem sich die großen Moscheen sowie die überdachten Marktplätze befinden und wo die Meerenge in das Marmarameer mündet, als auch den schmalen Zierstreifen aus Dörfern und prächtigen Sommervillen, die sich entlang der bewaldeten Hügel des Meeres erstrecken und bis weit nach Norden reichen, wo sie schließlich an das Schwarze Meer grenzen. Die Mittelstadt liegt damit etwas weniger als einen halbstündigen Ritt nördlich von Kamils Villa entfernt.
"Weil es eine Frau ist, Bei", stottert der Wortführer.
"Eine Frau?"
"Eine ausländische Frau, Bei. Wir glauben, sie ist eine Fränkin."
Also eine Europäerin. Wie ein Schleier gleitet eine dunkle Vorahnung über Kamil hinweg. "Und woher wollt ihr wissen, dass sie eine Fränkin ist?"
"Sie trägt so eine Kette um den Hals, und an der hängt ein goldenes Kreuz."
Ungeduldig schnalzt Kamil mit der Zunge. "Aber dann könnte sie doch genauso gut eine unserer christlichen Mitbürgerinnen sein."
Der Stadtviertelsprecher senkt den Blick auf den mit Marmorfliesen ausgelegten Boden. "Sie hat gelbes Haar. Und sie trägt ein schweres Goldarmband. Und da ist noch was ..."
Kamil stöhnt auf. "Sag mal, warum muss ich dir eigentlich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen? Kannst du mir nicht einfach alles berichten, was du gesehen hast?"
Hilflos blickt der Mann wieder auf. "Aber natürlich, also, da war noch so ein Kettenanhänger, Bei. Den kann man öffnen. Genauso wie eine Walnuss." Zur Beschreibung legt er seine zu kleinen Schalen geformten Handflächen erst dicht aneinander und klappt sie dann auf. "Und in der einen Schale kann man die Tugra sehen, das persönliche Siegel des Padischah. Möge Allah ihn leiten und beschützen." Er streckt Kamil erst die eine seiner noch immer zu Schälchen geformten Hände entgegen, dann die andere. "Aber in der zweiten Hälfte stehen außerdem auch noch so merkwürdige Zeichen. Wir dachten also, dass das vielleicht fränkische Schriftzeichen sind."
Kamil runzelt die Stirn. Ihm will einfach keine einleuchtende Erklärung dafür einfallen, warum eine Frau, die offenbar kein Mitglied des Haushalts des Sultans ist, solch ein Schmuckstück um den Hals tragen sollte; ein Schmuckstück, in dem das persönliche Siegel des Herrschers prangt und irgendwelche europäischen Schriftzeichen. Das ergibt doch keinen Sinn, denkt er. Die Tugra ist das Siegel des Sultans, und man findet sie nur auf offiziellen Dokumenten sowie auf einigen wenigen, ganz bestimmten Besitztümern des königlichen Haushalts. Und das Aufprägen des Siegels wiederum geschieht allein in einer speziellen, auf dem Palastgrundstück befindlichen Werkstatt. Es sind die so genannten Tugranüvis, die königlichen Schreiber, denen die Verantwortung dafür obliegt, das komplizierte und zugleich elegante kalligraphische Muster des königlichen Namens zu zeichnen. Und ebenso wie die königlichen Graveure dürfen auch die Tugranüvis den Palast niemals verlassen - aus Angst, man könnte sie verschleppen und dazu nötigen, den Schriftzug des Sultans gefälschten Stücken aufzuprägen. Denn das osmanische Reich ist sehr weitläufig, und solcherlei Fälscherschmieden könnten nur allzu leicht übersehen werden - das Problem ist also nur dadurch zu lösen, indem man die Schreiber des Sultans, man nennt sie auch die "Hände des Sultans", immer in seiner unmittelbaren Nähe behält. Außerdem hat Kamil gehört, dass diese Schreiber stets ein rasch wirkendes Gift bei sich trügen, quasi als eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Die Verfügungsmacht über das königliche Dokumentensiegel obliegt im Übrigen bloß drei Menschen: Dem Sultan selbst, dem Großwesir und der Vorsteherin über die Paläste des Harems, einer vertrauenswürdigen, alten Frau, die bereits im Palast aufgewachsen war. Somit werden sowohl die Dokumente als auch die königlichen Schätze und Geschmeide aus Gold, Silber und anderen wertvollen Materialien allein auf das Geheiß dieser drei Personen hin mit der Tugra versehen.Der Wortführer der Mittelstadt verschränkt nervös die rauen Finger miteinander, öffnet sie und verschränkt sie abermals. Den Kopf tief geneigt, steht er vor dem Friedensrichter, lässt den Blick ängstlich über den Marmorboden huschen und wartet. Kamil entgeht die zunehmende Erregung des Mannes keineswegs, und plötzlich begreift er, dass dieser offenbar fürchtet, der Friedensrichter würde es ihm nun persönlich zur Last legen, dass man ihn geweckt hat.
Kamil Pascha tastet auf seinem Nachttisch nach einem Streichholz, um damit die Lampe zu entzünden. Er ist als Friedensrichter am Istanbuler Bezirksgericht, dem Beioglu, tätig. Dieses ist sowohl zuständig für Pera, jenes Viertel, wo die Europäer ihre Botschaften und Geschäftssitze angesiedelt haben, als auch für Galata, den überfüllten jüdischen Stadtteil gleich unterhalb Peras, ein Labyrinth aus schmalen Straßen, die sich über den steil ansteigenden Hügel winden und sich hinunter bis zu den Wassern des Bosporus und seinem Meeresarm, dem Goldenen Horn, erstrecken. Das Hämmern an Kamils Tür verstummt, doch schon schallt lautes Stimmengewirr aus der Eingangshalle herauf. In diesem Augenblick betritt Kamils Diener Yakup mit einer Lampe in der Hand das
Schlafgemach. Riesige Schatten schleichen Yakup hinterher, gleiten lautlos über die Zimmerdecke.
"Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Euch geweckt habe, Bei. Der Wortführer der Mittelstadt behauptet, er käme in einer dringenden Angelegenheit. Er besteht darauf, mit Euch allein zu sprechen."
Die Augen zum Schutz vor dem Licht zu schmalen Schlitzen verengt, wirft Kamil die Satinüberdecke zurück, erhebt sich und rutscht dann auf der Zeitschrift aus, die aus seinem Bett gefallen ist. Der Friedensrichter kann für gewöhnlich erst dann einschlafen, wenn er sich zuvor noch eine Weile in ein Buch oder irgendeine andere Art von Lektüre vertieft hat; in diesem Fall war es die schon mehrere Jahre alte Gärtnerchronik und Landwirtschaftliche Gazette. Mittlerweile schreibt man das Jahr 1302 nach der Rumi-Zeitrechnung oder auch 1886 im christlichen Kalender, und es ist Juni. Kamil war über einem Artikel des deutschen Botanikers H. G. Reichenbach eingeschlafen, in dem dieser über die Neuklassifizierung der Acineta hrubyana berichtet hatte, jene erst kürzlich in Südamerika entdeckte, mehrblütige Orchidee mit den festen, beinahe schon ein wenig unartikuliert anmutenden Blattlippen. Doch trotz der Lektüre hat Kamil nur sehr unruhig geschlafen. In seinem Traum war er in eine Art von Strudel geraten, in dem es von kleinen, lederhäutigen Männchen nur so wimmelte. Gesichtslos, doch überaus wendig, hatten sie ihn immer tiefer mit sich hinabgerissen. Yakup, umsichtig wie alle Bewohner in den hölzernen Häusern von Istanbul, musste unterdessen wohl ins Zimmer gekommen sein und die Öllampe gelöscht haben.
Kamil schöpft etwas Wasser aus dem Becken auf dem marmornen Waschtisch und spritzt es sich ins Gesicht, in der Hoffnung, damit die betäubende Leere vertreiben zu können, die sich seiner stets bemächtigt in den grau verhangenen Augenblicken zwischen dem Erwachen und den ersten, noch angenehm unstrukturierten Gesten seiner morgendlichen Routine. Letztere besteht üblicherweise darin, dass er sich zunächst rasiert, dann die Finger um ein dampfend heißes Glas Tee legt, der besänftigenden Hitze nachspürt, die in seine Hände dringt, und schließlich in der Zeitung blättert. Der Spiegel zeigt Kamil ein glattes, doch müdes Gesicht, einen dunklen Schnurrbart, schmale, zu einer grimmigen Linie zusammengepresste Lippen und Augen, die sich fast gänzlich unter seinem nur schwer zu bändigenden, schwarzen Schopf verbergen. Über die linke Braue kringelt sich eine einzelne graue Strähne. Hastig verreibt Kamil etwas Pomade zwischen den nassen Händen und streicht sein Haar zurück, das sich aber gleich darauf schon wieder in weiche Locken legt. Mit einem verärgerten Seufzer wendet er sich schließlich zu Yakup um, der Kamil bereits dessen Hosen entgegenhält. Der Diener des Friedensrichters ist ein magerer, mürrisch dreinblickender Mann Mitte dreißig mit hohen Wangenknochen und einem länglichen Gesicht. Geduldig wartend verharrt er neben Kamil, und seine Miene zeigt jenen typischen, geistesabwesenden Ausdruck, wie ihn Menschen, die schon ihr ganzes Leben lang anderen dienen, oftmals haben; Menschen, die sich nicht mehr länger mit den ihrem Stande geziemenden Höflichkeitsfloskeln aufhalten, sondern nur noch auf die ordentliche Ausführung ihrer Pflichten bedacht sind.
"Dann bin ich ja mal gespannt, was da los ist", murmelt Kamil vor sich hin. Im Übrigen ist er in Bezug auf das Übermaß an Erregung, das einen Menschen dazu veranlasst, mitten in der Nacht bei ihm an die Tür zu hämmern, bereits ein wenig argwöhnisch geworden. Denn er ist ein nach eigener Einschätzung durchaus ausgeglichener Mann, dem derlei Aufdringlichkeiten missfallen.
Yakup hilft Kamil, zunächst in ein weißes Hemd zu schlüpfen. Dann reicht er ihm den in Stambul üblichen Gehrock und schließlich die gelben Ziegenlederstiefel mit dem komplizierten eingepunzten Muster. Gefertigt von einem in Aleppo ansässigen Schuhmachermeister und nach einer Methode, die nur dort benutzt und nur vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, sind die Stiefel so zart wie die Haut am Handgelenk einer Frau, zugleich aber absolut unzerstörbar, sodass weder Wasser noch Messerklingen durch das Material hindurchdringen können. Zudem befindet sich eingeätzt ins lederne Innere des Stiefelschafts ein Gitterwerk aus winzigen, Glück bringenden Symbolen, mit denen jene Kräfte angerufen werden sollen, deren Macht über das handwerkliche Können des Schusters hinausgeht und die dem Träger der Stiefel Stärke verleihen sollen. Kamil ist ein hoch gewachsener Mann, schlank und muskulös. Die leicht nach vorne hin abfallenden Schultern und das etwas spitze Kinn allerdings vermitteln den Eindruck, als ob er sich stets zu irgendetwas vorbeuge, irgendetwas untersuche - wie ein Mann eben, der sich zumeist zusammengesunken und in Gedanken verloren über alte Handschriften neigt. Hebt Kamil dann allerdings einmal den Blick, so blitzen seine moosgrünen Augen mit einer solchen Intensität und Klarheit, dass sie den ersten Eindruck sogleich wieder Lügen strafen. Denn Kamil ist ein Mann, der seine Umwelt dadurch beherrscht, dass er sie versteht. Folglich vermögen Dinge, die jenseits seines Verständnisses liegen, ihn nur wenig zu reizen; wohl aber können ihn Angelegenheiten, die sich seiner Kontrolle entziehen, durchaus verärgern. In erstere Kategorie fällt somit das Schicksal im Allgemeinen. Seine Familie wiederum, seine Freunde und natürlich die Frauen gehören zu letzterer. Die Hände des Friedensrichters sind stets in Bewegung, während er mit den Fingerspitzen über eine kurze Schnur gleitet, die in seiner rechten Tasche liegt und auf der einige Bernsteinperlen aufgezogen sind. Der Bernstein fühlt sich warm an, scheint unter der Berührung seines Besitzers fast schon lebendig. Kamil spürt das zarte Beben der Perlen: seinen eigenen, von den Perlchen verstärkten Puls. Schon sein Vater und sein Großvater hatten diese kurze Kette in ihrem Besitz, und ihre Finger haben im Laufe der vielen Jahre kleine, flache Einbuchtungen in die Steine gerieben. Berühren Kamils Finger nun diese winzigen Vertiefungen, so steigt in ihm eine Art Ahnung auf; eine Ahnung, die ihm zuzuflüstern scheint, dass auch er bloß ein kleines Glied in einer langen Reihe von Sterblichen ist. Und stets fühlt er sich dann wie eingebettet in die ihm zustehende Zeit, auf den ihm zugewiesenen Platz. Zwar bietet ihm diese Empfindung, bezogen auf sein tägliches Leben, keinerlei Halt oder Stütze, doch es geht immerhin ein gewisser Frieden mit diesem Gedanken einher.
Kamil lebt recht bescheiden, mit lediglich einem Mindestmaß an Hausangestellten und in einer vergleichsweise kleinen und ganz aus Holz errichteten, ockerfarbenen Villa, die er von seiner Mutter geerbt hat. Das Haus liegt in einem großen Garten, direkt am Ufer des Bosporus oberhalb von Beschiktasch und versteckt im Schatten von Schirmkiefern, Zypressen und Maulbeerbäumen. Das Anwesen war ursprünglich Teil der Mitgift seiner Mutter gewesen. Gemeinsam mit ihren beiden Kindern hatte sie hier ihre letzten Lebensjahre verbracht. Sie liebte die ruhige Gemeinschaft der am Ufer lebenden Menschen, wo jeder sie kannte und auch schon ihre Eltern und Großeltern gekannt hatte, und sie zog dieses Leben dem hoch auf einem Hügel gelegenen, prunkvollen Herrenhaus mit Blick über das Goldene Horn vor; jenem Herrenhaus, von dem aus Kamils Vater, der Gendarmerieminister Alp-Pascha, die Provinz von Istanbul regiert hatte.
Kamil hat den Ruderer, der Alp-Pascha über mehrere Jahre hinweg jeweils an den Wochenenden zu der Villa von Kamils Mutter übergesetzt hatte, in seinem Dienst behalten. Nun rudern die sehnigen Arme des Bootsführers allmorgendlich Kamil die Meerenge hinab und bis an den Tophane-Anleger, wo dann bereits ein leichter, vierrädriger Zweispänner auf Kamil wartet, um ihn den steilen Hügel hinauf und bis vor das an der Grande Rue de Pera gelegene Gerichtsgebäude zu kutschieren. Und ist das Urteilsregister, das Kamil stets mit sich trägt, einmal etwas leichter, so läuft er den Weg vom Kai den Hügel hinauf zu Fuß und genießt die frische Luft. Nachdem seine Mutter gestorben war, hatte Kamil einen kleinen Wintergarten an den hinteren Teil des Hauses anbauen lassen. Als Friedensrichter hat er jetzt allerdings nur noch wenig Zeit für seine botanischen, oftmals wochenlang dauernden Exkursionen. Doch die Orchideen, die er einst aus den verschiedensten Ecken des Kaiserreichs zusammengetragen hat, pflegt er natürlich weiterhin und studiert sie nun bei sich zu Hause.
Kamil atmet einmal tief durch. Dann schreitet er die breite Treppe hinab, die in die Eingangshalle hinunterführt. Ein kleiner, rotgesichtiger Mann wartet ungeduldig im Kreise der von Kamils Dienern gehaltenen Lampen. Seine Hose ist traditionell weit geschnitten, das Ende seines Kummerbundes hängt locker herab, und die rote Filzkappe auf seinem Kopf ist mit einem gestreiften Tuch umschlungen. Ruhelos verlagert er sein Gewicht von dem einen seiner kräftigen Beine auf das andere. Als er schließlich Kamil entdeckt, verbeugt er sich sogleich tief und berührt in einer Geste des Respekts mit den Fingern der rechten Hand zuerst die Lippen und dann die Stirn. Kamil grübelt unterdessen bereits darüber nach, was wohl geschehen sein mag, das den Wortführer der Mittelstadt dermaßen aufgewühlt hat - einen Mord jedenfalls hätte man zuerst einmal bei der Bezirkspolizei angezeigt, statt dafür mitten in der Nacht den Friedensrichter aus seinem Bett zu holen.
"Möge Frieden dich begleiten. Was führt dich zu so früher Stunde hierher?"
"Möge auch Euch steter Frieden begleiten, Pascha-Bei", stottert der Wortführer, und sein rundes Gesicht nimmt eine noch etwas intensivere Schattierung an. "Ich bin Ibrahim, der Sprecher der Mittelstadt. Bitte entschuldigt mein Eindringen, aber es hat sich da in meinem Viertel so eine Sache ereignet, von der ich denke, dass Ihr unbedingt darüber unterrichtet werden müsst."
Dann hält er einen Augenblick inne, und sein Blick huscht in Richtung der hinter den Laternen verborgenen Schatten. Kamil gibt seinen Dienern ein Zeichen, dass diese die Lampen abstellen und sich zurückziehen sollen.
"Was ist denn passiert?"
"Efendi, in der Mittelstadt hat man eine Leiche gefunden. Ganz in der Nähe der Moschee, im Wasser."
"Wer hat sie gefunden?"
"Die Mülldiebe." So nennt man die halboffiziellen Müllleute, die für gewöhnlich kurz vor Sonnenaufgang damit beginnen, den Abfall einzusammeln, der sich über Nacht in den Straßen anzusammeln pflegt beziehungsweise an den Stränden angespült wird. Erst suchen sie die verwertbaren Stücke für sich selbst heraus und laden dann den Rest auf Frachtboote, die den Müll schließlich aufs Marmarameer hinausbefördern, wo die Strömung ihn zerstreut.
Kamil wendet den Kopf in Richtung der Salontür und dem dahinter liegenden Fenster. Ein erster, zarter Lichtschimmer am Himmel lässt die Silhouetten der Bäume in seinem Garten erahnen. Kamil seufzt. Dann wendet er sich wieder dem Wortführer zu.
"Und warum meldest du das nicht dem für dein Viertel verantwortlichen Polizeipräsidenten?"
Kamil teilt sich die Verantwortung für die Rechtsprechung auf der europäischen Seite des Bosporus mit zwei weiteren Friedensrichtern. Ihr Bereich umfasst sowohl jenen südlich gelegenen Stadtteil, in dem sich die großen Moscheen sowie die überdachten Marktplätze befinden und wo die Meerenge in das Marmarameer mündet, als auch den schmalen Zierstreifen aus Dörfern und prächtigen Sommervillen, die sich entlang der bewaldeten Hügel des Meeres erstrecken und bis weit nach Norden reichen, wo sie schließlich an das Schwarze Meer grenzen. Die Mittelstadt liegt damit etwas weniger als einen halbstündigen Ritt nördlich von Kamils Villa entfernt.
"Weil es eine Frau ist, Bei", stottert der Wortführer.
"Eine Frau?"
"Eine ausländische Frau, Bei. Wir glauben, sie ist eine Fränkin."
Also eine Europäerin. Wie ein Schleier gleitet eine dunkle Vorahnung über Kamil hinweg. "Und woher wollt ihr wissen, dass sie eine Fränkin ist?"
"Sie trägt so eine Kette um den Hals, und an der hängt ein goldenes Kreuz."
Ungeduldig schnalzt Kamil mit der Zunge. "Aber dann könnte sie doch genauso gut eine unserer christlichen Mitbürgerinnen sein."
Der Stadtviertelsprecher senkt den Blick auf den mit Marmorfliesen ausgelegten Boden. "Sie hat gelbes Haar. Und sie trägt ein schweres Goldarmband. Und da ist noch was ..."
Kamil stöhnt auf. "Sag mal, warum muss ich dir eigentlich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen? Kannst du mir nicht einfach alles berichten, was du gesehen hast?"
Hilflos blickt der Mann wieder auf. "Aber natürlich, also, da war noch so ein Kettenanhänger, Bei. Den kann man öffnen. Genauso wie eine Walnuss." Zur Beschreibung legt er seine zu kleinen Schalen geformten Handflächen erst dicht aneinander und klappt sie dann auf. "Und in der einen Schale kann man die Tugra sehen, das persönliche Siegel des Padischah. Möge Allah ihn leiten und beschützen." Er streckt Kamil erst die eine seiner noch immer zu Schälchen geformten Hände entgegen, dann die andere. "Aber in der zweiten Hälfte stehen außerdem auch noch so merkwürdige Zeichen. Wir dachten also, dass das vielleicht fränkische Schriftzeichen sind."
Kamil runzelt die Stirn. Ihm will einfach keine einleuchtende Erklärung dafür einfallen, warum eine Frau, die offenbar kein Mitglied des Haushalts des Sultans ist, solch ein Schmuckstück um den Hals tragen sollte; ein Schmuckstück, in dem das persönliche Siegel des Herrschers prangt und irgendwelche europäischen Schriftzeichen. Das ergibt doch keinen Sinn, denkt er. Die Tugra ist das Siegel des Sultans, und man findet sie nur auf offiziellen Dokumenten sowie auf einigen wenigen, ganz bestimmten Besitztümern des königlichen Haushalts. Und das Aufprägen des Siegels wiederum geschieht allein in einer speziellen, auf dem Palastgrundstück befindlichen Werkstatt. Es sind die so genannten Tugranüvis, die königlichen Schreiber, denen die Verantwortung dafür obliegt, das komplizierte und zugleich elegante kalligraphische Muster des königlichen Namens zu zeichnen. Und ebenso wie die königlichen Graveure dürfen auch die Tugranüvis den Palast niemals verlassen - aus Angst, man könnte sie verschleppen und dazu nötigen, den Schriftzug des Sultans gefälschten Stücken aufzuprägen. Denn das osmanische Reich ist sehr weitläufig, und solcherlei Fälscherschmieden könnten nur allzu leicht übersehen werden - das Problem ist also nur dadurch zu lösen, indem man die Schreiber des Sultans, man nennt sie auch die "Hände des Sultans", immer in seiner unmittelbaren Nähe behält. Außerdem hat Kamil gehört, dass diese Schreiber stets ein rasch wirkendes Gift bei sich trügen, quasi als eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Die Verfügungsmacht über das königliche Dokumentensiegel obliegt im Übrigen bloß drei Menschen: Dem Sultan selbst, dem Großwesir und der Vorsteherin über die Paläste des Harems, einer vertrauenswürdigen, alten Frau, die bereits im Palast aufgewachsen war. Somit werden sowohl die Dokumente als auch die königlichen Schätze und Geschmeide aus Gold, Silber und anderen wertvollen Materialien allein auf das Geheiß dieser drei Personen hin mit der Tugra versehen.Der Wortführer der Mittelstadt verschränkt nervös die rauen Finger miteinander, öffnet sie und verschränkt sie abermals. Den Kopf tief geneigt, steht er vor dem Friedensrichter, lässt den Blick ängstlich über den Marmorboden huschen und wartet. Kamil entgeht die zunehmende Erregung des Mannes keineswegs, und plötzlich begreift er, dass dieser offenbar fürchtet, der Friedensrichter würde es ihm nun persönlich zur Last legen, dass man ihn geweckt hat.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jennifer White
- 2006, Maße: 11,6 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442364698
- ISBN-13: 9783442364695
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