Das Verlangen nach Liebe
Roman
Von der romantischen Liebe. Was sie zerstört - und wie sie wieder gefunden werden kann. Hanns-Josef Ortheil hat einen neuen großen Liebesroman geschrieben, in dem das Thema der absoluten, romantischen Liebe im Mittelpunkt steht. Und wie im Fall seines...
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Produktinformationen zu „Das Verlangen nach Liebe “
Von der romantischen Liebe. Was sie zerstört - und wie sie wieder gefunden werden kann. Hanns-Josef Ortheil hat einen neuen großen Liebesroman geschrieben, in dem das Thema der absoluten, romantischen Liebe im Mittelpunkt steht. Und wie im Fall seines Vorläufers ist auch aus diesem Roman ein sinnenfroher, lebenskluger Roman geworden, der auf hintergründige Weise die heutigen Möglichkeiten einer bedingungslosen Liebe befragt.
Klappentext zu „Das Verlangen nach Liebe “
Über achtzehn Jahre lang haben sich die Kunsthistorikerin Judith und der Konzertpianist Johannes nicht mehr gesehen, als sie sich eher zufällig in Zürich treffen. Die unerwartete Begegnung versetzt sie zurück in die Zeit ihrer großen Liebe, in der sie noch ein junges und unzertrennliches Paar waren. Von diesem Tag an sehen sie sich beinahe täglich, erzählen sich von ihrem Leben und fragen sich, was früher war und jetzt vielleicht von neuem möglich ist. Ihre Treffen werden zu immer gezielter angelegten, oft festlichen Arrangements, bei denen der Ort, die Umgebung sowie die Getränke und Speisen eine große Rolle spielen. Unmerklich geraten sie dabei immer tiefer hinein in die erneut aufbrechende Magie einer starken Anziehung. Und sehen sich immer dringlicher vor die Frage gestellt, ob ihr Verlangen nach Liebe überhaupt noch eine Chance haben kann.
"Die Frage, die sich beim Lesen seines neuesten Romans stellt, ist also vor allem die: Was mag sich der Autor dabei gedacht haben? Eines ist klar: Er wollte auf gar keinen Fall einen komplizierten, deutschen Roman schreiben, so etwas Grüblerisches und Zweifelnd-Kritisches." -- Süddeutsche Zeitung
'Hanns-Josef Ortheil hat mit diesem Roman eine leidenschaftliche Hymne auf die vollkommene Liebe intoniert, auf die hundertprozentige Einheit von Körper und Geist, auf den Gleichklang von Gefühlen und Gedanken. Ein wunderbar gefühlvoll erzähltes poetisches Traumbild.' -- Hamburger Abendblatt
"Ortheil schafft es schreibend, das Kulturprogramm der Metropole in den Schatten zu stellen." -- Financial Times Deutschland
'Hanns-Josef Ortheil hat mit diesem Roman eine leidenschaftliche Hymne auf die vollkommene Liebe intoniert, auf die hundertprozentige Einheit von Körper und Geist, auf den Gleichklang von Gefühlen und Gedanken. Ein wunderbar gefühlvoll erzähltes poetisches Traumbild.' -- Hamburger Abendblatt
"Ortheil schafft es schreibend, das Kulturprogramm der Metropole in den Schatten zu stellen." -- Financial Times Deutschland
Lese-Probe zu „Das Verlangen nach Liebe “
Nicht du bist vorbereitetund nicht ich,
einander zu begegnen.
Federico Garc a Lorca
1
Ich sah sie am fr hen Nachmittag jenes Tages, an dem ich in Z rich angekommen war. Ich hatte mein Hotel gerade verlassen und war die schmale, schattige Stra e hin ber zum See gegangen, auf dessen Anblick ich mich schon eine Weile gefreut hatte. Inmitten der an seinem Ufer entlang laufenden Kastanienallee war ich stehengeblieben und hatte den Anblick genossen: Die sanften, auf und ab schwingenden, schon leicht ins Dunkle gef rbten H gel des gegen berliegenden Ufers, das zu den Alpenketten der ferne ausholende Graublau der stillen Wasserfl che, den Abdruck der auf ihr herumgeisternden Sonnenstreifen, die sich wie matte, breite Pinselstriche quer ber diesen diffusen Grund legten. Ich hatte ausgeatmet, sp rbar und erleichtert, diese Ankunft war noch sch ner, als ich es erhofft hatte, die Szenerie, das Wetter und ein ruhiger Herbst spielten mit, im Normalfall w re ich sofort zu einem langen Spaziergang am Seeufer entlang aufgebrochen, denn so hatte ich es ja geplant: gehen, weit gehen, langsam eindringen in dieses mir von vielen fr heren Besuchen vertraute Terrain, nach einer oder zwei Stunden irgendwo am Ufer ein Glas Wein, und dann, vielleicht, mit einem Schiff wieder zur ck.
Mein letzter Blick aber streifte die langen, parallel zum Ufer stehenden Holzb nke, auf deren Sonnenpl tzen die jungen Paare sa en, Liebende, dicht aneinandergelehnt oder in den ltesten, zeitlosen Posen einander umschlingend, ich hatte diese Bilder nicht l nger betrachten wollen, als mein Blick bei einer einzelnen Person h ngenblieb, die zwischen all diesen Paaren langgestreckt und anscheinend schlafend auf dem harten Holz lag. Ich erkannte sie sofort, sie war es, sie lag da, als h tten wir uns vor wenigen Stunden nur kurz getrennt, um uns genau hier wieder zu begegnen. Ich sp rte, wie mich dieser Anblick durchfuhr, ich erstarrte und f hlte mein Herz schlagen, es konnte doch nicht sein, da sie sich
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so wenig ver ndert hatte, ich hatte sie seit beinahe achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Ihrem Kopf hatte sie den braunen Lederrucksack untergeschoben, den sie schon fr her immer dabeigehabt hatte, ein Bein hatte sie ber das andere geschlagen und die H nde ber dem Ges gefaltet, regungslos lag sie mit geschlossenen Augen da, die langen, blonden, leicht ins r tliche changierenden Haare rahmten ihr schmales, strenges und oft so konzentriert wirkendes Gesicht. Achtzehn Jahre, rechnete ich noch einmal nach, beinahe achtzehn Jahre hast Du sie nicht mehr gesehen, nie hast Du die geringsten Anstalten gemacht, ihr erneut zu begegnen, und doch hast Du beinahe t glich einmal an sie gedacht, momentweise, wenn Dich irgendeine Kleinigkeit an das fr here, gemeinsame Dasein erinnerte.
Das gemeinsame Dasein ..., ja, so hatte sie es immer genannt, ihre Formulierung war mit der Zeit zu einer stehenden Wendung in den acht Jahren unserer Liebe geworden, ein Dasein ..., gemeinsam, so unpathetisch und schlicht und eben gerade deshalb so wahr. Denn in der Tat, es war ein gemeinsames Dasein gewesen, das wir gef hrt hatten, wir hatten uns, ohne jedoch zusammen zu wohnen, beinahe t glich gesehen und alle Ferienzeiten miteinander verbracht, jeder von uns hatte immer genau gewusst, was der andere gerade tat und wo er sich befand. Seit wir uns durch einen Zufall zu Beginn unserer Studienzeit getroffen hatten, hatten wir uns nicht mehr getrennt, wir waren, wie es in Kinderb chern hei t, "unzertrennlich" gewesen, ein junges, von der Liebe berauschtes Paar, das nie auch im Entferntesten daran dachte, voneinander zu lassen. Da es dann doch, ganz pl tzlich und unvorhersehbar, zur Trennung gekommen war, hatte mich v llig aus der Bahn geworfen, ich hatte den schweren Schock lange Zeit nicht berwinden k nnen, wie es ihr ergangen war, hatte mich nicht mehr interessiert, denn sie hatte diese Trennung verursacht, sie allein, ich werde davon sp ter einmal erz hlen.
An jenem Nachmittag aber, als ich sie wiedersah, dachte ich daran nicht, ich war viel zu sehr mit ihrem Anblick und meiner Erregung besch ftigt, erhitzt stand ich eine Weile still auf dem Fleck und machte dann, beinahe wie in Trance, ein paar Schritte zur ck und seitw rts in die Allee, als m te ich mich ins Dickicht schlagen oder ein Versteck finden, das mir erlaubte, mit diesem Anblick fertig zu werden. Zum Gl ck schlief sie, zum Gl ck hatte sie mich nicht bemerkt, ich hatte also ein wenig Zeit, mich auf diese unerwartete Begegnung einzustellen und zu berlegen, wie ich vorgehen wollte. Und so setzte ich mich auf eine der viel bequemeren und meist leeren B nke, die sich etwas weiter vom Ufer entfernt in der Allee befanden. Ohne ihre Lehne zu ber hren, nahm ich vorn auf der Kante Platz, als wollte ich gleich weiter und als handle es sich nur um einen fl chtigen Halt, der mir erlaubte, meine Taschen zu ordnen oder etwas zu rauchen.
Und wahrhaftig zog ich auch sofort die kleine Schachtel mit den kubanischen Zigarillos, von denen ich immer eine dabeihatte, hervor und legte sie neben mich auf die Bank, um dann in den Manteltaschen nach der flachen, kleinen Digitalkamera und dem winzigen Fernglas zu kramen, die mich ebenfalls bei vielen Spazierg ngen begleiten. Auch sie legte ich neben mir auf der Bank ab, dann steckte ich mir ein Zigarillo an, was w re, dachte ich, wenn der Wind den Rauch zu ihr her bertr ge und der Duft sie weckte?, wahrhaftig rauchte ich noch immer dieselben Zigarillos wie in den fernen Tagen unserer gemeinsamen Jahre, es war dieselbe Gr e und Marke, manchmal hatte auch sie sich eines der kleinen, dunklen Dinger angesteckt, unsere Gemeinsamkeit war so weit gegangen, da wir selbst die sonst unscheinbarsten Dinge miteinander geteilt hatten. Dann griff ich nach dem Fernglas und stellte es ein und betrachtete sie jetzt ganz aus der n he, in allen Details: ja, sie hatte noch immer diese am oberen Bogen leicht ger teten, stark hervortretenden Backenknochen, ja, da war noch immer diese von der vielen Bewegung im freien leicht gebr unte und straffe Haut, und gut zu erkennen waren auch die breiten, auff lligen Lippen, die ich niemals geschminkt gesehen hatte, niemals. Sie trug einen langen, fast bis zum Boden reichenden Mantel mit schwarzen, in dichter Reihe aufeinanderfolgenden Kn pfen, und feste, flache Schuhe, auch sie war anscheinend zu einem l ngeren Spaziergang unterwegs.
Ach, wie oft waren wir fr her gemeinsam gegangen, das stundenlange, ziellose Streifen durch St dte und Landschaften war unsere gro e Passion gewesen, ein nicht enden wollendes, aufmerksames Gehen zu allen Tages- und Jahreszeiten, ein Bestaunen der Welt, ein Einkehren hier und dort und ein ebenfalls nicht enden wollendes Sprechen, erz hlen und Phantasieren. Als ich daran dachte, wurde mir pl tzlich ganz leicht, es war doch so einfach, jetzt aufzustehen und zu ihr hin berzugehen und sie zu ber hren wie fr her und ihr einen Ku zu geben und mit ihr dann weiter und weiter an diesem herbstlichen See entlangzugehen, auf dem jetzt, am fr hen Nachmittag, die Segelboote kreuzten, die gro en Segel so stolz und f r das Herabd mmern des Abends bereit, wenn das Sonnengold sich in ihre wei en Fl chen fl chtete und dort verfing. Aber nein, dachte ich, auf keinen Fall, Du geduldest Dich jetzt, Du wartest, bis sie erwacht, vielleicht liegt sie hier, um auf ihre eigentliche Begleitung zu warten, vielleicht kommt einer daher, mit dem sie ihr Leben jetzt teilt, und dann l t Du sie ziehen, ohne Dich ihr zu zeigen, Du l t sie ziehen, h rst Du!, zu erkennen geben wirst Du Dich nicht, erst mu t Du genauer Bescheid wissen, Du mu t wissen, was sie hierher f hrt und was im einzelnen sie in dieser Stadt vorhat.
Ich legte das Fernglas wieder zur Seite und machte mehrere Fotos, indem ich den Zoom immer wieder ver nderte, dann betrachtete ich die Bilder nacheinander auf dem Display, es sah aus, als habe sie ein Fotograf genau an dieser Stelle postiert, das Sonnenlicht lag wie ein Spot auf ihrer langgestreckten Gestalt und hinterlie einige markante Schatten, so da die Bilder ganz stimmig erschienen. Auch fremde Betrachter, da war ich mir sicher, h tten diese Bilder als stimmig empfunden, denn seit ich Judith kannte, war sie von M nnern wie Frauen mehr oder minder heimlich betrachtet und oft wohl auch bewundert worden, sie war eine Person, die bereits beim ersten Anblick auffiel, nicht durch ihre Kleidung oder andere u erlichkeiten, sondern einzig durch ihre schlichte, ja altert mlich schlicht wirkende sch ne Gestalt, die sie mit nur sehr wenigen Attributen versah und betonte. Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir wie die weibliche Figur eines alten Bildes erschienen, sofort hatte ich damals Bilder und Zeichnungen mit ihr in Verbindung gebracht und war daher gar nicht erstaunt gewesen, als sie mir sp ter erz hlte, da sie Kunstgeschichte studierte, Kunstgeschichte im ersten Semester.
Ich hatte sie in einem Frankfurter Konzertsaal, wo ich zuf llig neben ihr gesessen hatte, kennengelernt, dorthin war ich gegangen, weil ein Star der pianistischen Szene Schumanns Klavierkonzert spielte und ich selbst Pianist werden wollte. Ich studierte im zweiten Semester an der Musikhochschule, f r mich gab es damals nur das Klavier, morgens vier Stunden, am Nachmittag noch einmal zwei, damals hatte ich davon getr umt, einer der ganz Gro en zu werden, einer der Meister, zu dessen Konzerten man sich hunderte von Kilometern weit auf den Weg macht. Zuf llig also war ich mit ihr ins Gespr ch geraten, wir waren beide allein und vertieften uns in das Konzertprogramm, in der Musik hatte sie keine gro en Kenntnisse, daf r aber, wie ich schnell bemerkte, in der Bildenden Kunst sehr fundierte. Ich hatte mir nicht vorstellen k nnen, wie ein Mensch ihres Alters bereits solche Kenntnisse haben konnte, Schulen vermitteln so etwas ja nicht, h chstens wirkliche und tiefer gehende Passionen bringen dergleichen hervor. Diese Passionen f r die Kunst hatte ihr Vater, den ich erst einige Jahre nach Beginn unseres Zusammenseins kennengelernt hatte, sehr fr h geweckt, ihr Vater war Althistoriker und sehr viel lter als sie, er lehrte als Professor an der Universit t Frankfurt und hatte irgendwann seine erheblich j ngere Assistentin geheiratet, die zu den Zeiten, als ich ihr begegnete, als Sachbuch-Lektorin in einem Frankfurter Verlag angestellt war. Bereits in der Kindheit hatte er Judiths Talent gef rdert, sie hatte rasch gut und sicher zeichnen gelernt und ein auffallend starkes Interesse an Bildern gezeigt, ihr Vater und sie verstanden sich gut, wie ich berhaupt in ihrem Elternhaus ein v llig einvernehmliches Leben des einzigen Kindes mit seinen Eltern erlebt hatte. Judith hatte mir diesen Eindruck sp ter best tigt, nein, es hatte die blichen Auseinandersetzungen zwischen ihr und den Eltern wahrhaftig kaum gegeben, nein, sie hatte die g ngigen pubert ren Krisen nicht so stark wie ihre Freundinnen durchlebt, ich war einfach zu sehr besch ftigt, hatte sie damals gesagt, besch ftigt?, womit?, na, mit der Kunst und mit meinem Vater, in seinen Semesterferien haben wir oft weite Reisen zu zweit unternommen, Reisen zu Orten der Kunst, wie ihr Vater es immer genannt hatte, Reisen nach Frankreich, Italien, Griechenland oder Spanien.
Der schmale, hochgewachsene und sich immer sehr gerade haltende, beinahe kahlk pfige Mann hatte auch mir sehr gefallen, er strahlte eine durch nichts zu ersch tternde Ruhe und Sicherheit aus und lebte in der weitr umigen Wohnung im Frankfurter Westend im Grunde doch nur in einem einzigen Zimmer, das wie ein Studentenzimmer aussah, winzig, dunkel, mit Regalen ringsum an den hohen W nden und einer schmalen, im Kopfbereich leicht erh hten Liege, auf der er liegend Vergil, Horaz oder Catull las. Er liebte die r mischen Autoren mehr als die griechischen, er hielt sie f r eleganter und virtuoser. Als er mich einmal darauf ansprach, geriet ich ins Stocken, weil ich bei solchen Vergleichen nicht mithalten konnte, er bemerkte es wohl, spielte es aber nicht gegen mich aus, sondern nahm mich einfach mit in sein Zimmer, wo er mir ein paar Zeilen vorlas, mit hoher, leicht bebender Stimme, wie ein J ngling, der etwas Privates und ganz und gar zu Herzen gehendes preisgibt. Judiths Mutter dagegen hatte ich nicht sehr h ufig gesehen, sie lebte wohl mehr im Verlag als zuhause, wo es vormittags ein junges Dienstm dchen gab, das den Haushalt versorgte und sich um all seine Details k mmerte.
Als ich Judith traf, hatten sich beide Elternteile bereits ihre ganze Kindheit und Jugend lang viel mit ihr besch ftigt, irgendwie merkte man ihr so etwas an, ich h tte aber nicht exakt sagen k nnen, wodurch, vielleicht fiel es mir auch nur auf, weil ich selbst in ganz anderen Verh ltnissen aufgewachsen war. Mein Vater war, als ich drei Jahre alt war, an einem Herzinfarkt gestorben, so da ich keine Erinnerung an ihn hatte, statt dessen gab es nur all die Fotoalben, die meine Mutter angelegt hatte, Alben mit kleinen Schwarz-Wei -Fotografien, penibel datiert und beschriftet, auf denen man den immer leicht verspannt und beranstrengt wirkenden Mann in allen nur erdenklichen Dirigentenposen sehen konnte, bei Proben im Rollkragenpullover, bei Konzerten im engen, ihm nicht besonders gut sitzenden Frack, er hatte einfach immer eine Spur zu leidend ausgesehen, zu vergr belt, an der Musik eher zehrend, im Gegensatz zu so vielen anderen Dirigenten, die von der Musik gem stet, gep ppelt und mit lauter angenehmen Facetten des Lebensgenusses belohnt und von Jahr zu Jahr dicker und f lliger wurden. Zu diesem Genu hatte mein Vater niemals gefunden, schon seine Konzertprogramme hatten mir das bewiesen, Brahms, Bruckner, Mahler - das waren seine Komponisten gewesen, die ganze Sp tromantik loderte auf eine krankhafte Weise in seinem schm chtigen K rper, damit hatte er es zum Generalmusikdirektor in einigen mittelgro en St dten gebracht, ganz hoch hinauf, bis M nchen, Frankfurt oder Berlin, aber hatte es niemals gereicht.
Vater war einfach nicht extrovertiert genug ..., mit solchen Wendungen hatte meine Mutter den fehlenden letzten Karrieresprung entschuldigt, sie hatte Vater verehrt, unbedingt, hingebungsvoll und mit einer ewigen Jungm dchenbegeisterung, sie hatte ihn auf seinen Tourneen begleitet und in der sonstigen Zeit ihre Klaviersch ler unterrichtet, denn sie war eine typische Klavierlehrerin, ganz so, wie man sie sich vorstellt, eine strenge, kompromi lose, wenig nachgebende Person, die sich nach Vaters Tod ganz dem einzigen Kind gewidmet hatte. So war ich allein, betreut und versorgt nur von meiner Mutter, aufgewachsen, Verwandte und Freunde hatten bei uns keine gro e Rolle gespielt, wir lebten bescheiden von Vaters Pension und Erbe, aber es fehlte uns nichts, wir waren zufrieden, und ich kam mit Mutter auf sehr unkomplizierte Weise zurecht, weil sie keinerlei Ehrgeiz kannte, sondern mich unterst tzte und in jenen Jahren, als ich l ngst nicht mehr von ihr unterrichtet wurde, darauf verzichtete, sich einzumischen.
Meine vorherrschende Erinnerung an das Leben mit meiner Mutter ist denn auch die Stille, wie still ist es doch hier!, dachte ich immer wieder, wenn ich nach Reisen in unsere kleine Wohnung zur ckkam, ausgeputzt von der Stille waren diese stets perfekt aufger umten Zimmer, in denen man immerzu auf Menschen zu warten schien, erwartungsvoll k nnte man diese Stille auch nennen, letztlich aber handelte es sich wohl um ein Warten auf die Wiederkehr meines Vaters, dessen Tod meine Mutter ihr Leben lang nicht verwunden hatte. Da sie all die Jahre mehr mit ihm als mit mir besch ftigt war, war ich keineswegs ihr kleiner Prinz gewesen, nein, ich war ihr freundlicher Begleiter im still ertragenen Leid geworden, eine Nebenfigur, die etwas Trost und Freude bescherte, zum Gl ck aber nie im Mittelpunkt stand.
Als ich das Zigarillo ausdr cken wollte, sah ich pl tzlich, da Judith erwachte, sie richtete den Oberk rper auf und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar, dann schaute sie auf die Uhr und streifte gleich darauf den Rucksack ber, jetzt hatte sie es anscheinend eilig, denn sie stand sofort auf und ging los, zur ck zur Quaibr cke und damit zur ck zu den lteren Teilen der Stadt. Sie ging so rasch, als habe sie sich zuviel Zeit gelassen oder als habe sie noch einen dringenden Abendtermin, ihr unerwartet pl tzlicher Aufbruch zwang mich daher zum Handeln, ich dachte nicht lange nach, sondern packte meine paar Sachen in die Seitentaschen des Mantels und lief hinter ihr her. Leicht geb ckt und in mich gekr mmt, lief ich am u ersten Rand der Kastanienallee entlang, w hrend sie einen Weg unten am See nahm, ich kam kaum hinter ihr her, so ein Tempo machte sie pl tzlich, ihr langes Haar wippte auf ihren Schultern, auch hatte sie bereits kurz nach dem Aufstehen den langen Mantel vorne ge ffnet, so da er ihren K rper flatternd umwehte. Dieses leichte Flattern des Mantels, Judiths energisches gezieltes Gehen - das waren erneut Bilder, die mich an die fr heren Jahre erinnerten und daher ber hrten, am liebsten h tte ich sie jetzt gefilmt, wie sie die Quaibr cke ansteuerte und dann ganz selbstverst ndlich einen Weg dicht an der Limmat entlang hinein in die Altstadtzonen der Stadt nahm. Sie hielt sich eine Weile in der N he des Ufers, dann aber bog sie ab, ohne sich einen Moment zu besinnen, noch eine kleine Steigung - und sie verschwand in einem Hotel, in dem ich kurioserweise selbst vor Jahren einmal bernachtet hatte.
Ja, genau, ich erinnerte mich gut, in der N he der Rezeption gab es einen kleinen Teetisch, wo sich die G ste einen Tee ihrer Wahl aufbr hen und mit aufs Zimmer nehmen konnten, durch das gro e, alte Geb ude mit seinen verwinkelten Zimmern und schmalen G ngen wehte daher Tag und Nacht der leicht bet ubende Duft verschiedenster Teesorten, manchmal wurde man sogar mitten in der Nacht nicht von einem Ger usch, sondern von einem Teeduft wach, wenn gerade ein sehr sp ter Gast eingetroffen war und der Versuchung nicht widerstanden hatte, sich noch einen Nachttee zuzubereiten. Unten, im Parterre, aber befand sich ein Restaurant, in dem die G ste am Morgen fr hst cken konnten, ich dachte nicht weiter nach, so schnell wollte ich mich nicht von Judith trennen, deshalb betrat ich den gro en, weiten Raum durch die Restaurantt r und setzte mich dann in den hinteren, eher dunklen Bereich, vorerst bleibst Du auf jeden Fall in solchen Verstecken, dachte ich, im Versteck und doch in Verbindung, denn es gab keinen Zweifel, da Judith sich jetzt nur wenige Meter und h chstens zwei, drei Etagen ber mir aufhielt.
Ich bestellte ein Glas Fendant, ganz sacht begann es zu d mmern, die ersten Lichter strahlten drau en, vor der breiten Glasfront am Eingang, bereits auf, es war eine Tageszeit, die ich liebte, die Zeit einer kurzen Entspannung und eines Loslassens nach den T tigkeiten des Tages, die Zeit des bergangs und der Verwandlung, in der die Phantasien ber den Abend und die bevorstehende Nacht bereits rege werden. Der k hle Wein tat mir gut, zu diesen Stunden geh rte ganz unbedingt das erste Glas Wein, ein Glas, das sehr langsam, Schluck f r Schluck, getrunken werden wollte, im Wellen-Rhythmus der Gedanken und Tr ume, die sich jetzt einstellten, ganz von allein.
Sie w rde die T r ihres Zimmers vorsichtig hinter sich zuziehen, den Rucksack abstreifen und den Mantel aufs Bett werfen, sie w rde hin bergehen zu den Fenstern, um sie zu schlie en und beim Schlie en einen kurzen Blick auf die Gasse hinunterzuwerfen, dann w rde sie das lange Kleid ber den Kopf streifen und ins Bad gehen. Sie w rde ihre Haare hinten mit der linken Hand packen und sie mit einer B rste in der rechten immer wieder durchk mmen, in gleichm igen, kr ftigen Z gen. Sie w rde etwas Hautcreme auftragen und sie rasch verreiben, dann w rde sie zur ck in das Zimmer gehen, sich ein Glas Wasser einschenken und sich neben den Tisch setzen, auf dem die Zeitungen und B cher liegen. Sie w rde einen ersten gro en und einen zweiten kleineren Schluck nehmen, sie w rde versuchen, zur Ruhe zu kommen und sich einzustellen auf den Abend, dann w rde sie sich zur cklehnen und noch einmal die Augen schlie en, nur f r ein paar Minuten.Was phantasierst Du da?, dachte ich, was f llt Dir ein? ..., ich hatte begonnen, mich in unser fr heres Leben zur ckzuphantasieren, so n mlich, wie ich es mir jetzt ausgemalt hatte, war es doch meist gewesen, nur da sich neben Judith noch ein Zweiter im Zimmer aufgehalten hatte, ich, der Geliebte, der jetzt auf dem Bett liegen w rde, m de vom langen Gehen w hrend des Tages, mit geschlossenen Augen ihren Gesten und Bewegungen nachlauschend. Der Aufbruch ins Theater oder zu einem Konzert - das war jetzt die Stunde, und gerade vor solchen Aufbr chen war sie manchmal unbekleidet aus dem Bad zur ckgekommen, sie hatte die Bettdecke mit einem Ruck zur Seite gestreift und sich in die wei en Laken geschmiegt, dann aber war eine Hand zu mir, dem Tr umenden, hin bergewandert und hatte meinen lauernden K rper ber hrt und gelockt ...
Das gemeinsame Dasein ..., ja, so hatte sie es immer genannt, ihre Formulierung war mit der Zeit zu einer stehenden Wendung in den acht Jahren unserer Liebe geworden, ein Dasein ..., gemeinsam, so unpathetisch und schlicht und eben gerade deshalb so wahr. Denn in der Tat, es war ein gemeinsames Dasein gewesen, das wir gef hrt hatten, wir hatten uns, ohne jedoch zusammen zu wohnen, beinahe t glich gesehen und alle Ferienzeiten miteinander verbracht, jeder von uns hatte immer genau gewusst, was der andere gerade tat und wo er sich befand. Seit wir uns durch einen Zufall zu Beginn unserer Studienzeit getroffen hatten, hatten wir uns nicht mehr getrennt, wir waren, wie es in Kinderb chern hei t, "unzertrennlich" gewesen, ein junges, von der Liebe berauschtes Paar, das nie auch im Entferntesten daran dachte, voneinander zu lassen. Da es dann doch, ganz pl tzlich und unvorhersehbar, zur Trennung gekommen war, hatte mich v llig aus der Bahn geworfen, ich hatte den schweren Schock lange Zeit nicht berwinden k nnen, wie es ihr ergangen war, hatte mich nicht mehr interessiert, denn sie hatte diese Trennung verursacht, sie allein, ich werde davon sp ter einmal erz hlen.
An jenem Nachmittag aber, als ich sie wiedersah, dachte ich daran nicht, ich war viel zu sehr mit ihrem Anblick und meiner Erregung besch ftigt, erhitzt stand ich eine Weile still auf dem Fleck und machte dann, beinahe wie in Trance, ein paar Schritte zur ck und seitw rts in die Allee, als m te ich mich ins Dickicht schlagen oder ein Versteck finden, das mir erlaubte, mit diesem Anblick fertig zu werden. Zum Gl ck schlief sie, zum Gl ck hatte sie mich nicht bemerkt, ich hatte also ein wenig Zeit, mich auf diese unerwartete Begegnung einzustellen und zu berlegen, wie ich vorgehen wollte. Und so setzte ich mich auf eine der viel bequemeren und meist leeren B nke, die sich etwas weiter vom Ufer entfernt in der Allee befanden. Ohne ihre Lehne zu ber hren, nahm ich vorn auf der Kante Platz, als wollte ich gleich weiter und als handle es sich nur um einen fl chtigen Halt, der mir erlaubte, meine Taschen zu ordnen oder etwas zu rauchen.
Und wahrhaftig zog ich auch sofort die kleine Schachtel mit den kubanischen Zigarillos, von denen ich immer eine dabeihatte, hervor und legte sie neben mich auf die Bank, um dann in den Manteltaschen nach der flachen, kleinen Digitalkamera und dem winzigen Fernglas zu kramen, die mich ebenfalls bei vielen Spazierg ngen begleiten. Auch sie legte ich neben mir auf der Bank ab, dann steckte ich mir ein Zigarillo an, was w re, dachte ich, wenn der Wind den Rauch zu ihr her bertr ge und der Duft sie weckte?, wahrhaftig rauchte ich noch immer dieselben Zigarillos wie in den fernen Tagen unserer gemeinsamen Jahre, es war dieselbe Gr e und Marke, manchmal hatte auch sie sich eines der kleinen, dunklen Dinger angesteckt, unsere Gemeinsamkeit war so weit gegangen, da wir selbst die sonst unscheinbarsten Dinge miteinander geteilt hatten. Dann griff ich nach dem Fernglas und stellte es ein und betrachtete sie jetzt ganz aus der n he, in allen Details: ja, sie hatte noch immer diese am oberen Bogen leicht ger teten, stark hervortretenden Backenknochen, ja, da war noch immer diese von der vielen Bewegung im freien leicht gebr unte und straffe Haut, und gut zu erkennen waren auch die breiten, auff lligen Lippen, die ich niemals geschminkt gesehen hatte, niemals. Sie trug einen langen, fast bis zum Boden reichenden Mantel mit schwarzen, in dichter Reihe aufeinanderfolgenden Kn pfen, und feste, flache Schuhe, auch sie war anscheinend zu einem l ngeren Spaziergang unterwegs.
Ach, wie oft waren wir fr her gemeinsam gegangen, das stundenlange, ziellose Streifen durch St dte und Landschaften war unsere gro e Passion gewesen, ein nicht enden wollendes, aufmerksames Gehen zu allen Tages- und Jahreszeiten, ein Bestaunen der Welt, ein Einkehren hier und dort und ein ebenfalls nicht enden wollendes Sprechen, erz hlen und Phantasieren. Als ich daran dachte, wurde mir pl tzlich ganz leicht, es war doch so einfach, jetzt aufzustehen und zu ihr hin berzugehen und sie zu ber hren wie fr her und ihr einen Ku zu geben und mit ihr dann weiter und weiter an diesem herbstlichen See entlangzugehen, auf dem jetzt, am fr hen Nachmittag, die Segelboote kreuzten, die gro en Segel so stolz und f r das Herabd mmern des Abends bereit, wenn das Sonnengold sich in ihre wei en Fl chen fl chtete und dort verfing. Aber nein, dachte ich, auf keinen Fall, Du geduldest Dich jetzt, Du wartest, bis sie erwacht, vielleicht liegt sie hier, um auf ihre eigentliche Begleitung zu warten, vielleicht kommt einer daher, mit dem sie ihr Leben jetzt teilt, und dann l t Du sie ziehen, ohne Dich ihr zu zeigen, Du l t sie ziehen, h rst Du!, zu erkennen geben wirst Du Dich nicht, erst mu t Du genauer Bescheid wissen, Du mu t wissen, was sie hierher f hrt und was im einzelnen sie in dieser Stadt vorhat.
Ich legte das Fernglas wieder zur Seite und machte mehrere Fotos, indem ich den Zoom immer wieder ver nderte, dann betrachtete ich die Bilder nacheinander auf dem Display, es sah aus, als habe sie ein Fotograf genau an dieser Stelle postiert, das Sonnenlicht lag wie ein Spot auf ihrer langgestreckten Gestalt und hinterlie einige markante Schatten, so da die Bilder ganz stimmig erschienen. Auch fremde Betrachter, da war ich mir sicher, h tten diese Bilder als stimmig empfunden, denn seit ich Judith kannte, war sie von M nnern wie Frauen mehr oder minder heimlich betrachtet und oft wohl auch bewundert worden, sie war eine Person, die bereits beim ersten Anblick auffiel, nicht durch ihre Kleidung oder andere u erlichkeiten, sondern einzig durch ihre schlichte, ja altert mlich schlicht wirkende sch ne Gestalt, die sie mit nur sehr wenigen Attributen versah und betonte. Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir wie die weibliche Figur eines alten Bildes erschienen, sofort hatte ich damals Bilder und Zeichnungen mit ihr in Verbindung gebracht und war daher gar nicht erstaunt gewesen, als sie mir sp ter erz hlte, da sie Kunstgeschichte studierte, Kunstgeschichte im ersten Semester.
Ich hatte sie in einem Frankfurter Konzertsaal, wo ich zuf llig neben ihr gesessen hatte, kennengelernt, dorthin war ich gegangen, weil ein Star der pianistischen Szene Schumanns Klavierkonzert spielte und ich selbst Pianist werden wollte. Ich studierte im zweiten Semester an der Musikhochschule, f r mich gab es damals nur das Klavier, morgens vier Stunden, am Nachmittag noch einmal zwei, damals hatte ich davon getr umt, einer der ganz Gro en zu werden, einer der Meister, zu dessen Konzerten man sich hunderte von Kilometern weit auf den Weg macht. Zuf llig also war ich mit ihr ins Gespr ch geraten, wir waren beide allein und vertieften uns in das Konzertprogramm, in der Musik hatte sie keine gro en Kenntnisse, daf r aber, wie ich schnell bemerkte, in der Bildenden Kunst sehr fundierte. Ich hatte mir nicht vorstellen k nnen, wie ein Mensch ihres Alters bereits solche Kenntnisse haben konnte, Schulen vermitteln so etwas ja nicht, h chstens wirkliche und tiefer gehende Passionen bringen dergleichen hervor. Diese Passionen f r die Kunst hatte ihr Vater, den ich erst einige Jahre nach Beginn unseres Zusammenseins kennengelernt hatte, sehr fr h geweckt, ihr Vater war Althistoriker und sehr viel lter als sie, er lehrte als Professor an der Universit t Frankfurt und hatte irgendwann seine erheblich j ngere Assistentin geheiratet, die zu den Zeiten, als ich ihr begegnete, als Sachbuch-Lektorin in einem Frankfurter Verlag angestellt war. Bereits in der Kindheit hatte er Judiths Talent gef rdert, sie hatte rasch gut und sicher zeichnen gelernt und ein auffallend starkes Interesse an Bildern gezeigt, ihr Vater und sie verstanden sich gut, wie ich berhaupt in ihrem Elternhaus ein v llig einvernehmliches Leben des einzigen Kindes mit seinen Eltern erlebt hatte. Judith hatte mir diesen Eindruck sp ter best tigt, nein, es hatte die blichen Auseinandersetzungen zwischen ihr und den Eltern wahrhaftig kaum gegeben, nein, sie hatte die g ngigen pubert ren Krisen nicht so stark wie ihre Freundinnen durchlebt, ich war einfach zu sehr besch ftigt, hatte sie damals gesagt, besch ftigt?, womit?, na, mit der Kunst und mit meinem Vater, in seinen Semesterferien haben wir oft weite Reisen zu zweit unternommen, Reisen zu Orten der Kunst, wie ihr Vater es immer genannt hatte, Reisen nach Frankreich, Italien, Griechenland oder Spanien.
Der schmale, hochgewachsene und sich immer sehr gerade haltende, beinahe kahlk pfige Mann hatte auch mir sehr gefallen, er strahlte eine durch nichts zu ersch tternde Ruhe und Sicherheit aus und lebte in der weitr umigen Wohnung im Frankfurter Westend im Grunde doch nur in einem einzigen Zimmer, das wie ein Studentenzimmer aussah, winzig, dunkel, mit Regalen ringsum an den hohen W nden und einer schmalen, im Kopfbereich leicht erh hten Liege, auf der er liegend Vergil, Horaz oder Catull las. Er liebte die r mischen Autoren mehr als die griechischen, er hielt sie f r eleganter und virtuoser. Als er mich einmal darauf ansprach, geriet ich ins Stocken, weil ich bei solchen Vergleichen nicht mithalten konnte, er bemerkte es wohl, spielte es aber nicht gegen mich aus, sondern nahm mich einfach mit in sein Zimmer, wo er mir ein paar Zeilen vorlas, mit hoher, leicht bebender Stimme, wie ein J ngling, der etwas Privates und ganz und gar zu Herzen gehendes preisgibt. Judiths Mutter dagegen hatte ich nicht sehr h ufig gesehen, sie lebte wohl mehr im Verlag als zuhause, wo es vormittags ein junges Dienstm dchen gab, das den Haushalt versorgte und sich um all seine Details k mmerte.
Als ich Judith traf, hatten sich beide Elternteile bereits ihre ganze Kindheit und Jugend lang viel mit ihr besch ftigt, irgendwie merkte man ihr so etwas an, ich h tte aber nicht exakt sagen k nnen, wodurch, vielleicht fiel es mir auch nur auf, weil ich selbst in ganz anderen Verh ltnissen aufgewachsen war. Mein Vater war, als ich drei Jahre alt war, an einem Herzinfarkt gestorben, so da ich keine Erinnerung an ihn hatte, statt dessen gab es nur all die Fotoalben, die meine Mutter angelegt hatte, Alben mit kleinen Schwarz-Wei -Fotografien, penibel datiert und beschriftet, auf denen man den immer leicht verspannt und beranstrengt wirkenden Mann in allen nur erdenklichen Dirigentenposen sehen konnte, bei Proben im Rollkragenpullover, bei Konzerten im engen, ihm nicht besonders gut sitzenden Frack, er hatte einfach immer eine Spur zu leidend ausgesehen, zu vergr belt, an der Musik eher zehrend, im Gegensatz zu so vielen anderen Dirigenten, die von der Musik gem stet, gep ppelt und mit lauter angenehmen Facetten des Lebensgenusses belohnt und von Jahr zu Jahr dicker und f lliger wurden. Zu diesem Genu hatte mein Vater niemals gefunden, schon seine Konzertprogramme hatten mir das bewiesen, Brahms, Bruckner, Mahler - das waren seine Komponisten gewesen, die ganze Sp tromantik loderte auf eine krankhafte Weise in seinem schm chtigen K rper, damit hatte er es zum Generalmusikdirektor in einigen mittelgro en St dten gebracht, ganz hoch hinauf, bis M nchen, Frankfurt oder Berlin, aber hatte es niemals gereicht.
Vater war einfach nicht extrovertiert genug ..., mit solchen Wendungen hatte meine Mutter den fehlenden letzten Karrieresprung entschuldigt, sie hatte Vater verehrt, unbedingt, hingebungsvoll und mit einer ewigen Jungm dchenbegeisterung, sie hatte ihn auf seinen Tourneen begleitet und in der sonstigen Zeit ihre Klaviersch ler unterrichtet, denn sie war eine typische Klavierlehrerin, ganz so, wie man sie sich vorstellt, eine strenge, kompromi lose, wenig nachgebende Person, die sich nach Vaters Tod ganz dem einzigen Kind gewidmet hatte. So war ich allein, betreut und versorgt nur von meiner Mutter, aufgewachsen, Verwandte und Freunde hatten bei uns keine gro e Rolle gespielt, wir lebten bescheiden von Vaters Pension und Erbe, aber es fehlte uns nichts, wir waren zufrieden, und ich kam mit Mutter auf sehr unkomplizierte Weise zurecht, weil sie keinerlei Ehrgeiz kannte, sondern mich unterst tzte und in jenen Jahren, als ich l ngst nicht mehr von ihr unterrichtet wurde, darauf verzichtete, sich einzumischen.
Meine vorherrschende Erinnerung an das Leben mit meiner Mutter ist denn auch die Stille, wie still ist es doch hier!, dachte ich immer wieder, wenn ich nach Reisen in unsere kleine Wohnung zur ckkam, ausgeputzt von der Stille waren diese stets perfekt aufger umten Zimmer, in denen man immerzu auf Menschen zu warten schien, erwartungsvoll k nnte man diese Stille auch nennen, letztlich aber handelte es sich wohl um ein Warten auf die Wiederkehr meines Vaters, dessen Tod meine Mutter ihr Leben lang nicht verwunden hatte. Da sie all die Jahre mehr mit ihm als mit mir besch ftigt war, war ich keineswegs ihr kleiner Prinz gewesen, nein, ich war ihr freundlicher Begleiter im still ertragenen Leid geworden, eine Nebenfigur, die etwas Trost und Freude bescherte, zum Gl ck aber nie im Mittelpunkt stand.
Als ich das Zigarillo ausdr cken wollte, sah ich pl tzlich, da Judith erwachte, sie richtete den Oberk rper auf und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar, dann schaute sie auf die Uhr und streifte gleich darauf den Rucksack ber, jetzt hatte sie es anscheinend eilig, denn sie stand sofort auf und ging los, zur ck zur Quaibr cke und damit zur ck zu den lteren Teilen der Stadt. Sie ging so rasch, als habe sie sich zuviel Zeit gelassen oder als habe sie noch einen dringenden Abendtermin, ihr unerwartet pl tzlicher Aufbruch zwang mich daher zum Handeln, ich dachte nicht lange nach, sondern packte meine paar Sachen in die Seitentaschen des Mantels und lief hinter ihr her. Leicht geb ckt und in mich gekr mmt, lief ich am u ersten Rand der Kastanienallee entlang, w hrend sie einen Weg unten am See nahm, ich kam kaum hinter ihr her, so ein Tempo machte sie pl tzlich, ihr langes Haar wippte auf ihren Schultern, auch hatte sie bereits kurz nach dem Aufstehen den langen Mantel vorne ge ffnet, so da er ihren K rper flatternd umwehte. Dieses leichte Flattern des Mantels, Judiths energisches gezieltes Gehen - das waren erneut Bilder, die mich an die fr heren Jahre erinnerten und daher ber hrten, am liebsten h tte ich sie jetzt gefilmt, wie sie die Quaibr cke ansteuerte und dann ganz selbstverst ndlich einen Weg dicht an der Limmat entlang hinein in die Altstadtzonen der Stadt nahm. Sie hielt sich eine Weile in der N he des Ufers, dann aber bog sie ab, ohne sich einen Moment zu besinnen, noch eine kleine Steigung - und sie verschwand in einem Hotel, in dem ich kurioserweise selbst vor Jahren einmal bernachtet hatte.
Ja, genau, ich erinnerte mich gut, in der N he der Rezeption gab es einen kleinen Teetisch, wo sich die G ste einen Tee ihrer Wahl aufbr hen und mit aufs Zimmer nehmen konnten, durch das gro e, alte Geb ude mit seinen verwinkelten Zimmern und schmalen G ngen wehte daher Tag und Nacht der leicht bet ubende Duft verschiedenster Teesorten, manchmal wurde man sogar mitten in der Nacht nicht von einem Ger usch, sondern von einem Teeduft wach, wenn gerade ein sehr sp ter Gast eingetroffen war und der Versuchung nicht widerstanden hatte, sich noch einen Nachttee zuzubereiten. Unten, im Parterre, aber befand sich ein Restaurant, in dem die G ste am Morgen fr hst cken konnten, ich dachte nicht weiter nach, so schnell wollte ich mich nicht von Judith trennen, deshalb betrat ich den gro en, weiten Raum durch die Restaurantt r und setzte mich dann in den hinteren, eher dunklen Bereich, vorerst bleibst Du auf jeden Fall in solchen Verstecken, dachte ich, im Versteck und doch in Verbindung, denn es gab keinen Zweifel, da Judith sich jetzt nur wenige Meter und h chstens zwei, drei Etagen ber mir aufhielt.
Ich bestellte ein Glas Fendant, ganz sacht begann es zu d mmern, die ersten Lichter strahlten drau en, vor der breiten Glasfront am Eingang, bereits auf, es war eine Tageszeit, die ich liebte, die Zeit einer kurzen Entspannung und eines Loslassens nach den T tigkeiten des Tages, die Zeit des bergangs und der Verwandlung, in der die Phantasien ber den Abend und die bevorstehende Nacht bereits rege werden. Der k hle Wein tat mir gut, zu diesen Stunden geh rte ganz unbedingt das erste Glas Wein, ein Glas, das sehr langsam, Schluck f r Schluck, getrunken werden wollte, im Wellen-Rhythmus der Gedanken und Tr ume, die sich jetzt einstellten, ganz von allein.
Sie w rde die T r ihres Zimmers vorsichtig hinter sich zuziehen, den Rucksack abstreifen und den Mantel aufs Bett werfen, sie w rde hin bergehen zu den Fenstern, um sie zu schlie en und beim Schlie en einen kurzen Blick auf die Gasse hinunterzuwerfen, dann w rde sie das lange Kleid ber den Kopf streifen und ins Bad gehen. Sie w rde ihre Haare hinten mit der linken Hand packen und sie mit einer B rste in der rechten immer wieder durchk mmen, in gleichm igen, kr ftigen Z gen. Sie w rde etwas Hautcreme auftragen und sie rasch verreiben, dann w rde sie zur ck in das Zimmer gehen, sich ein Glas Wasser einschenken und sich neben den Tisch setzen, auf dem die Zeitungen und B cher liegen. Sie w rde einen ersten gro en und einen zweiten kleineren Schluck nehmen, sie w rde versuchen, zur Ruhe zu kommen und sich einzustellen auf den Abend, dann w rde sie sich zur cklehnen und noch einmal die Augen schlie en, nur f r ein paar Minuten.Was phantasierst Du da?, dachte ich, was f llt Dir ein? ..., ich hatte begonnen, mich in unser fr heres Leben zur ckzuphantasieren, so n mlich, wie ich es mir jetzt ausgemalt hatte, war es doch meist gewesen, nur da sich neben Judith noch ein Zweiter im Zimmer aufgehalten hatte, ich, der Geliebte, der jetzt auf dem Bett liegen w rde, m de vom langen Gehen w hrend des Tages, mit geschlossenen Augen ihren Gesten und Bewegungen nachlauschend. Der Aufbruch ins Theater oder zu einem Konzert - das war jetzt die Stunde, und gerade vor solchen Aufbr chen war sie manchmal unbekleidet aus dem Bad zur ckgekommen, sie hatte die Bettdecke mit einem Ruck zur Seite gestreift und sich in die wei en Laken geschmiegt, dann aber war eine Hand zu mir, dem Tr umenden, hin bergewandert und hatte meinen lauernden K rper ber hrt und gelockt ...
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Autoren-Porträt von Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, so mit dem "Brandenburger Literaturpreis", dem "Thomas-Mann-Preis", dem "Georg-K.-Glaser Preis", dem "Koblenzer Literaturpreis", dem "Nicolas Born-Preis", dem "Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis" und 2016 mit dem "Hannelore-Greve-Literaturpreis". Die Romane von Hanns-Josef Ortheil wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanns-Josef Ortheil
- 2007, 1, 318 Seiten, Maße: 13,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630872638
- ISBN-13: 9783630872636
- Erscheinungsdatum: 01.08.2007
Rezension zu „Das Verlangen nach Liebe “
"Ortheil schafft es schreibend, das Kulturprogramm der Metropole in den Schatten zu stellen." Financial Times Deutschland
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