Das verlassene Boot am Strand
Immer wieder hat Zia die Geschichte, von ihrer Tante Karana gehört, die auf der Insel allein zurückgeblieben war. Nach dem Tod ihrer Mutter fühlt sie sich für Karana verantwortlich. Sie will sie von der Insel auf das Festland holen. Als Zia nach einem Sturm...
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Produktinformationen zu „Das verlassene Boot am Strand “
Klappentext zu „Das verlassene Boot am Strand “
Immer wieder hat Zia die Geschichte, von ihrer Tante Karana gehört, die auf der Insel allein zurückgeblieben war. Nach dem Tod ihrer Mutter fühlt sie sich für Karana verantwortlich. Sie will sie von der Insel auf das Festland holen. Als Zia nach einem Sturm ein verlassenes Boot am Strand findet, versteckt sie es mit ihrem Bruder in der Lagune. Heimlich bereiten sie das Boot für die Fahrt zu der Insel der blauen Delphine vor und in einer Neumondnacht stechen sie in See. Buch des Monats. Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, Volkach. Fortsetzungsband zu dem Buch 'Insel der blauen Delphine', ebenfalls bei dtv junior erschienen.
Lese-Probe zu „Das verlassene Boot am Strand “
Das verlassene Boot am Strand von Scott O'DellAus dem Amerikanischen von Inge M. Artl
1
Nach starken Stürmen, die von den Inseln herüberwehen, ist unsere Küste mit kleinen Muscheln bedeckt. Sie sind nicht größer als Fingerspitzen, aber es ist eine so dicke Schicht auf dem Strand, dass man kaum gehen kann. Meilenweit sieht man nichts anderes als diese winzigen blauen Muscheln. Deshalb nennen wir unseren Strand den blauen Strand.
Für gewöhnlich kommen die großen Stürme im Winter, aber der letzte kam im Juni und hinterher lagen die Muscheln knöchelhoch. Mein Bruder und ich schaufelten sie in Körbe und brachten sie zur Missionsstation. Dort wuschen wir sie und kochten sie mit ein wenig Süßwasser. Diese kleinen blauen Muscheln gaben eine sehr gute Suppe und eine Schale Suppe mit einer Handvoll Tortillas ergab eine Mahlzeit.
Der Junisturm hatte die ganze Nacht getobt und am nächsten Morgen gingen wir sehr früh an den Strand. Der Sturm hatte so vieles angeschwemmt.
Wir haben beim Suchen von Strandgut eine feste Regel. Sie hieß: El que ve primero, le pertenece. Wer es zuerst sieht, dem gehört es. Wenn Mando zum Beispiel irgendetwas als Erster bemerkte und es haben wollte, dann behielt er es, und wenn ich etwas als Erste entdeckte, das mir gefiel, dann war es mein Eigentum. Aber wenn Mando ein Fässchen voll Sirup fand und ich eine Angelleine mit einem Haken daran, dann tauschten wir. Wenn wir beide gleichzeitig etwas sahen und »Das gehört mir!« riefen, dann losten wir. Wer das längere Stöckchen zog, hatte gewonnen. Wir hatten genau festgelegte Regeln, aber manchmal zankten wir uns trotzdem wegen Dingen, die wir beide gern gehabt hätten. Dann sprachen wir den ganzen Tag nicht miteinander.
... mehr
Als wir an diesem Morgen durch die Muscheln wateten, fanden wir viel ... eine Schlaguhr, ein Stück Segel und einen Hobel ... da sah ich plötzlich etwas Graues am Rand der Brandung treiben.
»Mein!«, rief ich und rannte darauf zu.
»Mein! Mein!«, rief Mando und rannte ebenfalls.
Es war ein Ruderboot, ein Beiboot, das ein großes Schiff verloren haben musste. Es war ans Ufer getrieben worden.
Wir erreichten das Boot gleichzeitig. Mando rief noch immer: »Mein! Mein!« Er war so aufgeregt, dass er nur dastand und das Boot anstarrte und schrie.
Ich trat ruhig näher und legte die Hand auf den Bug.
»Ich habe es zuerst gesehen, also gehört es mir. Das sind die Spielregeln, Mando.«
Er hatte Tränen in den Augen.
»Aber ich ernenne dich zum Kapitän. Ich bin der Besitzer und du bist der Kapitän, der das Boot steuert«, sagte ich.
Das schien ihn zu trösten. Er rieb sich die Augen und versuchte zu lächeln.
Auf dem Bug des Bootes stand ein Name. Ich konnte nur das erste Wort lesen, Boston. Dann kam noch ein B und dann eine leere Stelle, an der die Farbe abgeblättert war, und dann ein Y. Zwei Worte.
Das Boot war an beiden Enden gleich hoch und sechs Schritt lang und etwa zwei Schritt breit. Es hatte drei Sitzbänke und ursprünglich vier Ruder, aber nur ein Ruder und eine Harpune lagen im Boot. Es war ein sehr robustes, schwarz gestrichenes Boot.
»Was können wir damit anfangen?«, fragte ich Mando, der sich noch immer bemühte, über seine Enttäuschung hinwegzukommen. »Was meinst du, Kapitän?«
Mando ging um das Boot herum, hob das Ruder auf und legte es wieder hinein. »Wir können es nicht mit zur Mission nehmen. Es würde gleich in der ersten Nacht gestohlen.«
»Und wenn wir unseren Namen daraufschreiben und es kieloben an den Strand legen?«, fragte ich.
»Sie würden es sogar aus der Kapelle stehlen«, sagte Mando.
Er rieb sich die Nase, was ihm beim Nachdenken immer half. Ich wartete, denn mir fiel nichts ein.
»Weißt du was? Wir verstecken es«, sagte er endlich und ging wieder um das Boot herum.
»Wo?«
»In der San-Felipe-Lagune.«
»Und wie kriegen wir das Boot dahin?«
»Wir waten durch das seichte Wasser am Strand entlang und schieben es vor uns her.« Mando packte das Heck. »Und zwar sofort. Sofort. In einer Stunde sind all die anderen hier, um Muscheln zu suchen.«
Wir bekamen das Boot mit der ersten großen Welle flott; mein Bruder schob am Heck und ich steuerte am Bug und so kamen wir Schritt um Schritt zum Eingang der San-Felipe-Lagune. Die Ebbe setzte ein, aber das Wasser stand noch hoch genug, um das Boot ans Ufer zu schieben.
Hierher kam nie jemand, denn am anderen Ende der Lagune gab es eine Höhle, in der es spukte. Bei Einbruch der Dämmerung flogen Fledermausschwärme aus der Höhle und vor Tagesanbruch kehrten sie wieder zurück. Die Leute sagten, in der Höhle hause eine große Schlange. Es gab viele unheimliche Geschichten darüber. Alle hatten Angst vor der Lagune und der Höhle. Auch Mando, aber er ließ es sich nicht anmerken.
Trotzdem deckten wir das Boot mit Gestrüpp und Seetang zu, um ganz sicherzugehen, dass es niemand entdeckte. Dann holten wir unsere anderen Funde und taten, als ob sich nichts Besonderes ereignet hätte. Wir kehrten zur Mission zurück, die hoch über der Küste auf einem Hügel lag.
2
Nach dem Gottesdienst ging ich zu Pater Vinzenz, um zu beichten, dass ich am Strand ein Boot gefunden hatte.
Pater Vinzenz war jung und hatte ein hageres Gesicht und dunkle Augen. Er war freundlich. Ich glaube, er mochte mich, und ich mochte ihn.
Ich setzte mich auf das kleine Bänkchen und näherte meine Lippen dem Gitter, das uns trennte. Ich konnte Pater Vinzenz nicht sehen, aber ich wusste, dass er da war und mir zuhörte. Manche Patres taten nur so, als ob sie zuhörten, man merkte, dass sie an etwas anderes dachten.
»Ich habe heute Morgen ein Boot am Strand gefunden. Der Sturm hat es angeschwemmt«, begann ich.
»Was für ein Boot?«, fragte Pater Vinzenz von weit her, als ob seine Stimme aus einer anderen Welt käme.
»Es sieht aus wie die Ruderboote, die die Walfänger benutzen. Es ist für vier Ruder eingerichtet, aber es war nur noch ein Ruder da. Und eine Harpune mit einem langen Strick daran.«
»Wo ist es jetzt?«
»Mein Bruder und ich haben es in der San- Felipe-Lagune versteckt.«
»Steht ein Name auf dem Boot?«, fragte Pater Vinzenz.
»Es steht ein Wort darauf.« Ich buchstabierte es ihm. »Und dann kommt noch ein Wort, das auch mit B anfängt, und dann fehlt ein Buchstabe und dann kommt ein Y.«
»Das zweite Wort ist Boy. Boston Boy, das ist ein Walfangschiff aus Boston. Sie jagen oft vor der Santa-Rosa-Insel«, erklärte Pater Vinzenz. »Die Mannschaft besucht uns manchmal. Ich habe sie allerdings schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sonst sind sie meist jedes Jahr gekommen. «
Ich wartete und hielt den Atem an. Dann sagte ich: »Ich habe das Boot am Strand gefunden. Gehört es dem Schiff oder gehört es jetzt mir? Das ist es, was ich wissen möchte.«
»Sie werden es kaum hier suchen«, antwortete Pater Vinzenz.
»Aber wenn sie kommen und fragen, ob jemand ihr Boot gesehen hat, was dann?«
»Ich werde sagen, dass ich es nicht gesehen habe, und das entspricht der Wahrheit, verdad«, sagte Pater Vinzenz.
»Es ist die Wahrheit«, antwortete ich. »Aber wenn sie fragen, ob Sie von dem Boot gehört haben? «
»Dann sage ich: Ja, señores, ich habe gehört, dass der Sturm ein Ruderboot an die Küste geschwemmt hat, aber ich habe es selbst nicht gesehen. «
»Das ist auch die Wahrheit, aber gehört das Boot wirklich noch dem Schiff? Auch wenn der Sturm es losgerissen und an die Küste getrieben hat? Das möchte ich gerne wissen.«
»Nach den Gesetzen der Seefahrt gehört alles, was ein Sturm an einer Küste anschwemmt, demjenigen, der es findet. Das Boot gehört dir.«
»Und vielleicht kommen sie gar nicht. Sie haben noch viele andere Boote.«
»Ja, und dieses Boot gehört dir, Zia. So besagt es das Gesetz.«
»Und ich habe das Boot ja nicht gestohlen.« Ich war noch immer nicht ganz beruhigt, trotz Pater Vinzenz' Erklärungen. »Es ist ein Geschenk des Meeres.«
Pater Vinzenz schwieg. Dann fragte er: »Was hast du mit diesem Boot vor?«
»Mando ist der Kapitän und wir wollen hinausfahren und fischen und nach Abalonen tauchen «, sagte ich.
»Aber nur gemeinsam, Zia. Mando darf nicht alleine hinaus. Ist das klar? Gut. Er ist noch jung und manchmal leichtsinnig. Wenn ich ein Boot hätte, so würde ich es ihm alleine niemals überlassen. Auf keinen Fall außerhalb der Lagune.«
»Ich auch nicht.«
Ich sagte Pater Vinzenz Auf Wiedersehen und ging hinaus in den Garten. Mando wartete auf mich.
»Warst du beichten?«, fragte ich ihn.
»Ja, bei Pater Merced.«
»Hast du mit ihm über das Boot gesprochen?«
»Nein. Er interessiert sich nicht für Boote. Gott auch nicht«, sagte Mando. »Wir haben ja auch noch kein richtiges Boot. Es hat nur ein Ruder. Mit einem Ruder kommst du nirgends hin, du kannst bloß im Kreis herumfahren. Wenn wir ein richtiges Boot haben werden, dann werde ich vielleicht jemandem davon erzählen. Aber bestimmt nicht Pater Merced.«
Er machte sich auf den Weg Richtung Strand. Ich rief ihn zurück. »Mando, hör zu, du darfst mit dem Boot nicht aus der Lagune, wenn ich nicht dabei bin. Hast du mich verstanden?«
Mando nickte. »Ich suche einen dicken, geraden Ast, aus dem ich ein Ruder machen kann.«
»Du musst mir versprechen, dass du nicht allein mit dem Boot hinausfährst«, sagte ich. »Sieh mir in die Augen und versprich es.«
Mando kostete es einige Überwindung, mich anzusehen. Er berührte seine Lippen mit dem Daumen und machte die Gesten, mit denen man die Götter Mukat und Zando um Hilfe bittet.
»Ich verspreche es«, sagte er. Dann lief er davon, um nach einem dicken Ast zu suchen.
Ich weiß nicht, wo er ihn schließlich fand, aber es war ein schöner gerader Ast und Mando verbrachte täglich vor und nach der Arbeit auf dem Feld Stunden in der Werkstatt und schnitzte ein Ruder. Er benutzte das vorhandene Ruder als Vorlage, aber es wurde schwerer. Am nächsten Sonntag, gleich nach dem Gottesdienst, nahmen wir das Ruder und gingen zur Lagune hinunter. Es war ein strahlender Tag. Die Ebbe setzte ein und die Sonne funkelte.
»Nimm du das leichtere Ruder«, sagte Mando.
Ich kletterte ins Boot und setzte mich neben ihn. Wir ruderten durch die Lagune. An ihrem Ende, ehe sie sich zum Meer hin öffnet, liegt ein schmaler Küstenstreifen und dort gingen wir an Land. Mando hatte einen Ziegelstein mitgenommen und damit kratzte er den Namen vom Bug des Bootes. Dann holte er ein armlanges Holzbrett hervor.
»Ich hab es in der Werkstatt gemacht. Was sagst du jetzt? Gut, nicht? Ich hab einfach den Namen geändert. Pater Zurriga hat mir geholfen. Schau!«
Er hielt das Brett hoch. In weißen Buchstaben war Island Girl darauf gemalt.
Mando freute sich über seinen Einfall. »Boston Boy - Island Girl. Das ist doch viel schöner, nicht?«
»Meinst du Karana?«
»Nein, ich habe es nach dir benannt«, sagte Mando. »Nach dir, meiner Schwester. Weil du ständig davon redest, zur Insel zu fahren.«
Mando nagelte das Schild an den Bug und wir brachen wieder auf. Eine lange Landzunge, geschwungen wie ein Säbel, trennt die Lagune vom offenen Meer und bricht die Kraft der Wellen. Wir konnten ohne Mühe bis zu ihrer Spitze und dann hinaus aufs offene Meer rudern.
Wir steuerten nicht weit hinaus; wir ruderten am Ufer entlang, dicht vor der Dünung. Als die Sonne heiß wurde, kehrten wir in die Lagune zurück.
3
Während der nächsten Woche suchten wir den Strand nach Dingen ab, die wir für unser Boot gebrauchen konnten; wir fanden ein Stück Tau, ein Kissen, eine Decke, eine Schachtel Angelhaken in einem leeren Weinfass, ein schweres Stück Eisen und zwei Flaschen, die genau die richtige Größe hatten, um sie mit Trinkwasser zu füllen.
Am nächsten Sonntag blieben wir in der Lagune. Wir drehten das Boot mit dem Kiel nach oben und strichen den Boden mit Teer an, den wir in einem Topf erhitzten. Auch der Teer war in langen Streifen auf den Strand geschwemmt worden. Ich weiß nicht, woher er kam. Mando meinte, Mukat habe ihn uns geschickt, aber das bezweifle ich. Das Boot hatte vorher ein bisschen geleckt, aber als es mit Teer gestrichen war, drang kein Wassertropfen mehr durch.
Am Sonntag darauf holten wir den schweren Eisenklumpen aus dem Versteck und befestigten ein Stück Kette und ein Tau daran, die ich ebenfalls am Strand gefunden hatte. Nun besaßen wir ein Boot, das nicht leckte, mit zwei Rudern und einem Anker, der so schwer war, dass wir ihn nur zu zweit heben konnten.
»Nun sollten wir irgendwohin«, sagte Mando. »Vielleicht rund um die Welt wie Kolumbus. «
»Kolumbus ist nicht rund um die Welt gereist, Mando.«
»Dann sind wir die Ersten.«
»Magellan war der Erste«, sagte ich. Ich war stolz auf meine Kenntnisse aus der Missionsschule.
»Vielleicht sollten wir uns ein näheres Ziel wählen«, sagte Mando. »Vielleicht die Insel.«
»Welche Insel?«, fragte ich, dabei wusste ich genau, welche er meinte. Ich hatte sofort an die Insel gedacht, als ich das Boot entdeckt hatte. Und seitdem ließ mich der Gedanke nicht los.
»Zur Insel der blauen Delfine«, antwortete Mando. »Wir holen Karana heim.« Er machte eine Pause und sein Gesicht hellte sich auf. »Wir könnten ein Segel setzen und den Wind nutzen, wenn er weht, und rudern, wenn es windstill ist. Mit Segeln und Rudern wären wir in zwei oder drei Tagen auf der Insel.«
»Vielleicht ist Karana nicht mehr dort«, sagte ich.
»Vielleicht ist sie tot«, sagte Mando. »Vielleicht haben die wilden Hunde sie getötet.«
»Möglich, aber Kapitän Nidever hat ihre Fußspuren im Sand gesehen, als er letztes Jahr dort war.«
»Warum ist er eigentlich ihren Spuren nicht gefolgt?«
»Weil Sturm aufkam und er Angst um sein Boot hatte.«
»Ich werde Mukat und Zando fragen. Dann wissen wir Bescheid. Und vielleicht auch Pater Merced. Nein, den nicht. Pater Vinzenz? Vielleicht kommt er mit. Es wäre leichter, wenn wir zu dritt wären. Dann könnte ich fischen, während wir segeln. Es wäre leichter, auch wenn ich nicht fische. Aber ich habe Angst, was Pater Merced zu unserem Plan sagen wird. Und Pater Vinzenz. Vielleicht erlauben sie uns nicht, zur Insel zu segeln.«
Ich wurde ärgerlich. »Wir segeln trotzdem, ganz egal, was sie dazu sagen. Wir sind hier nicht festgekettet. Wir haben ein Boot und Ruder und einen Anker. Das alles gehört uns. Sollen wir damit nur in der San-Felipe-Lagune herumfahren? «
Ich war schon längst zu der Reise entschlossen. Wir mussten an den beiden Inseln Santa Cruz und Santa Rosa vorbei zu der fernen Insel rudern, zu der niemand fuhr, nicht einmal die Chumash-Indianer mit ihren roten Kanus. Niemand! Nur das Schiff, das unseren Stamm gerettet hatte, hatte angelegt und Kapitän Nidever jagte manchmal Otter vor der Insel. Aber wir beide, mein Bruder und ich, würden hinfahren. Wir besaßen ja ein seetüchtiges Boot mit zwei Rudern.
Ja, wir wollten zur Insel, und zwar bald. Es war der eigentliche Grund, warum ich in die Missionsstation Santa Barbara gekommen war. Ich hatte es schon beschlossen, als Mando und ich noch weit im Süden bei den Cupeño-Indianern im Dorf Pala lebten.
Eines Tages waren zwei Patres in unser Dorf gekommen. Sie kamen zu Fuß und trugen Sandalen und lange Gewänder und sie sprachen lange mit unserem Häuptling, einen ganzen Tag lang bis tief in die Nacht hinein. In unserem Dorf lebten über hundert Menschen und die meisten hörten ihnen zu.
»Eure Leute werden bei uns gut behandelt. Sie bekommen reichlich zu essen. Die Arbeit ist nicht schwer und sie werden gut untergebracht werden, besser, als ihr es hier habt«, sagte der eine Pater. Er machte eine Pause und warf einen Blick auf unsere Laubhütten. »Wir werden euch Spanisch lehren und von unserem Gott erzählen, der euch segnen und für euch sorgen wird.«
»Wir haben genug zu essen«, antwortete unser Häuptling. »Diese Hütten, die ihr mit Geringschätzung betrachtet, gefallen auch uns nicht. In dem Land, aus dem wir stammen, hatten wir bessere Hütten. Aber die Spanier und die weißen Männer haben uns von unseren Wiesen und unseren Quellen verjagt. Unsere Götter sind anders als eure, aber sie segnen uns, indem sie uns Sonne und Regen schicken und uns viele Plätze weisen, an denen wir leben können.«
So war es.
Jedes Jahr im Frühsommer zogen wir ans Meer und schlugen unsere Laubhütten auf dem schönen, feinen Sandstrand auf. Wir lebten von Fischen, von Abalonen, die wir zwischen den Felsen fanden, und von Muscheln, die wir aus dem Schlick gruben. Den größten Teil des Fanges trockneten wir auf Decken in der Sonne als Vorrat für den Winter. An einer Lagune in der Nähe unseres Sommerlagers fingen wir mit Netzen Wasservögel und wir brieten sie in einem Feuerloch im Sand, das wir mit trockenem Seetang zudeckten.
Wir lebten bis zum Spätsommer am Strand. Dann packten wir unsere getrockneten Fische und Abalonen zusammen und kehrten zurück in die Hügel vor dem großen Gebirge. Dort sammelten die Mädchen und Frauen in den Wäldern Eicheln.
Die Eicheln wurden zuerst eingeweicht, dann auf einem großen Felsvorsprung ausgebreitet und in der Sonne getrocknet. In dem Felsboden gab es Hunderte von Vertiefungen, die Schalen glichen und die von vielen Generationen von Frauen im Lauf ihres Lebens ausgehöhlt worden waren. In diesen Schalen zerdrückten wir die Eicheln mit einem Stein zu Mehl. Wir füllten viele Säcke mit diesem Mehl.
Wir nährten uns den Winter über von Eichelmehl, von getrocknetem Fisch und Abalonen und von dem Wild, das unsere Jäger erlegten. Später im Frühling wurde die Nahrung oft knapp. Dann gruben wir nach Wurzeln und lebten davon bis zum Sommer, wenn wir wieder ans Meer zogen.
Wir standen um unseren Häuptling und hörten aufmerksam zu. Er sagte: »Diese Männer haben ein Heim an einem Ort, den sie Santa Barbara nennen. Dort ist es im Sommer kühl und im Winter warm. Sie haben Felder, auf denen sie Melonen anbauen, und das Meer ist nicht weit. Sie wollen, dass wir zu ihnen kommen und bei ihnen leben.«
»Und wenn es uns dort nicht gefällt?«, fragte der Sohn des Häuptlings. »Was machen wir, wenn es nicht so ist, wie sie behaupten? Wenn die Sonne nicht scheint? Wenn das Meer weit weg ist oder es keine Fische gibt?«
»Dann kehren wir wieder heim«, antwortete der Häuptling. »Wenn es uns nicht gefällt, kehren wir hierher zurück.«
Um uns zu überreden, mit ihnen zu ziehen, sagte der eine Pater noch: »Die Kirche und die Indianer müssen sich zusammentun. Wir müssen uns in den Missionen sammeln. Wie ihr wisst, gibt es sehr viele Missionen zwischen San Diego im Süden und San Francisco im Norden. Sie liegen alle nur einen Tagesritt voneinander entfernt und können im Notfall als Befestigungsanlagen dienen.«
Der zweite Pater fuhr fort: »Zuerst hat die mexikanische Regierung unseren Missionen Tausende von Hektar Land weggenommen. Dann kam der Krieg zwischen Mexiko und den Gringos. Die Gringos haben gewonnen und uns noch mehr Land weggenommen. Und euch haben sie alles genommen.«
Copyright © Ungekürzte Ausgabe 28. Auflage 2011 1981 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Als wir an diesem Morgen durch die Muscheln wateten, fanden wir viel ... eine Schlaguhr, ein Stück Segel und einen Hobel ... da sah ich plötzlich etwas Graues am Rand der Brandung treiben.
»Mein!«, rief ich und rannte darauf zu.
»Mein! Mein!«, rief Mando und rannte ebenfalls.
Es war ein Ruderboot, ein Beiboot, das ein großes Schiff verloren haben musste. Es war ans Ufer getrieben worden.
Wir erreichten das Boot gleichzeitig. Mando rief noch immer: »Mein! Mein!« Er war so aufgeregt, dass er nur dastand und das Boot anstarrte und schrie.
Ich trat ruhig näher und legte die Hand auf den Bug.
»Ich habe es zuerst gesehen, also gehört es mir. Das sind die Spielregeln, Mando.«
Er hatte Tränen in den Augen.
»Aber ich ernenne dich zum Kapitän. Ich bin der Besitzer und du bist der Kapitän, der das Boot steuert«, sagte ich.
Das schien ihn zu trösten. Er rieb sich die Augen und versuchte zu lächeln.
Auf dem Bug des Bootes stand ein Name. Ich konnte nur das erste Wort lesen, Boston. Dann kam noch ein B und dann eine leere Stelle, an der die Farbe abgeblättert war, und dann ein Y. Zwei Worte.
Das Boot war an beiden Enden gleich hoch und sechs Schritt lang und etwa zwei Schritt breit. Es hatte drei Sitzbänke und ursprünglich vier Ruder, aber nur ein Ruder und eine Harpune lagen im Boot. Es war ein sehr robustes, schwarz gestrichenes Boot.
»Was können wir damit anfangen?«, fragte ich Mando, der sich noch immer bemühte, über seine Enttäuschung hinwegzukommen. »Was meinst du, Kapitän?«
Mando ging um das Boot herum, hob das Ruder auf und legte es wieder hinein. »Wir können es nicht mit zur Mission nehmen. Es würde gleich in der ersten Nacht gestohlen.«
»Und wenn wir unseren Namen daraufschreiben und es kieloben an den Strand legen?«, fragte ich.
»Sie würden es sogar aus der Kapelle stehlen«, sagte Mando.
Er rieb sich die Nase, was ihm beim Nachdenken immer half. Ich wartete, denn mir fiel nichts ein.
»Weißt du was? Wir verstecken es«, sagte er endlich und ging wieder um das Boot herum.
»Wo?«
»In der San-Felipe-Lagune.«
»Und wie kriegen wir das Boot dahin?«
»Wir waten durch das seichte Wasser am Strand entlang und schieben es vor uns her.« Mando packte das Heck. »Und zwar sofort. Sofort. In einer Stunde sind all die anderen hier, um Muscheln zu suchen.«
Wir bekamen das Boot mit der ersten großen Welle flott; mein Bruder schob am Heck und ich steuerte am Bug und so kamen wir Schritt um Schritt zum Eingang der San-Felipe-Lagune. Die Ebbe setzte ein, aber das Wasser stand noch hoch genug, um das Boot ans Ufer zu schieben.
Hierher kam nie jemand, denn am anderen Ende der Lagune gab es eine Höhle, in der es spukte. Bei Einbruch der Dämmerung flogen Fledermausschwärme aus der Höhle und vor Tagesanbruch kehrten sie wieder zurück. Die Leute sagten, in der Höhle hause eine große Schlange. Es gab viele unheimliche Geschichten darüber. Alle hatten Angst vor der Lagune und der Höhle. Auch Mando, aber er ließ es sich nicht anmerken.
Trotzdem deckten wir das Boot mit Gestrüpp und Seetang zu, um ganz sicherzugehen, dass es niemand entdeckte. Dann holten wir unsere anderen Funde und taten, als ob sich nichts Besonderes ereignet hätte. Wir kehrten zur Mission zurück, die hoch über der Küste auf einem Hügel lag.
2
Nach dem Gottesdienst ging ich zu Pater Vinzenz, um zu beichten, dass ich am Strand ein Boot gefunden hatte.
Pater Vinzenz war jung und hatte ein hageres Gesicht und dunkle Augen. Er war freundlich. Ich glaube, er mochte mich, und ich mochte ihn.
Ich setzte mich auf das kleine Bänkchen und näherte meine Lippen dem Gitter, das uns trennte. Ich konnte Pater Vinzenz nicht sehen, aber ich wusste, dass er da war und mir zuhörte. Manche Patres taten nur so, als ob sie zuhörten, man merkte, dass sie an etwas anderes dachten.
»Ich habe heute Morgen ein Boot am Strand gefunden. Der Sturm hat es angeschwemmt«, begann ich.
»Was für ein Boot?«, fragte Pater Vinzenz von weit her, als ob seine Stimme aus einer anderen Welt käme.
»Es sieht aus wie die Ruderboote, die die Walfänger benutzen. Es ist für vier Ruder eingerichtet, aber es war nur noch ein Ruder da. Und eine Harpune mit einem langen Strick daran.«
»Wo ist es jetzt?«
»Mein Bruder und ich haben es in der San- Felipe-Lagune versteckt.«
»Steht ein Name auf dem Boot?«, fragte Pater Vinzenz.
»Es steht ein Wort darauf.« Ich buchstabierte es ihm. »Und dann kommt noch ein Wort, das auch mit B anfängt, und dann fehlt ein Buchstabe und dann kommt ein Y.«
»Das zweite Wort ist Boy. Boston Boy, das ist ein Walfangschiff aus Boston. Sie jagen oft vor der Santa-Rosa-Insel«, erklärte Pater Vinzenz. »Die Mannschaft besucht uns manchmal. Ich habe sie allerdings schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sonst sind sie meist jedes Jahr gekommen. «
Ich wartete und hielt den Atem an. Dann sagte ich: »Ich habe das Boot am Strand gefunden. Gehört es dem Schiff oder gehört es jetzt mir? Das ist es, was ich wissen möchte.«
»Sie werden es kaum hier suchen«, antwortete Pater Vinzenz.
»Aber wenn sie kommen und fragen, ob jemand ihr Boot gesehen hat, was dann?«
»Ich werde sagen, dass ich es nicht gesehen habe, und das entspricht der Wahrheit, verdad«, sagte Pater Vinzenz.
»Es ist die Wahrheit«, antwortete ich. »Aber wenn sie fragen, ob Sie von dem Boot gehört haben? «
»Dann sage ich: Ja, señores, ich habe gehört, dass der Sturm ein Ruderboot an die Küste geschwemmt hat, aber ich habe es selbst nicht gesehen. «
»Das ist auch die Wahrheit, aber gehört das Boot wirklich noch dem Schiff? Auch wenn der Sturm es losgerissen und an die Küste getrieben hat? Das möchte ich gerne wissen.«
»Nach den Gesetzen der Seefahrt gehört alles, was ein Sturm an einer Küste anschwemmt, demjenigen, der es findet. Das Boot gehört dir.«
»Und vielleicht kommen sie gar nicht. Sie haben noch viele andere Boote.«
»Ja, und dieses Boot gehört dir, Zia. So besagt es das Gesetz.«
»Und ich habe das Boot ja nicht gestohlen.« Ich war noch immer nicht ganz beruhigt, trotz Pater Vinzenz' Erklärungen. »Es ist ein Geschenk des Meeres.«
Pater Vinzenz schwieg. Dann fragte er: »Was hast du mit diesem Boot vor?«
»Mando ist der Kapitän und wir wollen hinausfahren und fischen und nach Abalonen tauchen «, sagte ich.
»Aber nur gemeinsam, Zia. Mando darf nicht alleine hinaus. Ist das klar? Gut. Er ist noch jung und manchmal leichtsinnig. Wenn ich ein Boot hätte, so würde ich es ihm alleine niemals überlassen. Auf keinen Fall außerhalb der Lagune.«
»Ich auch nicht.«
Ich sagte Pater Vinzenz Auf Wiedersehen und ging hinaus in den Garten. Mando wartete auf mich.
»Warst du beichten?«, fragte ich ihn.
»Ja, bei Pater Merced.«
»Hast du mit ihm über das Boot gesprochen?«
»Nein. Er interessiert sich nicht für Boote. Gott auch nicht«, sagte Mando. »Wir haben ja auch noch kein richtiges Boot. Es hat nur ein Ruder. Mit einem Ruder kommst du nirgends hin, du kannst bloß im Kreis herumfahren. Wenn wir ein richtiges Boot haben werden, dann werde ich vielleicht jemandem davon erzählen. Aber bestimmt nicht Pater Merced.«
Er machte sich auf den Weg Richtung Strand. Ich rief ihn zurück. »Mando, hör zu, du darfst mit dem Boot nicht aus der Lagune, wenn ich nicht dabei bin. Hast du mich verstanden?«
Mando nickte. »Ich suche einen dicken, geraden Ast, aus dem ich ein Ruder machen kann.«
»Du musst mir versprechen, dass du nicht allein mit dem Boot hinausfährst«, sagte ich. »Sieh mir in die Augen und versprich es.«
Mando kostete es einige Überwindung, mich anzusehen. Er berührte seine Lippen mit dem Daumen und machte die Gesten, mit denen man die Götter Mukat und Zando um Hilfe bittet.
»Ich verspreche es«, sagte er. Dann lief er davon, um nach einem dicken Ast zu suchen.
Ich weiß nicht, wo er ihn schließlich fand, aber es war ein schöner gerader Ast und Mando verbrachte täglich vor und nach der Arbeit auf dem Feld Stunden in der Werkstatt und schnitzte ein Ruder. Er benutzte das vorhandene Ruder als Vorlage, aber es wurde schwerer. Am nächsten Sonntag, gleich nach dem Gottesdienst, nahmen wir das Ruder und gingen zur Lagune hinunter. Es war ein strahlender Tag. Die Ebbe setzte ein und die Sonne funkelte.
»Nimm du das leichtere Ruder«, sagte Mando.
Ich kletterte ins Boot und setzte mich neben ihn. Wir ruderten durch die Lagune. An ihrem Ende, ehe sie sich zum Meer hin öffnet, liegt ein schmaler Küstenstreifen und dort gingen wir an Land. Mando hatte einen Ziegelstein mitgenommen und damit kratzte er den Namen vom Bug des Bootes. Dann holte er ein armlanges Holzbrett hervor.
»Ich hab es in der Werkstatt gemacht. Was sagst du jetzt? Gut, nicht? Ich hab einfach den Namen geändert. Pater Zurriga hat mir geholfen. Schau!«
Er hielt das Brett hoch. In weißen Buchstaben war Island Girl darauf gemalt.
Mando freute sich über seinen Einfall. »Boston Boy - Island Girl. Das ist doch viel schöner, nicht?«
»Meinst du Karana?«
»Nein, ich habe es nach dir benannt«, sagte Mando. »Nach dir, meiner Schwester. Weil du ständig davon redest, zur Insel zu fahren.«
Mando nagelte das Schild an den Bug und wir brachen wieder auf. Eine lange Landzunge, geschwungen wie ein Säbel, trennt die Lagune vom offenen Meer und bricht die Kraft der Wellen. Wir konnten ohne Mühe bis zu ihrer Spitze und dann hinaus aufs offene Meer rudern.
Wir steuerten nicht weit hinaus; wir ruderten am Ufer entlang, dicht vor der Dünung. Als die Sonne heiß wurde, kehrten wir in die Lagune zurück.
3
Während der nächsten Woche suchten wir den Strand nach Dingen ab, die wir für unser Boot gebrauchen konnten; wir fanden ein Stück Tau, ein Kissen, eine Decke, eine Schachtel Angelhaken in einem leeren Weinfass, ein schweres Stück Eisen und zwei Flaschen, die genau die richtige Größe hatten, um sie mit Trinkwasser zu füllen.
Am nächsten Sonntag blieben wir in der Lagune. Wir drehten das Boot mit dem Kiel nach oben und strichen den Boden mit Teer an, den wir in einem Topf erhitzten. Auch der Teer war in langen Streifen auf den Strand geschwemmt worden. Ich weiß nicht, woher er kam. Mando meinte, Mukat habe ihn uns geschickt, aber das bezweifle ich. Das Boot hatte vorher ein bisschen geleckt, aber als es mit Teer gestrichen war, drang kein Wassertropfen mehr durch.
Am Sonntag darauf holten wir den schweren Eisenklumpen aus dem Versteck und befestigten ein Stück Kette und ein Tau daran, die ich ebenfalls am Strand gefunden hatte. Nun besaßen wir ein Boot, das nicht leckte, mit zwei Rudern und einem Anker, der so schwer war, dass wir ihn nur zu zweit heben konnten.
»Nun sollten wir irgendwohin«, sagte Mando. »Vielleicht rund um die Welt wie Kolumbus. «
»Kolumbus ist nicht rund um die Welt gereist, Mando.«
»Dann sind wir die Ersten.«
»Magellan war der Erste«, sagte ich. Ich war stolz auf meine Kenntnisse aus der Missionsschule.
»Vielleicht sollten wir uns ein näheres Ziel wählen«, sagte Mando. »Vielleicht die Insel.«
»Welche Insel?«, fragte ich, dabei wusste ich genau, welche er meinte. Ich hatte sofort an die Insel gedacht, als ich das Boot entdeckt hatte. Und seitdem ließ mich der Gedanke nicht los.
»Zur Insel der blauen Delfine«, antwortete Mando. »Wir holen Karana heim.« Er machte eine Pause und sein Gesicht hellte sich auf. »Wir könnten ein Segel setzen und den Wind nutzen, wenn er weht, und rudern, wenn es windstill ist. Mit Segeln und Rudern wären wir in zwei oder drei Tagen auf der Insel.«
»Vielleicht ist Karana nicht mehr dort«, sagte ich.
»Vielleicht ist sie tot«, sagte Mando. »Vielleicht haben die wilden Hunde sie getötet.«
»Möglich, aber Kapitän Nidever hat ihre Fußspuren im Sand gesehen, als er letztes Jahr dort war.«
»Warum ist er eigentlich ihren Spuren nicht gefolgt?«
»Weil Sturm aufkam und er Angst um sein Boot hatte.«
»Ich werde Mukat und Zando fragen. Dann wissen wir Bescheid. Und vielleicht auch Pater Merced. Nein, den nicht. Pater Vinzenz? Vielleicht kommt er mit. Es wäre leichter, wenn wir zu dritt wären. Dann könnte ich fischen, während wir segeln. Es wäre leichter, auch wenn ich nicht fische. Aber ich habe Angst, was Pater Merced zu unserem Plan sagen wird. Und Pater Vinzenz. Vielleicht erlauben sie uns nicht, zur Insel zu segeln.«
Ich wurde ärgerlich. »Wir segeln trotzdem, ganz egal, was sie dazu sagen. Wir sind hier nicht festgekettet. Wir haben ein Boot und Ruder und einen Anker. Das alles gehört uns. Sollen wir damit nur in der San-Felipe-Lagune herumfahren? «
Ich war schon längst zu der Reise entschlossen. Wir mussten an den beiden Inseln Santa Cruz und Santa Rosa vorbei zu der fernen Insel rudern, zu der niemand fuhr, nicht einmal die Chumash-Indianer mit ihren roten Kanus. Niemand! Nur das Schiff, das unseren Stamm gerettet hatte, hatte angelegt und Kapitän Nidever jagte manchmal Otter vor der Insel. Aber wir beide, mein Bruder und ich, würden hinfahren. Wir besaßen ja ein seetüchtiges Boot mit zwei Rudern.
Ja, wir wollten zur Insel, und zwar bald. Es war der eigentliche Grund, warum ich in die Missionsstation Santa Barbara gekommen war. Ich hatte es schon beschlossen, als Mando und ich noch weit im Süden bei den Cupeño-Indianern im Dorf Pala lebten.
Eines Tages waren zwei Patres in unser Dorf gekommen. Sie kamen zu Fuß und trugen Sandalen und lange Gewänder und sie sprachen lange mit unserem Häuptling, einen ganzen Tag lang bis tief in die Nacht hinein. In unserem Dorf lebten über hundert Menschen und die meisten hörten ihnen zu.
»Eure Leute werden bei uns gut behandelt. Sie bekommen reichlich zu essen. Die Arbeit ist nicht schwer und sie werden gut untergebracht werden, besser, als ihr es hier habt«, sagte der eine Pater. Er machte eine Pause und warf einen Blick auf unsere Laubhütten. »Wir werden euch Spanisch lehren und von unserem Gott erzählen, der euch segnen und für euch sorgen wird.«
»Wir haben genug zu essen«, antwortete unser Häuptling. »Diese Hütten, die ihr mit Geringschätzung betrachtet, gefallen auch uns nicht. In dem Land, aus dem wir stammen, hatten wir bessere Hütten. Aber die Spanier und die weißen Männer haben uns von unseren Wiesen und unseren Quellen verjagt. Unsere Götter sind anders als eure, aber sie segnen uns, indem sie uns Sonne und Regen schicken und uns viele Plätze weisen, an denen wir leben können.«
So war es.
Jedes Jahr im Frühsommer zogen wir ans Meer und schlugen unsere Laubhütten auf dem schönen, feinen Sandstrand auf. Wir lebten von Fischen, von Abalonen, die wir zwischen den Felsen fanden, und von Muscheln, die wir aus dem Schlick gruben. Den größten Teil des Fanges trockneten wir auf Decken in der Sonne als Vorrat für den Winter. An einer Lagune in der Nähe unseres Sommerlagers fingen wir mit Netzen Wasservögel und wir brieten sie in einem Feuerloch im Sand, das wir mit trockenem Seetang zudeckten.
Wir lebten bis zum Spätsommer am Strand. Dann packten wir unsere getrockneten Fische und Abalonen zusammen und kehrten zurück in die Hügel vor dem großen Gebirge. Dort sammelten die Mädchen und Frauen in den Wäldern Eicheln.
Die Eicheln wurden zuerst eingeweicht, dann auf einem großen Felsvorsprung ausgebreitet und in der Sonne getrocknet. In dem Felsboden gab es Hunderte von Vertiefungen, die Schalen glichen und die von vielen Generationen von Frauen im Lauf ihres Lebens ausgehöhlt worden waren. In diesen Schalen zerdrückten wir die Eicheln mit einem Stein zu Mehl. Wir füllten viele Säcke mit diesem Mehl.
Wir nährten uns den Winter über von Eichelmehl, von getrocknetem Fisch und Abalonen und von dem Wild, das unsere Jäger erlegten. Später im Frühling wurde die Nahrung oft knapp. Dann gruben wir nach Wurzeln und lebten davon bis zum Sommer, wenn wir wieder ans Meer zogen.
Wir standen um unseren Häuptling und hörten aufmerksam zu. Er sagte: »Diese Männer haben ein Heim an einem Ort, den sie Santa Barbara nennen. Dort ist es im Sommer kühl und im Winter warm. Sie haben Felder, auf denen sie Melonen anbauen, und das Meer ist nicht weit. Sie wollen, dass wir zu ihnen kommen und bei ihnen leben.«
»Und wenn es uns dort nicht gefällt?«, fragte der Sohn des Häuptlings. »Was machen wir, wenn es nicht so ist, wie sie behaupten? Wenn die Sonne nicht scheint? Wenn das Meer weit weg ist oder es keine Fische gibt?«
»Dann kehren wir wieder heim«, antwortete der Häuptling. »Wenn es uns nicht gefällt, kehren wir hierher zurück.«
Um uns zu überreden, mit ihnen zu ziehen, sagte der eine Pater noch: »Die Kirche und die Indianer müssen sich zusammentun. Wir müssen uns in den Missionen sammeln. Wie ihr wisst, gibt es sehr viele Missionen zwischen San Diego im Süden und San Francisco im Norden. Sie liegen alle nur einen Tagesritt voneinander entfernt und können im Notfall als Befestigungsanlagen dienen.«
Der zweite Pater fuhr fort: »Zuerst hat die mexikanische Regierung unseren Missionen Tausende von Hektar Land weggenommen. Dann kam der Krieg zwischen Mexiko und den Gringos. Die Gringos haben gewonnen und uns noch mehr Land weggenommen. Und euch haben sie alles genommen.«
Copyright © Ungekürzte Ausgabe 28. Auflage 2011 1981 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Scott O'Dell
Scott O'Dell wurde 1898 in Los Angeles geboren und starb 1989. Geprägt durch die damals noch urwüchsige Landschaft Kaliforniens bilden Heimat, Kindheits- und Jugenderlebnisse nach seinen eigenen Angaben den Hintergrund seiner Jugendbücher. Er studierte an den Universitäten Occidental, Stanford und Wisconsin Psychologie, Geschichte und Englisch und arbeitete zunächst als Kameramann, dann als Journalist und als Herausgeber einer Zeitung. Im Mittelpunkt seiner Erzählungen stehen häufig historische Gestalten, die als Identifikationsfiguren angelegt sind. Neben seinen eigenen Erfahrungen bilden sehr umfangreiche Quellenstudien das Gerüst seiner Bücher. Sein erstes Buch 'The Island of the Blue Dolphins' (1960), dt. 'Insel der blauen Delphine' (dtv junior 7257), wurde ein Welterfolg, der auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Es ist die Geschichte eines Indianermädchens, das, historisch nachgewiesen, von 1835 bis 1853 auf einer einsamen Insel im Pazifik lebte. Dieser Band wurde allein in elf Sprachen übersetzt. Scott O'Dells schriftstellerisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit der Newbery Medal und dem Hans-Christian-Andersen-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Scott O'Dell
- Altersempfehlung: Ab 13 Jahre
- 2002, 176 Seiten, Maße: 12,2 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Inge M. Artl
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423074361
- ISBN-13: 9783423074360
- Erscheinungsdatum: 01.02.2001
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